Hedwig merkte, dass sie sich verlaufen hatte.

Sie war in einen Wald geraten, der kein Ende zu nehmen schien, und musste sich eingestehen, dass sie keine Ahnung hatte, wo sie war oder wie sie zur Hofmühle zurückkommen sollte. Es war das zweite Mal, dass sie auf ihren ausgedehnten Spaziergängen, die sie an den Nachmittagen bei schönem Wetter gerne machte, die Orientierung verlor. Sie fröstelte leicht, obwohl ein warmer Tag im Mai, war es kühl inmitten der hohen, dicht stehenden Nadelbäume, sie ging schneller, um sich zu aufzuwärmen. Nach einer Weile gesellten sich Laubbäume zu den Nadelbäumen, sie entdeckte Stauden und Sträucher und kroch durch sie hindurch. Vor ihr lag eine langgezogene Wiese, auf der Kühe und Kälber weideten, Hedwig freute sich über die Wärme und hielt ihr Gesicht in die Sonne. Ein Schäferhund kam bellend auf sie zugelaufen und umkreiste sie schwanzwedelnd, jemand erhob sich in einigen Metern Entfernung aus dem Gras und rief: »Polli!«

Es war ein Mann, Hedwig konnte nicht erkennen, ob er jung oder alt war, da er gegen die Sonne stand und sie nur seine Silhouette sehen konnte. Der Hund lief zu ihm zurück, er streichelte ihn, sie hob die Hand, um ihn zu grüßen, zögernd hob auch er die Hand, ließ sie aber sofort wieder sinken. Sie ging auf ihn zu und sah schließlich, dass er jung sein musste, höchstens drei Jahre älter als sie. Er sah verwahrlost aus, sein dunkelblondes Haar war lang und verklebt, seine Kleidung glich eher Lumpen, zu seinen Füßen lag ein schmutziger Rucksack, aus dem eine leere Glasflasche ragte. Sie grüßte ihn und fragte, wo sich ungefähr die Hofmühle befand, er ließ vom Hund ab und deutete in eine Richtung, ohne ihr dabei ins Gesicht zu sehen. Er hatte ein schmales Gesicht, honigfarbene Augen, sie hätte sich gerne mit ihm unterhalten.

»Bist du von hier?«, fragte sie.

Er nickte. Der Hund lief zu einer Kuh, die sich zu weit entfernt hatte, und trieb sie bellend zurück, ohne Hund an seiner Seite wusste der junge Mann nicht, wohin mit seinen Händen, seine nackten Arme waren braun und muskulös.

»Von wo genau?«, fragte sie weiter, wenn er ihr einen Hofnamen nannte, konnte sie Josephine danach fragen, doch er antwortete wieder nicht, sondern deutete nur in eine Richtung.

»Sie heißt also Polli?«, fragte sie, mit Blick auf den Hund, der zu ihnen zurückkam.

Er räusperte sich. »Sie heißt Napoleon. Aber ich habe es abgekürzt.«

Hedwig lachte auf.

»Hast du ihr den Namen gegeben?«

Er schüttelte den Kopf, trat dabei einen Schritt zurück und schaute zu den Kühen hinüber.

»Der Bauer«, antwortete er.

»Warum ausgerechnet Napoleon?«

»Weil der unbeliebt war«, sagte er schulterzuckend.

»Wie ist dein Name?«, fragte sie ihn.

»Emil.«

Nach ihrem fragte er nicht. Sie wagte noch einen Vorstoß: »Bist du jeden Tag hier?«

»Bis die Kühe alles abgefressen und niedergetrampelt haben, ja«, antwortete er, »dann müssen wir auf die andere Wiese rüber.«

Er betrachtete sie verstohlen, sie bemerkte es und lächelte ihn freundlich an.

»Auf Wiedersehen, Emil.«

»Wie heißt du?«, fragte er hastig.

»Hedwig Brugger.«

»Brugger? Bist du eine von der Hofmühle?«

»Ich wohne seit letztem Sommer dort. Eigentlich komme ich aus Wien. Es sind entfernte Verwandte von mir.«

»Wie sind sie?«

»Wer?«

»Die Brugger.«

»Es sind liebe Menschen. Sie sind freundlich zu mir. Sie haben meinen Vater und mich aufgenommen, obwohl sie uns nicht gekannt haben«, antwortete sie.

»Hm«, machte er.

»Kennst du sie?«

Er schüttelte den Kopf.

