Albert führte noch vor dem Frühstück ein Gespräch mit Hedwig, in dem sie ihn stürmisch bat, Emil Wagner eine Chance zu geben. In ihrem Überschwang ging sie vor ihm in die Hocke und griff nach seinen Händen. Die Geste amüsierte und rührte ihn gleichzeitig, er spürte seinen Widerstand schwinden.
»Warum setzt du dich ein für den jungen Mann?«, fragte er sie. »Liebst du ihn?«
Sie errötete und sagte: »Ich weiß es nicht.«
»Hedwig, sag mir die Wahrheit. Seid ihr — beieinandergelegen?«
Sie ließ seine Hände los und stand abrupt auf. »Nein!«, sagte sie heftig und wurde puterrot. »Nein! Gustav war bei mir!« Sie besann sich und fügte hinzu: »Auch wenn Gustav nicht bei mir gewesen wäre, hätte ich es nicht getan. Ich bin nicht so ein Mädchen.«
Albert glaubte ihr. »Bevor ich ihn einstelle, muss ich ihn kennenlernen«, sagte er.
Hedwig machte einen Freudensprung und umarmte ihn. »Ich danke dir, Onkel Albert«, flüsterte sie.
Sie machten sich nach dem Mittagessen auf den Weg, und weil sie nicht aufhörten zu betteln, nahm Albert seine drei Söhne mit. Als sich Hedwig und der junge Mann gegenüberstanden, war für Albert auf den ersten Blick ersichtlich, dass die beiden ineinander verliebt waren. Er erkannte eine gewisse Ähnlichkeit mit Franziska, der junge Mann hatte die gleichen Augen wie sie, ebenso die langen Wimpern, das ovale Gesicht — von der Sonne verbrannt —, die schmalen Wangen mit den Grübchen, nur seine Haare waren nicht weizenblond, wie ihre es gewesen waren, sondern etwas dunkler. In einem warmen Bronzeton fielen sie ihm lang und gelockt ins Gesicht, sie hatten vermutlich monatelang keine Schere mehr gesehen. Er war barfuß, seine sehnigen Füße waren schmutzig, er trug ein Hemd, dessen Ärmel herausgerissen waren, und eine Hose, die ihm zu groß und mit einem Strick um die Taille festgebunden war. Der Junge war verlegen, er brachte kaum ein Wort heraus und hatte Mühe, Albert in die Augen zu schauen, meistens gab er nur einsilbige Antworten. Dieser versuchte ihm seine Schüchternheit zu nehmen, indem er unverfänglich mit ihm über den Hund plauderte, das Vieh, Getreide, den Beruf des Müllers.
»Würdest du ihn gern erlernen?«, fragte er ihn.
Emil antwortete, dass er gern einen Beruf erlernen würde und er sich den eines Müllers gut vorstellen könne.
»Ich bin fleißig«, sagte er. Später fügte er hinzu: »Ich werd Sie nicht enttäuschen.« Und noch später: »Sie müssen mir auch nicht viel zahlen.«
»Weiß der Eder, dass du gehen willst?«, fragte Albert.
Emil schüttelte den Kopf.
»Wann wirst du es ihm sagen?«
»Am 27. werd ich einundzwanzig. Dann geh ich«, sagte er.
»Warum ausgerechnet an dem Tag?«
»Der Lehrer hat mir geraten, ich soll bis zu meinem einundzwanzigsten Geburtstag warten und dann gehen. Der Bauer hat nicht die Vormundschaft für mich, er kann mir also nichts anhaben.« Das war der längste zusammenhängende Satz, den Emil im Gespräch hervorbrachte.
»Warum sagst du es ihm nicht schon jetzt? Er muss sich vielleicht um einen neuen Knecht umschauen.«
Emil senkte den Blick und sagte eine Weile nichts, bevor er den Kopf schüttelte und hervorstieß: »Es geht nicht.«
»Das ist feige«, sagte Albert.
»Feige?« Emil schenkte ihm einen finsteren Blick, bevor er wieder zu Boden schaute. »Was wissen Sie schon.«
»Du bist wesentlich stärker als er.«
»Als ob der allein wär.«
»Deine Halbbrüder?«
Der Junge nickte.
Auf dem Weg zurück zur Hofmühle war Albert schweigsam, er wusste nicht, was er von der Sache halten sollte. Was findet Hedwig an dem armen Tropf?, fragte er sich, er ist ein Bauerntölpel, der nichts hat, nichts weiß, nichts kann, der vermutlich innerlich verroht ist, da er nie Liebe erfahren hat, der keine Familie hat, die ihm in Notzeiten Rückhalt bieten kann. Sie war jung und wusste nicht, wie hart das Leben sein konnte.
