Eine Frau war es, welche die Tür von innen öffnete und die ersten zwölf Männer eintreten ließ. Sie war groß, wirkte jedoch zerbrechlich, das dunkelblaue, schlichte Kleid betonte ihre schmale Taille. Die aschblonden Haare hatte sie zu einem losen Knoten gebunden, einzelne Strähnen fielen ihr in die Stirn, auf dem Kopf trug sie einen verwelkten Blumenkranz. Emil war irritiert und merkte, dass es den anderen ebenso erging. Ihr Alter hätte er nicht schätzen können, war sie Anfang dreißig oder bereits vierzig? Was das Schätzen des Alters einer Frau betraf, war er einfach schlecht, Hedwig hatte sich deshalb oft über ihn lustig gemacht. Nur dass sie als junge Frau eine Schönheit gewesen war, erkannte er auf den ersten Blick.
Sie forderte alle auf, sich auszuziehen und sich in einer Reihe aufzustellen. Sie deutete auf zwei Bänke, die an der Wand standen.
»Die Kleidung bitte hierhin legen«, sagte sie und entfernte sich einige Meter.
Er setzte sich auf die Bank und schnürte seine Schuhe auf, die anderen taten es ihm nach. Als er fertig war — oder glaubte es zu sein —, richtete er sich auf. Die Frau kam zu ihm, sah an seinen Beinen hinunter und befahl ihm: »Auch das.«
Widerwillig schlüpfte er aus seiner wollenen langen Unterhose, er fand es befremdlich, sich in Anwesenheit einer Frau gänzlich entkleiden zu müssen. An dieser letzten Hürde soll es nicht scheitern, dachte er, um sich selbst zu beschwichtigen. Er faltete die Unterhose und legte sie auf sein Hemd, die Männer neben ihm, ebenfalls in Unterhosen, begannen zu murren.
»Ich zieh mich aus, wenn du draußen bist«, knurrte ein älterer Mann — Emil wusste aus dem Gespräch, das sie vor der Tür wartend geführt hatten, dass er Jedlicka hieß —, er schaute der Frau herausfordernd ins Gesicht.
Vom Tisch, der sich vor der großen Fensterscheibe befand, stand ein junger Mann auf und trat zu ihnen, er öffnete die Tür, kalte Luft strömte herein und ließ Emil frösteln.
»Der Herr darf nach draußen gehen, wenn ihm etwas nicht passt«, sagte er.
Jedlicka schüttelte verärgert den Kopf, wurde rot und senkte den Blick, der junge Mann schloss die Tür mit Nachdruck und kehrte zu seinem Tisch zurück.
»Sehr ordentlich«, sagte die Frau zu Emil und nickte anerkennend.
Der Stapel mit seinen Kleidungsstücken sah vorbildlich aus, die meisten Männer hinter ihm hatten ihre Sachen achtlos auf die Bank geworfen. Emil wollte nicht, dass etwas zerknitterte, Hedwig hatte seine gesamte Kleidung vor seiner Abreise gewaschen, sorgsam gebügelt und im Koffer verstaut. Die Frau warf einen kurzen Blick in seine Dokumente, deutete ihm mit dem Kopf, nach rechts zu gehen, und streckte gleichzeitig die Hand aus, um die Dokumente des nächsten entgegenzunehmen. Aus den Augenwinkeln sah er, dass am anderen Ende des Raumes eine Tür aufging und ein alter glatzköpfiger Mann hereinkam, er hielt eine gefaltete Zeitung in der Hand.
Der junge Mann blickte ihm gelangweilt entgegen. Als Emil vor ihm stand, wurde ihm bewusst, dass sein Geschlecht genau in dessen Blickfeld lag, weshalb er es schnell mit den Händen bedeckte. Er wurde nach seinem Namen, seinem Alter, Geburtsort, Beruf und bisher überstandenen Krankheiten gefragt. Mit gestochener Schrift notierte der Mann alles auf einem vorgedruckten Formular, Emil blickte auf den mit Kopfschuppen weiß gesprenkelten Jackenkragen hinunter. Die letzte Frage galt den Eltern, ob sie noch am Leben waren und welchem Beruf der Vater nachging. Anschließend wurde er gewogen und gemessen.
»Ein Meter vierundsiebzig«, murmelte der junge Mann vor sich hin, bevor er die Zahl gewissenhaft notierte.