»Wien«, sagte er und zog das Wort in die Länge. »Da muss es schön sein.«

»Hier ist es viel schöner«, sagte sie.

Er schaute sie ungläubig an.

»Hast du einmal den Kaiser gesehen?«

Sie nickte: »Und die Kaiserin. Ab und zu im Theater.«

»Aber nur von der Ferne?«

»Ganz nah, durch das Opernglas«, lachte sie.

Als sie ging, bat er sie — wobei er rot anlief — wiederzukommen, sie versprach es ihm, winkte ihm zu und ging in die Richtung, die er ihr gezeigt hatte. Als sie sich umdrehte, sah sie, dass er am selben Fleck stand und ihr nachschaute. Auf dem Heimweg fiel ihr ein, dass es ihn weder interessiert hatte, warum sie in der Hofmühle lebte, noch wie lange sie vorhatte zu bleiben, nur nach den Brugger hatte er gefragt: Wie sind sie? Eigenartig, dachte sie, kannten sich in einem kleinen Dorf nicht alle?

Vom ersten Augenblick an hatte Hedwig die Familie ins Herz geschlossen, besonders Albert und seine Schwester, aber auch Anna, die immer etwas traurig wirkte, und den wortkargen Vinzenz, obwohl sie bei den beiden ein bisschen länger gebraucht hatte, um mit ihnen warm zu werden. Ihrem Vater und ihr war ausschließlich Gastfreundschaft und Herzlichkeit entgegengebracht worden. Die Brugger waren gänzlich ohne Argwohn, sie gingen vom Guten im Menschen aus und behandelten jeden mit freundlichem Respekt, ihrem Vater war diese Eigenschaft naiv erschienen, ihr hatte sie gefallen.

Ihrem Vater nahm Alberts Gutgläubigkeit den Wind aus den Segeln, er bewies zumindest den Anstand, auf die Umsetzung seines Plans zu verzichten, und brachte das Ende, ohne groß zu jammern, hinter sich. Man konnte es auch anders formulieren: Ihr Vater merkte, dass seine Idee nicht mehr umsetzbar war, da der Körper rasanter verfiel, als er es in den letzten Monaten hatte wahrhaben wollen, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich würdevoll zum Sterben hinzulegen. So genau wusste Hedwig das nicht. Ihr Vater hatte ihr nicht erklärt, warum er seine so teuer erstandenen Zigarren und den Cognac nicht auspackte und als Geschenk überreichte, wie er es vorgehabt hatte. Sie war es, die schließlich nach dem Tod ihres Vaters beides ihrem Onkel schenkte.

Nachdem Theo — von einem Hafenarbeiter — vom gutgehenden Handelsgeschäft seines Cousins erfahren hatte, schmiedete er einen Plan. Hedwig hasste seine Pläne.

Dieser neue Plan sah vor, einen Brief an seine Mutter zu schreiben und kurz darauf in der Hofmühle aufzukreuzen, um sich zu erholen, die Verwandten kennenzulernen, Frieden mit der Mutter zu schließen, einige Wochen lang nicht für Wohnen und Essen aufkommen zu müssen. Doch es wäre nicht ihr Vater gewesen, wenn er es dabei belassen hätte. Theo packte eine teure Zigarrenschachtel und eine Flasche Cognac ein, die ihn das letzte Geld gekostet hatten. Er wollte seinem Cousin während seines Besuches immer wieder von diesen Zigarren und dem Cognac — das Edelste vom Edlen — vorschwärmen, die er von Händlern direkt aus Kuba und Frankreich gekauft hatte, die er persönlich kannte, und ihm anbieten, das Geschäft für ihn einzufädeln, falls er Interesse hatte, beides in seinem Warenhaus zu vertreiben. Theo wollte ihm dafür einen nicht zu kleinen Vorschuss abknöpfen, zurück nach Wien fahren und sich nie wieder blicken lassen.

Zum Glück war nichts daraus geworden. Ihr Vater hatte schöne Wochen im Kreise seiner Familie verbracht und Hedwig hoffte, dass ihre Herzlichkeit ihn beschämt hatte. Aufgrund von Alberts Großzügigkeit hatte er keine Schmerzen erleiden müssen, Hedwig wagte sich nicht vorzustellen, wie sein Sterben in Wien ausgesehen hätte, in dem zugigen Loch, in dem sie zum Schluss gehaust hatten, und ohne Geld für Morphium.