Er betrachtete seine Nichte, mit Gustav auf ihrer Hüfte sitzend ging sie vor ihm her auf dem schmalen Waldpfad, der Kleine hielt ihren Hals umschlungen und hatte den Kopf auf ihre Schulter gelegt, Eugen, der hinter ihr hertrottete, schnitt Grimassen für den kleinen Bruder, welche dieser nachzuahmen versuchte. Schlechtes Gewissen keimte in Albert auf. Ich hätte mich mehr darum kümmern müssen, dass sie mit jungen Leuten in Kontakt kommt, dachte er, sie hat jeden Tag mit uns und den Kindern verbracht. War sie einsam gewesen? Sie hatte nie den Eindruck gemacht, im Gegenteil, sie hatte zufrieden, sogar glücklich gewirkt, ihre Begeisterung für das Baby, Annas Schneiderkünste, Josephines Garten, Alberts Handelshaus, die Natur war ansteckend gewesen. Ihre Ankunft in der Hofmühle war für alle ein Glücksfall gewesen, besonders für Anna, die sich nach Gustavs Geburt von ihrer Erschöpfung und Traurigkeit lange nicht erholt hatte. Gustav war bei Hedwigs Ankunft drei Monate alt, und jeden seiner Entwicklungsschritte kommentierte sie liebevoll und bewundernd, als wäre er ein kleiner Prinz: »Der kleine Mann kann sitzen, und seht, was für eine gerade Rückenhaltung er dabei an den Tag legt!«; »Stellt euch vor, er ist vorwärts gerobbt, durch das ganze Wohnzimmer!«; »Ich habe heute tausende Küsschen bekommen von diesem süßen Herzensbrecher«; »Da schimmern ja deine zwei ersten Zähnchen durch, kleiner Mann, dein Lächeln ist dadurch noch viel bezaubernder!«
Sie arbeitete gerne mit Josephine im Garten, nannte ihre Tante scherzhaft »Kräuterhexe«, stundenlang sah sie Anna beim Schnittezeichnen und Nähen zu, am Ende des Winters war sie in der Lage, einen Faltenrock und eine Bluse für sich zu nähen, für die Zwillinge und Gustav einige Spielhosen. Sie ging mit Albert durch das Handelshaus und hörte seinen Ausführungen über Bestellungen, kommende Lieferungen, Preisüberlegungen zu, ihre Antworten bewiesen Klugheit, nie hatte sich Anna für das Geschäft derart interessiert, wie Hedwig es tat.
Durch die Natur zu streifen begann sie nach dem Tod ihres Vaters. Zwei- bis dreimal in der Woche zog sie am Nachmittag los und kam — außer in den Wintermonaten — erst nach Stunden zurück, nur strömender Regen hielt sie von ihrem Spaziergang ab. Am liebsten war sie dabei alleine, als Anna Gustav nicht mehr stillte, nahm sie ihn meistens mit, um ihre Pflichten nicht zu versäumen. Beim Abendessen schilderte sie, was sie auf ihrem Streifzug gesehen hatte, welchen Wald, Acker, Hof, welche Wiese, Hütte, und Josephine oder Albert erzählten daraufhin, wer die Besitzer waren und was es mit den Leuten auf sich hatte, dabei wusste seine Schwester zumeist mehr als er. Es wurde über Dorfbewohner geredet, von denen Albert lange nichts gehört hatte und Anna noch nie, alte Geschichten wurden hervorgekramt, in Erinnerungen geschwelgt, es war spannend für alle. Hedwig ging bei ihren Wanderungen systematisch vor, sie erkundete zunächst die Gegend, welche östlich von der Hofmühle lag, es folgten Süden, Westen und zum Schluss der Norden. Der Ederhof lag nördlich von der Hofmühle, eine Stunde Fußweg entfernt, von diesen Streifzügen hatte sie kaum mehr berichtet. Der Grund war nun bekannt, hatte Albert die ganze Nacht nicht schlafen lassen und ließ auch jetzt seine Gedanken nicht zur Ruhe kommen. Wie sollte er entscheiden? In seinen Augen waren die beiden noch halbe Kinder, und für eines der Kinder war er verantwortlich. Hedwig sah seine Zusage bereits als gegeben an, da er sich aus Neugierde hatte hinreißen lassen, Emil kennenzulernen, doch konnte er immer noch ein Machtwort sprechen und zu ihr sagen: Glaub mir, es ist besser, wenn du ihn vergisst. Sie würde ihn eine Zeitlang hassen, aber zumindest hatte er ihr Unglück verhindert. Aber was sollte aus dem jungen Mann werden?
Am Morgen darauf stand er mit dem Bewusstsein auf, Emil Wagner eine Chance geben zu müssen. Er sprach mit dem Pfarrer darüber, sie waren in den letzten Jahren nicht nur Mitstreiter, sondern auch Freunde geworden, den Neubau des Armenhauses hatte Albert gegen den Willen der meisten Bauern nur deshalb durchsetzen können, weil der Pfarrer ihn unterstützt hatte.
»Das freut mich ehrlich«, sagte er, »meinen Segen und meine Unterstützung hast du.«
Er las im Taufbuch nach: »Emil, unehelicher Sohn der Magd Ida Wagner, aus dem Passauer Landkreis stammend. Vater: unbekannt. Geboren am 27.9.1870, getauft am 3.10.1870.« Er fuhr in die Bezirkshauptstadt Rohrbach und führte eine Unterredung mit dem Bezirksrichter, im Nachbarort suchte er den Gendarmerieposten auf. Mit Hedwig besprach er die letzten Dinge und trug ihr auf, sie Emil einzuschärfen, außerdem gab er ihr Hemd, Hose, Weste, die ihm zu eng geworden waren, und Schuhe, sie faltete die Kleidungsstücke ordentlich und steckte alles in einen Rucksack. Emil Wagner sollte den Ederhof in angemessenen Kleidern verlassen.