Seit den frühen Morgenstunden saß Hedwig mit Gustav auf der Veranda und wartete, ihre Anspannung übertrug sich auf die anderen, alle schlichen im Haus herum und warfen immer wieder einen Blick aus dem Fenster. Als Emil endlich zwischen den Bäumen der Allee auftauchte, sprang Hedwig mit einem leisen Aufschrei vom Stuhl, und selbst Albert stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.
Der Junge sah furchtbar aus, Nase und Kinn waren blutverschmiert, die Haare feucht verklebt, es war offensichtlich, dass er starke Schmerzen hatte und dies zu verbergen suchte, Albert schickte nach dem Arzt. In den ersten Stunden war er derart verlegen, dass er kaum ein Wort herausbrachte, er strahlte Verlorenheit und Hilflosigkeit aus. Obwohl er Alberts Sachen trug, die unglaublich zerknittert waren, war der Junge ungepflegt und heruntergekommen, Anna hatte noch nie derart schmutzige Fingernägel gesehen, obendrein stank er nach Stall, sie war entsetzt. Hedwig zeigte ihm seine Kammer, sie befand sich im ersten Stock des alten Hauses — dieser war seit Rosas Tod verwaist —, zumindest das hatte Anna durchsetzen können. Sie war, wie Vinzenz, gegen die Aufnahme des jungen Mannes gewesen, hatte deshalb mehrmals mit ihrem Mann gestritten.
»Ich finde das äußerst unüberlegt«, sagte sie zu Albert. »Du hast den Jungen nur einmal gesehen. Wer weiß, wen du da ins Haus holst. Er könnte gewalttätig sein. Und außerdem ist es unsittlich, wenn die zwei unter einem Dach wohnen und sich täglich sehen.«
»Gut, dann wird er eben im alten Haus untergebracht, dann wohnen sie nicht unter einem Dach«, lachte Albert, und Anna verdrehte die Augen.
Albert wunderte sich über die Aussage seiner Frau, die Unsittlichkeit betreffend, da sie über vieles, auch was Sexualität betraf, für gewöhnlich sehr fortschrittlich dachte. Zur Schneiderin im Ort hatte sie einmal gesagt: »Du lebst ja hinter dem Mond.« Diese hatte sich etwas zu offenherzig bei ihr über das Hausmädchen beschwert, das einen Verlobten hatte und diesen hin und wieder alleine sehen wollte, was die Schneiderin verboten und die junge Frau daraufhin heimlich getan hatte. Annas Bemerkung mit dem Mond hatte im Ort die Runde gemacht. Viele junge Leute gaben sie fortan von sich, wenn die Älteren etwas verbieten wollten, was ihrer Ansicht nach zu modern und dadurch anrüchig war.
Der wahre Grund war ein anderer. Anna genoss Hedwigs Anwesenheit und Aufmerksamkeit und wollte sie nicht mit jemandem teilen, schon gar nicht mit einem Mann. Seitdem das Mädchen im Haus war, fühlte sie sich nicht mehr einsam, nicht mehr erschöpft, nicht mehr niedergeschlagen, und wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte die Situation für immer so bleiben können. Sie liebte es, mit Hedwig die Tagesgeschäfte zu erledigen, sie machten alles gemeinsam, nur an den Nachmittagen ruhte Anna eine Weile allein in ihrem Zimmer, da sie in der Nacht schlecht schlief. Das Mädchen war wie eine jüngere Schwester für sie, die sie gerne gehabt hätte — mit ihrer älteren Schwester hatte sie sich nie verstanden, sie war schon als Kind herablassend von ihr herumkommandiert worden —, wie eine gute Freundin, aber auch wie eine Schülerin. Aufgrund ihrer Jugend kam ihr das Mädchen wie ein geöffneter Behälter vor, den sie mit Dingen füllen konnte, die sie für richtig hielt. Diese Vorstellung gefiel ihr.
»Ich schlafe hier?«, fragte Emil ungläubig und ging durch den großen Raum, der vor vielen Jahren das Zimmer von Alberts Schwestern gewesen war. Hedwig hatte stundenlang geschrubbt, Vorhänge genäht, und Albert hatte neue Möbel bereitgestellt, sie stammten aus Wilhelm Svobodas Werkstätte. Im Schrank hingen ältere Kleidungsstücke von Albert, auch ein Mantel für den Winter, Nachthemden, Schuhe, Socken.