Die Frau ging an ihm vorbei, als er von der Waage stieg, und blieb stehen. »Was hast du da?«, fragte sie, sie legte ihre Hand auf seinen oberen Rücken. Er zuckte zusammen und machte einen Schritt nach vor, er sah, dass der junge Mann ein Grinsen nicht unterdrücken konnte.
Zwischen seinen Schulterblättern war der blasse Handabdruck immer noch zu sehen. Hedwig und er waren an einem Sonntagnachmittag Ende August in der prallen Sonne eingeschlafen, er war auf dem Bauch auf der Decke gelegen, sie seitlich an ihn gepresst, mit ihrer linken Hand auf seinem Rücken. Am Abend war sein Rücken knallrot, nur ihr Handabdruck leuchtete weiß. Hedwig machte ihn lachend darauf aufmerksam, er sah sich das Malheur daraufhin im Spiegel an und musste ebenfalls lachen. In der Nacht konnte er vor Schmerzen kaum schlafen. Zum Glück hatte es Hedwig nicht so schlimm erwischt, da sie ein kurzes Hemd getragen hatte, nur ihr Arm und ihr Oberschenkel waren ein bisschen rot.
»Es ist die Hand meiner Frau«, sagte er, »wir sind in der Sonne eingeschlafen.«
Die Frau entfernte sich wieder. Der Mann ließ ihn einige Übungen machen, Emil musste die Arme nach vor strecken, die Handflächen zeigen, Fäuste ballen und schließlich fünf Kniebeugen und zehn Liegestützen machen.
»Du weißt, was eine Liegestütze ist?«, wurde er gefragt.
Albert Brugger hatte sie einmal vorgezeigt. Mit Liegestützen und Klimmzügen hatten sich die Matrosen der k. u. k. Marine in Form gehalten, wenn ein Schiff wochenlang in einem Hafen gelegen war und es für die Besatzung nicht viel zu tun gegeben hatte.
Emil absolvierte die ihm aufgetragenen Übungen und hätte am liebsten weitergemacht, denn sie wärmten ihn, ihm war mittlerweile sehr kalt. Wie es ihm empfohlen worden war, war er früh dran gewesen, um einer der Ersten zu sein, er war in der Kälte mehr als eine Stunde lang vor dem Gebäude gestanden, laufend hatten sich andere zu ihm gesellt. Es war eine andere Kälte als in Putzleinsdorf, sie war feucht und kroch bis in die Knochen, der schneidende Wind tat sein Übriges. Alle waren froh, als sich die mächtige Eingangstür endlich öffnete. Im Flur taute er etwas auf, doch nackt in diesem großen, hohen Raum, begann er sofort wieder zu frieren. Es war nur ein einziger Kohleofen vorhanden, und Emil vermutete, dass mindestens drei vonnöten gewesen wären, um diese Halle — für nackte Menschen — erträglich zu beheizen. Doch er befürchtete, als Angeber dazustehen, falls er sich nicht genau an die Anweisung hielt, oder schlimmer noch als jemand, der nicht in der Lage war, bis zehn zu zählen, oder als jemand, der schlecht hörte. Er wusste nicht, was schlimmere Auswirkungen auf sein Gesundheitszeugnis gehabt hätte. Er erhob sich also nach zehn Liegestützen wieder, der junge Mann nickte ihm zu und setzte drei schwungvolle Häkchen in eine Spalte auf dem Formular. Er deutete ihm weiterzugehen, dorthin, wo die Frau auf dem Stuhl saß.
In ihrem Schoß lag ein aufgeschlagenes Buch, in dem sie zu lesen schien, Emil sah, dass ihre Lippen sich kaum merklich bewegten. Ihr gegenüber stand ein leerer Stuhl, auf dem ein Zeitungsblatt lag. Emil fühlte sich in ihrer unmittelbaren Gegenwart äußerst unwohl, er fragte sich, was sie inmitten der nackten Männer verloren hatte.
Der junge Mann gab ihm mit einer barschen Handbewegung zu verstehen, endlich weiterzugehen, und ihm blieb nichts anderes übrig, als auf die Frau zuzugehen. Auf dem Zeitungsblatt entzifferte er die Überschrift »Der erste Benzin-Omnibus der Welt soll spätestens im März seinen Betrieb aufnehmen«. Unter einem Foto eines älteren Mannes mit einem beeindruckenden Schnurrbart, der bis zum Kinn herunterhing und die Lippen zur Gänze bedeckte, stand »Der Erbauer Carl Benz«. Als Emil beim leeren Stuhl ankam, hob die Frau den Kopf und forderte ihn auf, sich zu setzen. Verlegen setzte er sich auf Carl Benz’ Gesicht und faltete die Hände im Schoß, die Situation kam ihm zunehmend merkwürdig vor. Ihre grauen Augen schauten ihn mit einem abwesenden Blick an.