Vorher hatte er seiner Familie noch mit zahlreichen Anekdoten beweisen wollen, was für ein witziger, umtriebiger Tausendsassa er gewesen war. Hedwig war übel geworden bei all seinen Erzählungen, hatte jedoch nie gewagt, die Stube zu verlassen. Zu groß war ihre Angst gewesen, es könnte merkwürdig wirken, wenn die Tochter den Erinnerungen ihres Vaters nicht mit verklärtem Gesicht lauschte. Seine Mutter und deren Familie waren ihrem Vater sein ganzes Leben lang keinen Pfifferling wert gewesen, nie hatte er sich die Mühe gemacht zu schreiben, sie zu besuchen, er hatte die arme Frau den Rest ihres Lebens im Glauben gelassen, er wäre damals mit achtzehn standrechtlich hingerichtet worden. Hedwig wunderte sich, dass er diesbezüglich von seinen Verwandten nicht zur Rede gestellt wurde, bis sie erkannte, dass diese es aus Rücksicht unterließen, sie mussten annehmen, dass der sterbende Mann sich ohnehin genug Vorwürfe machte. Sie aber kannte ihren Vater gut genug, um zu wissen, dass dies nicht der Fall war. So viel Groll empfand sie ihm gegenüber und musste es vor den Brugger verbergen, um niemanden vor den Kopf zu stoßen. Einmal, sie waren allein in seiner Kammer, fragte sie ihn mit vor Zorn bebenden Lippen: »Warum hast du mir das vorenthalten?«

»Was meinst du, Kind?«, fragte er mit scheinheiligem Blick, sie konnte sich nicht zurückhalten und packte ihn am Hemd.

»Du weißt, was ich meine!«, schrie sie, und er legte ihr erschrocken die Hand auf den Mund.

»Nicht so laut«, sagte er.

Sie ließ von ihm ab, setzte sich neben ihn aufs Bett und begann zu weinen.

»Warum sind wir nach dem Tod meiner Mutter nicht hierhergekommen? Warum durfte ich nicht hier aufwachsen? Mit einer Großmutter, mit lieben Menschen? In einem richtigen Haus! Inmitten dieser schönen Landschaft! Überhaupt, warum hast du deine Mutter all die Jahre glauben lassen, ihr einziger Sohn wäre tot?«, schluchzte sie.

»Ach Liebes, werd nicht sentimental, so schön ist es hier auch wieder nicht.«

»Ich finde es wunderschön!«

»Mir wäre schnell langweilig geworden.«

»Du hättest ja wieder gehen können!«, fauchte sie.

»Ohne dich?«, fragte er fassungslos. »Das hätte ich nie gemacht.«

»Ja«, höhnte sie. »Weil du mich für all deine üblen Machenschaften und Betrügereien gebraucht hast. Du hast mich benutzt!« Sie stand auf und stampfte aus der Kammer.

Das Schlimmste, das ihr Vater von ihr verlangt hatte, war gewesen, als er sie mit elf Jahren, nach dem Tod der Mutter, bei den Reischachs abgeliefert hatte, mit dem Auftrag, diese zu bestehlen und ihm das Diebesgut durch ein Fenster in der Speisekammer ins Freie zu reichen. Er köderte sie mit der Behauptung, ihr kleines Hündchen wäre krank und müsste sterben, wenn es keine Medikamente bekäme, und diese wären sehr teuer. Wie er es immer wieder geschafft hatte, sie mit derartigen Behauptungen für seine Dienste einzuspannen, war ihr später ein Rätsel, oft hatte er sie zusätzlich mit dem Waisenhaus unter Druck gesetzt, dort würde sie nämlich landen, wenn sie ihn nicht dabei unterstütze, Geld zu beschaffen. Mit einem Brief in ihren Händen, in dem er erklärte, wer sie war und dass er eine Zeitlang nicht für sie sorgen könne — er appellierte an das wohltätige Herz der Familie —, ließ er sie vor der Eingangstüre stehen. Sie wusste, wer die Leute waren, oft genug hatte ihr Vater über seine Großeltern, seinen Vater und dessen Schwestern geschimpft. Sie hatte eine Heidenangst vor dem, was sie erwartete, immerhin konnte es sein, dass ihr Böses angetan wurde, wenn das — laut ihrem Vater — derart böse Menschen waren. Am ganzen Körper zitternd nässte sie sich ein, so fand der Hausdiener sie. Mittlerweile lebte der Sohn Theodor Johanns mit seiner Familie in dem Palais, er und seine Frau erbarmten sich Hedwigs und nahmen sie auf, drei Wochen später wurde sie von der Köchin dabei erwischt, wie sie eine Tasche voll Silberbesteck aus dem Fenster warf. Die Herrschaft stellte sie zur Rede, sie brach weinend zusammen und log, dass ein fremder Mann sie zu den Diebstählen gezwungen hatte. Als ihr Vater sie abholen kam, baten die Eheleute — die das Ganze natürlich durchschaut hatten — darum, das Kind bei ihnen zu lassen, sie würden dafür sorgen, dass es eine ordentliche Ausbildung bekam. Theo schimpfte, sie würden ihm seine Tochter wegnehmen wollen — das Einzige, das er noch habe —, und zog mit ihr ab, das Hündchen war in der Zwischenzeit verstorben.