Der Arzt kam und renkte Emils Schulter ein, zum ersten Mal in seinem Leben saß er in einer mit warmem Wasser gefüllten Wanne, Albert zeigte ihm, wie eine richtige Rasur vonstattenging, Hedwig schnitt ihm auf der Veranda die Haare, Gustav saß dabei auf seinem Schoß und wollte dann ebenfalls seine Haare geschnitten haben. Sie machten einen Rundgang auf dem Gelände, Albert zeigte ihm das Kaufhaus, die Mühle, die Säge, Vinzenz erklärte kurz, wie ein Walzenstuhl und eine Gattersäge funktionierten. Josephine führte ihre geliebte Schweinezucht vor, Emil ließ es sich nicht nehmen und half ihr trotz der Schmerzen beim Füttern. Beim Essen nahm er seinen ganzen Mut zusammen — er lief rot an und sprach stockend — und bedankte sich für die Arbeitsstelle und die schöne Kammer, Albert nickte ihm freundlich zu und erwiderte: »Die Hofmühle soll dir ein Heim sein, nicht nur eine Arbeitsstelle. Willkommen.«
An den Tagen darauf bekam Emil den Auftrag, sich auszuruhen — er protestierte, denn ihm fiel das Nichtstun schwer — und sich nicht zu weit von der Hofmühle zu entfernen, Albert befürchtete, jemand könnte ihn sehen und Eder davon berichten.
»Früher oder später wird er es ja erfahren müssen«, sagte Anna.
»Er wird uns am Sonntag in der Kirche zusammen sehen. Und diesen Auftritt wollen wir uns nicht verderben, nicht wahr?« Albert zwinkerte Hedwig zu.
Er war zu dem Schluss gekommen, dass sich vor versammelter Gemeinde die beste Möglichkeit bot, Eder vor vollendete Tatsachen zu stellen, zwar stellte dies eine Provokation für den Bauern dar, doch hatte Albert an der Vorstellung Gefallen gefunden. Am Sonntag war Emils Nervosität bereits beim Frühstück so stark, dass er die Kaffeetasse umwarf, was ihm unendlich peinlich war.
»Er erkennt dich sowieso nicht wieder«, sagte Hedwig beruhigend, Anna musste ihr Recht geben, Haarschnitt, Rasur und Kleidung hatten einen anderen Menschen aus dem jungen Mann gemacht.
An der Seite der Brugger verließ Emil die Kirche, Hedwig hatte sich bei ihm eingehängt, sie sah entzückend aus in ihrem dunkelblauen Kleid und dem dazu passenden Hut, und schenkte jedem ein strahlendes Lächeln. Eders Gesichtsausdruck zeigte so viel Erstaunen und Unglauben, dass sich Emil ein Grinsen nicht verkneifen konnte.
»Das zahl ich dir heim, Brugger«, zischte er, sein Gesicht war hasserfüllt, er spuckte Albert vor die Füße.
Emil war den ganzen Tag aufgewühlt. »Ich traue ihm alles zu«, sagte er.
»Es war ein Fehler, ihn vor allen Leuten derart bloßzustellen«, sagte Vinzenz.
Albert winkte ab. »Warum Bloßstellung? Kaum jemand hat gewusst, wer der junge Mann an unserer Seite ist. Mit Ausnahme des Pfarrers.«
»Aber bald werden es alle wissen«, meinte Josephine.
»Er wird sich schnell beruhigen. Es mag ein Fehler gewesen sein, aber ich habe ihn genossen.« Albert grinste breit, gluckste und begann allmählich zu lachen. »Sein Gesichtsausdruck war ein Bild für Götter!«
Alle lachten, bis ihnen die Tränen kamen, nur Anna verstand nicht ganz, was an dem dummen, verdutzten Gesicht eines älteren Bauern so komisch sein sollte.
Die beiden jungen Leute gingen scheu miteinander um, beinahe unbeholfen, kaum waren sie zusammen, war unübersehbar, dass sie einander mit Blicken verschlangen, regelrecht in Flammen standen, jedoch versuchten, dies vor Anwesenden zu verbergen. Angesichts dieser heillosen Verliebtheit fiel es den meisten schwer, sich ein Schmunzeln zu verkneifen, Anna bildete die Ausnahme. Hedwig half ihr weiterhin im Haushalt und mit den Kindern, saß wie bisher am Abend mit der Familie zusammen, ihre Aufmerksamkeit galt jedoch jemand anderem, Anna war verärgert und gereizt.