»Lesen Sie mir bitte diese Seite vor«, sagte sie und reichte ihm das Buch.
Ihre Hände, sie waren angenehm warm, streiften die seinen. Emil begann zu lesen: »Sie sahen sich eine Weile an, herüber und hinüber, als ob sie eine Lufterscheinung betrachteten, bis sich Sali endlich aufrichtete und langsam über die Straße und über den Hof ging auf Vrenchen los.« Nach ein paar weiteren Zeilen unterbrach die Frau ihn: »Gut, danke, du bist ein geübter Leser. Hast du es viel praktiziert?«
Er wusste nicht, ob er die Wahrheit sagen sollte, nämlich dass er bis vor rund drei Jahren so gut wie nie ein Buch von innen angeschaut hatte. Erst auf Alberts Drängen hin hatte er sich mit dem Lesen beschäftigt, besondere Freude hatte es ihm aber nie bereitet, mit Büchern hatte er nicht viel anfangen können, er bevorzugte Zeitungen und Zeitschriften. In den letzten Wochen hatte er sich gezielt auf die Prüfungen vorbereitet, weil Hedwig darauf gedrängt hatte. Es wurde nicht nur die Gesundheit des Körpers, sondern auch des Verstandes untersucht, die Einreisewilligen mussten lesen, rechnen und andere Aufgaben vor einer strengen Kommission bestehen. Die Agentur in Linz hatte ihm diesbezüglich bestätigt, was er schon von zwei Familien erfahren hatte, die es wiederum in Briefen ihrer ausgewanderten Söhne und Töchter gelesen hatten: Jeglicher Hinweis auf geistige Schwerfälligkeit konnte als Zurückgebliebenheit eingestuft werden und führte dazu, dass man mit dem nächsten Schiff in die Heimat verfrachtet wurde. Emil wollte die Frau nicht anlügen, fragte sich jedoch, was ihm dienlicher sein würde: Wenn er behauptete, viel gelesen zu haben, oder wenn er bei der Wahrheit blieb? Er entschied sich für Letzteres. Warum lügen?, dachte er, ich kann gut lesen, und das alleine zählt. Schulterzuckend antwortete er: »Ich habe es erst in der letzten Zeit geübt.«
Die Frau nahm ihm das Buch ab, klappte es zu und legte es auf einen mit Zeitungspapier gefüllten Korb, der neben ihr auf dem Boden stand.
»Zähl rückwärts von dreißig bis eins«, forderte sie ihn auf, und er tat es, die ganze Zeit betrachtete sie ihn mit ihrem abwesenden Blick.
»Hast du schon ein bisschen Englisch gelernt?«, fragte sie weiter, und er nickte.
Gemeinsam mit Hedwig hatte Emil die ersten Kapitel des Englischlehrbuches studiert, das ihm Albert geschenkt hatte. Er konnte grüßen, fünf Sätze über seine Person sagen (Hello, my name is Emil Wagner, I am twenty-four years old, I come from Austria, I am a farmer’s son, I learned the profession of a miller), sich verabschieden und nach bestimmten Dingen fragen, wie zum Beispiel nach dem Befinden, der Uhrzeit, einem Geschäft. Er war froh, dass ihn die Frau um keine Kostprobe seiner englischen Kenntnisse bat, denn seine Aussprache war sicherlich miserabel, und vermutlich hätte sie ihn ausgelacht.
Er musste seinen Oberkörper vorbeugen und das Kinn zur Brust senken, damit die Frau seine Haare nach Läusen durchsuchen konnte. Er spürte ihre Finger an seiner Kopfhaut.
»Worum geht es in der Geschichte?«, fragte er zögernd, weil ihm die Stille unangenehm war, und weil er neugierig war.
»Es geht um zwei junge Leute, die sich lieben. Ihre Väter sind stark verfeindet. Sie haben sich wegen eines kleinen Ackerstücks arg zerstritten, teure Prozesse geführt und ihre Familien in bittere Armut gestürzt«, antwortete die Frau.
»Was geschieht mit ihnen?«, fragte Emil neugierig.
»Die zwei Verliebten sehen keinen Ausweg und gehen ins Wasser.«
»Das heißt, sie sterben?«
»Ja, sie sterben«, sagte sie.