Jeden Tag zitterte Hedwig bei dem Gedanken, ihr Vater könnte sich erholen und wieder aufbrechen wollen, nie und nimmer wäre er ohne sie weitergezogen und hätte ihr erlaubt zu bleiben, und da sie noch nicht volljährig war, wäre sie machtlos gewesen. Sie hätte Albert Brugger die Wahrheit über ihren Vater erzählen und ihn bitten können, die Vormundschaft für sie zu übernehmen, doch schreckte sie davor zurück. Nie durfte jemand von ihrer Vergangenheit erfahren, sie schämte sich ihrer unglaublich, und sie schämte sich ihres Vaters. Es war ihr nicht gleichgültig, was die Brugger von ihr dachten, sie wollte von ihnen geliebt werden. Sie mochte es, von Josephine in den Arm genommen zu werden, sie mochte es, dass Albert ihr gerne zuhörte, ihre Ansichten zum Warenangebot im Kaufhaus ernst nahm, dass Anna ihr zeigte, wie man ein Kleid entwarf, wenn sie diese über die Nähmaschine gebeugt betrachtete, erinnerte sie sich an ihre verstorbene Mutter. Hedwig hatte das Gefühl, dass ein neues Leben für sie begann und dass sie auf keinen Fall ihre Vergangenheit mit auf die Reise nehmen dürfe, da sie ansonsten von dieser eingeholt werden würde. Deshalb beschloss sie — weil sie nicht lügen wollte —, über die letzten sechs Jahre ihres Lebens nicht zu reden und nur das Nötigste preiszugeben, wenn sie etwas gefragt wurde.

Kurz vor seinem Tod brachte ihr Vater eine vage Erklärung vor: »Weißt du, Hedwig, meine Mutter war ohne mich besser dran. Wenn sie erfahren hätte, dass ich noch am Leben bin, hätte sie ihre Nichten und ihren Neffen im Stich gelassen und wäre zu mir nach Wien gekommen.«

»Das weißt du doch gar nicht. Ihr hättet euch immerhin schreiben und gegenseitig besuchen können.«

»Das wäre ihr zu wenig gewesen. Ich war ihr Ein und Alles. Ihr großer Wunsch war, dass ich Arzt werde, mit einer eigenen Ordination, und dass sie bei mir mitarbeitet, bei mir lebt, meiner Frau im Haushalt hilft, meine Kinder aufwachsen sieht. Ich habe manchmal daran gedacht, ihr zu schreiben. Ich glaube, ich habe es deshalb nie gemacht, weil ich ihr ersparen wollte zu sehen, was für ein Tunichtgut aus mir geworden ist.«

Es war das erste Mal, dass ihr Vater vor ihr sein Scheitern eingestand. Sie versöhnten sich, vier Tage darauf starb er.

Beim Abendessen dachte Hedwig die ganze Zeit an den jungen Mann mit dem braungebrannten Gesicht, sie überlegte, ob sie der Familie von ihm erzählen sollte, unterließ es dann aber. Sie hätte zwar vermutlich einige Auskünfte über ihn und seine Familie erhalten, ob er der Sohn eines großen oder kleinen Bauern oder nur ein Knecht war, aber im Grunde war es ihr völlig gleichgültig, wer oder was er war. Sie befürchtete, dass ihr Onkel ihr verbieten könnte, weiterhin durch die Gegend zu streifen, aus Sorge, ihr würde etwas zustoßen, oder weil es als Frau unschicklich war, länger als ein paar Minuten alleine mit einem Mann zu sein. Zumindest war das in Wien so, außer bei den armen Leuten, die pfiffen auf die guten Sitten, und wie das auf dem Land war mit den guten Sitten, darüber war sich Hedwig noch nicht im Klaren.