Aber schon nach wenigen Tagen konnte sie nicht leugnen, dass der Junge etwas Liebenswertes an sich hatte. Er war höflich, bescheiden, dankbar, legte aber keine Katzbuckelei an den Tag, was ihr zuwider gewesen wäre, selbst bei den kleinsten Dingen war sein Bemühen erkennbar, es gut zu machen. Bei der ersten Mahlzeit, am Tag seiner Ankunft, beobachtete er aus den Augenwinkeln, wie die anderen sich benahmen. Er saß mit geradem Rücken da und hantierte mit Gabel und Messer, wobei offensichtlich war, dass er es nicht gewohnt war, derart zu essen, doch stellte er sich geschickt an. Anna war überzeugt, dass er bisher tief über seinen Teller gebeugt, die Ellbogen am Tisch, mit einem Löffel oder gar den Händen das Essen in sich hineingeschaufelt hatte. Und nicht nur beim Essen verhielt es sich so. Er beobachtete die Anwesenden — jedoch nie aufdringlich — und ahmte ihr Verhalten nach, vor allem das Alberts, es dauerte nur wenige Wochen, bis er sich seines Benehmens und seines Auftretens sicher war.
Und noch etwas musste Anna ihm zugutehalten: Emil schaute mit staunenden Augen um sich, als wollte er sagen: Da bin ich, Welt, was hast du mir zu bieten? Sein Charme war ungekünstelt, seine Lebensfreude ansteckend, jede Tätigkeit, jeder noch so kleine Ausflug war für ihn ein Abenteuer und bereitete ihm Vergnügen, die Sinnlichkeit, die er dabei ausstrahlte, zog Anna in ihren Bann, ihre Gereiztheit legte sich.
In der zweiten Nacht, die Emil in der Hofmühle verbrachte, warf sie im Nähzimmer vor lauter Ärger — über ihren Mann, der ohne ihr Einverständnis den jungen Mann aufgenommen, und über Hedwig, die nur noch Augen für den Eindringling hatte — ihre Schneiderpuppe um, sie fiel gegen die Wand und riss die Tapete auf. Anna entdeckte die ehemalige Tür, die vor Jahren mit einer Samttapete überklebt worden war. Die Tür war beim Anbau des neuen Traktes zwischen den beiden Gebäudeteilen eingebaut worden, sodass man zwischen ihnen wechseln konnte, ohne zuerst durch die jeweilige Eingangstür im Erdgeschoss das Haus verlassen und es durch die andere wieder betreten zu müssen. Anna hatte der Gedanke widerstrebt, dass Josephine einfach durch diese Tür in das Nähzimmer, ihr alleiniges Reich, spazieren konnte, womöglich ohne sich anzukündigen. Die Tür wurde also versperrt, die Klinke entfernt und eine schwere Samttapete, dunkel mit großen tiefroten Rosen, über die gesamte Wand geklebt. Siedend heiß fiel Anna ein, dass sich auf der anderen Seite Emils Zimmer befand. Wenn sie die Tür einen Spalt öffnete, konnte sie sicherlich einen Blick hineinwerfen, zum Glück quietschte sie nicht. Vor ihr lag die breite Mauerschwelle und die zweite Tür, an der ebenfalls die Klinke entfernt worden war, das dadurch entstandene Loch war groß genug, sie hatte das Bett genau im Blickfeld. Anna brauchte eine Weile, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, der junge Mann schlief, er lag auf dem Bauch, die Tuchent war zur Seite gerutscht, sein Körper war muskulös und schön und erinnerte sie an den von Charles Morel junior, als er sich nackt ausgezogen hatte und ins Meer gelaufen war.
Wenn Albert abends Zeit erübrigen konnte und nicht in seinem Bureau im Kaufhaus oder in seinem Arbeitszimmer über den Büchern saß, lernte und las er mit Emil. Er hatte von seinem achten bis vierzehnten Lebensjahr ab und zu im Winter die Schule besucht, seine Bildung war mehr als dürftig, doch bereits in den ersten Wochen wurde Albert klar, dass Emil rasch begriff und wissbegierig war.
»Niemand hat sich viel mit ihm beschäftigt oder ihn gefördert, und dennoch ist er freundlich, gescheit und hat eine rasche Auffassungsgabe. Ich finde das interessant. Das würde die Theorie bestätigen, dass die Vererbungslehre nicht ganz von der Hand zu weisen ist«, sinnierte er Anna gegenüber.