»Sie hätten nach Amerika auswandern können«, sagte er.
»Der Autor hat das offensichtlich nicht in Betracht gezogen.«
»Das war dumm von ihm.«
Mit seitwärts geneigtem Kopf sah Emil in wenigen Metern Entfernung auf der linken Seite den alten glatzköpfigen Mann am massiven Schreibtisch sitzen, mittlerweile trug er einen weißen Doktormantel. Er war versunken in seine Zeitung und schnäuzte ab und zu lautstark in ein gemustertes Taschentuch, das er dann wieder zur Seite legte. Vor ihm lagen auf einem weißen Tuch einige medizinische Geräte. Emil kannte nur eines davon, mit einem solchen war ihm vor einigen Jahren die Lunge abgehört worden, als er schwerkrank gewesen war und der Bauer auf Drängen von Franz doch den Doktor geholt hatte. Obwohl ihm mehrmals vom Agenten in Linz, welcher ihm die Schiffsfahrkarte verkauft hatte, versichert worden war, er hätte nichts zu befürchten, er war ja gesund und kräftig, durchzuckte ihn kurz die Angst, der Arzt könnte eine bisher unentdeckte Krankheit bei ihm finden und ihm das nötige Gesundheitszeugnis nicht ausfüllen. Dann müsste er seine Karte an jemanden verkaufen und den Zug zurück in die Heimat nehmen. Wie würde Hedwig ihn empfangen? Glücklich, weil er wieder bei ihr war, oder zutiefst enttäuscht, da ihre gemeinsamen Träume für immer begraben waren?
Die Frau nahm seinen Kopf in beide Hände und drehte ihn auf die andere Seite. Nun sah er die andere Längsseite des Raumes vor sich, er betrachtete die vier hohen Fenster, die mit glitzernden Eiskristallen bedeckt waren. Er fragte sich, ob in der warmen Jahreszeit etwas vor die Scheiben gehängt wurde, damit niemand hereinsehen konnte. Seine Gedanken schweiften ab. Er stellte sich einen warmen Frühlingstag vor, junge hübsche Frauen drängten sich vor den Fensterscheiben und schauten in das Innere des Raumes, sie betrachteten ausgiebig die nackten Männer, lachten, zeigten mit ihren Fingern, spitzten ihre Münder und schickten Küsse. Die Imagination veränderte sich: Die Blicke und Küsse der Frauen galten ausschließlich ihm, weshalb er sich streckte, als er gemessen wurde, besonders aufrecht auf die Waage stieg, ein geheimnisvolles Lächeln aufsetzte. Plötzlich sah er Hedwig mit ihrem großen Bauch abseits stehen, sie sah ihn traurig an. Emil kehrte in die Gegenwart zurück, saß nackt, mit gebeugtem Kopf, auf dem Stuhl vor der Frau, die in seinen Haaren herumwühlte. Er hoffte, sie würde schneller machen, auch weil der nächste Mann mit den Liegestützen fertig war und neben ihnen bereits wartete. Die ganze Situation war ihm mehr als unangenehm, er konnte nur hoffen, dass Hedwig bei der Untersuchung nicht nackt vor einem Mann sitzen musste, während dieser in ihren Haaren herumwühlte. Bei dem Gedanken drehte sich ihm der Magen um. Warum überhaupt mussten sie diese Untersuchungen nackt über sich ergehen lassen?
»Ist deine Frau drüben?«, fragte sie und deutete mit dem Kopf zur Tür, durch die er vor einer halben Stunde eingetreten war. Auf der anderen Seite des Flurs, genau gegenüber, befand sich der Untersuchungsraum für die Frauen.
Emil schüttelte den Kopf. »Sie kommt im Sommer nach. Mit unserem Kind. Sie ist im siebten Monat schwanger.«
»Das hättest du auch noch abwarten können«, sagte die Frau und ließ abrupt von ihm ab. Er stand auf, ohne ihre Aufforderung dazu abzuwarten, er wollte endlich von ihr weg. Sie nahm das Zeitungsblatt, auf dem er gesessen war, an einer Ecke hoch und legte es unter ihren Stuhl. Weil er vor Ärger rot im Gesicht wurde und nicht wollte, dass sie es sah, wandte er sich ab. Was wusste sie schon! Er hätte eben nicht warten können, das war ja das große Problem gewesen.
»Finden Sie Ihr Glück und behalten Sie es«, sagte die Frau.