Albert war ein leidenschaftlicher Zeitungsleser, er hatte verschiedene Blätter abonniert, vor einiger Zeit war er in einem solchen auf einen Artikel über die Vererbung gestoßen, die Wissenschaftler in den letzten Jahrzehnten sehr beschäftigt hatte. In dem Artikel wurden verschiedene Theorien gegenübergestellt. Der Franzose Jean-Baptiste de Lamarck hatte die Theorie aufgestellt, der Mensch speichere — durch Anpassen an eine bestimmte Umwelt — erworbene Fähigkeiten und Eigenschaften in seinem Organismus ab und vererbe sie eins zu eins an seine Nachkommen weiter. Er belegte das anhand der Giraffe, deren Hals sich auf der Suche nach Futter stetig strecken musste, wodurch er sich verlängerte, ihren immer länger werdenden Hals vererbten die Giraffen von Generation zu Generation. Der Brite Charles Darwin — er wurde vom Redakteur nicht derart geringschätzig abgehandelt wie Lamarck — sprach von Survival of the Fittest. Die Selektionstheorie, wie sie im Deutschen bezeichnet wurde, besagte, dass Individuen, welche den vorhandenen Umweltbedingungen besser angepasst waren als andere, einen Vorteil hatten und dadurch öfter überlebten. Aus diesem Grund konnten sie ihre Merkmale häufiger den Nachkommen vererben als weniger gut angepasste Individuen. Der Augustinermönch Gregor Mendel, er stammte aus Schlesien, glaubte mit seinen jahrelangen Kreuzungsexperimenten mit Erbsen die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten der Vererbung entdeckt zu haben. Er fand heraus, dass bei der Vererbung nicht der Organismus an sich, sondern dominante und rezessive, also herrschende und untergeordnete Merkmale eine Rolle spielten und Aussehen sowie Eigenschaften der nächsten Generation maßgeblich prägten. Der Redakteur machte sich regelrecht lustig über Mendels Erbsenzählerei.
Alberts Auffassung nach war der Mensch bei der Geburt ein unbeschriebenes Blatt und wurde durch Einflüsse und Erfahrungen seiner Lebensumwelt geformt. Er selbst war das beste Beispiel hierfür: Sein Vater war ein einfacher Müller gewesen, der nie irgendetwas hinterfragt hatte. Ohne seine Tante Rosa wäre aus ihm, Albert, der Gleiche geworden, hätte er ein ähnlich stumpfsinniges Leben geführt. Rosa hatte zwei Jahrzehnte lang in der Großstadt gelebt, im Haushalt eines adligen Fabrikanten, der am technischen und wissenschaftlichen Fortschritt interessiert, antiklerikal eingestellt, aufklärerisch war. Das Leben in diesem Haus ließ sie nicht unbeeinflusst, und von ihr bekam er die Liebe zu den Büchern vermittelt, die Offenheit der Welt und ihren Entwicklungen gegenüber.
Emil aber passte nicht so recht in dieses Denkschema, denn er war trotz seiner schwierigen und gewalttätigen Kindheit kein verdorbener Mensch. Sein freundliches Gemüt und seine rasche Auffassungsgabe hatte er vermutlich von seiner Mutter Ida geerbt. Es musste so sein, anders konnte Albert es sich nicht erklären. Ida war die einzige Tochter eines Grundschullehrers gewesen, der Lehrer hatte die Klugheit seiner Tochter erkannt und sie gefördert. Emil hatte nur ein einziges Bild von ihr, es zeigte sie als sechzehnjähriges Mädchen, sie hatte das Bild machen lassen, bevor sie aus ihrem Heimatort wegging, kurz nach dem Tod ihres Vaters. Als Albert das Bild der jungen Frau mit den wachen Augen betrachtete, fragte er sich, wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn sie anderswo als auf dem Ederhof eine Bleibe gefunden hätte. Die Welt kann so hässlich sein, dachte er.
Da ihn interessierte, ob das Unmögliche möglich werden konnte — er hätte gern Emil zu seinem Experiment gemacht —, sprach er mit ihm darüber, ob er für die Aufnahme in ein Gymnasium vorbereitet werden wolle, ob er studieren wolle. Emil lehnte ab, er wollte nichts anderes als ein guter Müller und Sägewerker werden, Albert war fast ein bisschen enttäuscht darüber, dass er keinen Ehrgeiz zeigte.
»Ich fühle mich zu alt, um die Schulbank zu drücken«, sagte er. »Ich will arbeiten und Geld verdienen. Wenn mich etwas interessiert, kann ich mich ja in Büchern oder Zeitschriften darüber informieren, so wie du es tust.«
Vinzenz gefiel Emils Einstellung. Seiner Meinung nach wollten ohnehin bereits zu viele junge Leute in die Stadt ziehen und studieren, sich ihren Kopf vollstopfen lassen mit neumodischen Sachen. Emil war geschickt mit den Händen und gleichzeitig mit dem Kopf dabei, besonders bei der Gattersäge, er erfasste mit einem Blick, worum es ging und worauf zu achten war, sogar er musste zugeben, dass Emil ein wahrer Glücksgriff gewesen war.