Der Doktor räusperte sich, stand auf, faltete die Zeitung und winkte ihn zu sich. Er war einen halben Kopf kleiner als Emil, seine Kopfhaut war mit braunen Flecken übersät. Er sah sich die Wirbelsäule an, tastete sie ab, ließ ihn dabei sich nach vorne bücken. Mit Lupe und Licht schaute er in seinen Mund, in seine Nase, in seine Augen. Bevor er die Lunge abhörte, sagte er: »Fünfmal kräftig ein- und ausatmen!«
Nachdem er seinen Stempel und seine Unterschrift auf das Gesundheitszeugnis gesetzt und ihm das Papier ausgehändigt hatte, sagte er: »Ich wünsche Ihnen alles Gute, junger Mann!« Mehr nicht.
Emil starrte das Dokument an, ging zur Bank, auf der seine Kleidung lag, und zog sich eilig an. Als er den Raum verließ, blickte er zurück, er bemerkte, dass die Frau ihm nachschaute, schnell schloss er die Tür.
Er kämpfte sich durch den Flur, unzählige Menschen waren mittlerweile gekommen, um die Untersuchung über sich ergehen zu lassen, Männer und Frauen jeden Alters, kleine und größere Kinder, sie alle wollten nach Übersee, um ihr Glück zu finden und zu behalten. Manche hatten ihr gesamtes Gepäck dabei, weil sie direkt vom Bahnhof zur ärztlichen Station der Reederei gefahren waren, oder weil sie Angst vor Diebstahl hatten und es nicht in der Unterkunft zurücklassen wollten. Die Luft war erfüllt mit Stimmengewirr und Gerüchen, Emil war froh, als er im Freien war. Am bewölkten Himmel blitzte die Sonne hervor, der Wind blies dennoch schneidend kalt. Er presste das Kuvert mit den vollzähligen Papieren an sich und fühlte eine unsägliche Erleichterung.
Im Gasthof, in dem er abgestiegen war, verzehrte er ein üppiges Frühstück, gebratenen Speck, Spiegeleier, dicke Brotscheiben, frisch gebrühten Kaffee. Nach und nach trafen Leute ein, die ebenfalls im Gasthof wohnten, er hatte sie am Abend in der Gaststube sitzen gesehen. Sie hatten wie er die Gesundenuntersuchung hinter sich gebracht oder sich um ein anderes Dokument gekümmert oder gar erst ihre Fahrkarte kaufen müssen. Emil war froh, dass er beim Eintreffen in Bremen bereits im Besitz aller nötigen Papiere gewesen war und nur noch das erforderliche Gesundheitszeugnis gefehlt hatte, welches von der Reederei bescheinigt werden musste und nicht von irgendeinem Arzt in der Heimat ausgestellt werden konnte.
Die Stimmung war gelöst, offensichtlich waren alle bei ihren Erledigungen erfolgreich gewesen. Als ein Mann ein Bier bestellte, taten es ihm die anderen nach, ein zweites Bier folgte, man kam ins Gespräch. Das vorherrschende Thema war die eigenartige Frau, die im Untersuchungsraum der Männer herumgeschwirrt war, die keine Krankenschwesterntracht, dafür aber einen verwelkten Blumenkranz im Haar getragen hatte. Einer erzählte, dass er in das zuständige Büro gegangen war, um sich zu beschweren, aber dort hätte man ihn nur ausgelacht und zurückgeschickt.
»Sie hat meinen Kopf nach Läusen durchsucht, während ich nackt vor ihr sitzen musste!«, sagte der Mann wütend, die anderen pflichteten ihm bei: »Die Sache ist eine Unverschämtheit.«
»Das ist die Behrens. Sie ist stadtbekannt. Heinrich Wiegand, der Generaldirektor des Norddeutschen Lloyd, ist ihr Bruder«, sagte der Wirt, er bemühte sich, den breiten Bremer Dialekt zu vermeiden, um für alle verständlich zu sein. »Sie hat als junge Frau ihren Mann verloren, er war Arzt und hat für die Reederei die Gesundheitszeugnisse der Männer ausgestellt, sie hat bei ihm mitgearbeitet.«
»Was ist passiert?«, fragte eine Frau.
»Drei Brüder aus Preußen haben ihn ermordet«, antwortete der Wirt. »Zwei von ihnen hat er die Zeugnisse verweigert, sie durften nicht an Bord gehen. Der mittlere wollte ohne seine Brüder nicht auswandern. In der Nacht sind die drei in sein Haus eingedrungen. Dr. Behrens musste sich nackt ausziehen, sie spielten mit ihm eine Untersuchung nach. Einer hatte ein Messer dabei. Es soll grauenhaft gewesen sein. Frau Behrens hat man auf einen Stuhl gefesselt und gezwungen zuzusehen.«
»Warum hat er den beiden das Zeugnis verweigert?«, fragte ein anderer.
Der Jüngere sei schwachsinnig gewesen, erzählte der Wirt weiter, bei einer Frau und einem ihrer Kinder stellte Dr. Behrens zudem eine schwere Augenkrankheit, ein Trachom, fest. Die ganze Bande wirkte roh und verwahrlost. Der Arzt war jung, hatte gerade das Medizinstudium beendet und nahm seine Arbeit sehr genau. Er hatte von der Reederei strikte Anweisungen bekommen, die Sache ernst zu nehmen. Erst vor kurzem waren in den Vereinigten Staaten strengere Einwanderungsgesetze, körperliche und geistige Gesundheit betreffend, verabschiedet worden. Im Fall einer Absage schickte man die Leute auf Kosten der Reederei in die Heimat zurück, was diese natürlich vermeiden wollte.
»Was ist mit den Mördern?«, fragte jemand. »Wurden sie geschnappt?«
Der Wirt nickte: »Die zwei Älteren haben vor Gericht den jüngsten Bruder beschuldigt, der aber gar nicht verstanden hat, worum es gegangen ist. Er hat zu allem genickt, gelacht und ja, ja gerufen. Die Richter haben alle drei zum Tode verurteilt, aber der Idiot wurde begnadigt, weil sich ein Priester für ihn eingesetzt hat. Er arbeitet immer noch als Gärtner in einem Kloster, ganz in der Nähe der Stadt. Die Behrens hat ihn einmal besucht, ein Jahr nach dem Prozess. Er hat sie erkannt und zu ihr gesagt: Finden Sie Ihr Glück und behalten Sie es. Das nämlich hat Dr. Behrens zu seinem Bruder gesagt, als er ihm das Gesundheitszeugnis ausgehändigt hat. Er hat das oft zu den Leuten gesagt. Hier in Bremen bekommt man so manches mit, viele — ein Drittel, um genau zu sein — sind in der ersten Zeit in Amerika überglücklich, voller Hochgefühl, scheitern aber dann und kehren noch ärmer als zuvor in die Heimat zurück. Der Idiot steht sabbernd da, zeigt mit dem Finger auf die Frau, schlägt sich auf die Schenkel und lacht immer wieder: Finden Sie Ihr Glück und behalten Sie es! Er hat sich nicht beruhigt. Seine Brüder haben den Satz in der Mordnacht mehrmals zum Arzt gesagt.«
In der Gaststube war es still, Emil lief ein Schauer über den Rücken. Der Wirt fuhr mit seiner Erzählung fort. Die junge Arztgattin erholte sich nicht und wurde im Laufe der Jahre seltsam, tat aber niemandem etwas zuleide. Sie wohnte im Haus ihres Bruders, war den ganzen Tag auf den Beinen, trieb sich im Hafen herum, meistens im Untersuchungsraum der Männer. Alle wussten über sie Bescheid und duldeten sie, auf Anweisung von Direktor Wiegand. Manche machten sich sogar einen Spaß aus der Empörung der Männer.
»Du auch?«, fragte der Mann, der sich zu Beginn lautstark beschwert hatte. »Du hättest die Geschichte gestern Nacht erzählen können.«
Der Wirt lachte und nickte. Allmählich, zuerst leise, dann zunehmend lauter, kehrten die Gespräche an die Tische zurück.
Ein Ehepaar und ein junger Bursche betraten die Gaststube und kamen zu Emil an den Tisch. Er hatte sie im Zug kennengelernt, sie waren in Straubing eingestiegen und hatten sich kurzerhand zu ihm gesetzt, die ganze Fahrt über unterhielten sie sich, wobei die meiste Zeit das Ehepaar, Hubert und Maria, redete. Sie hatten erst vor kurzem geheiratet und waren laute fröhliche Menschen; Franz, Marias jüngerer Bruder, war durch eine Hasenscharte verunstaltet und vermutlich deshalb sehr schüchtern, er machte kaum den Mund auf, dafür war er beim Tarock unschlagbar. Sie stammten von kleinen Bauern ab, die Familien waren kinderreich, und nur ein Nachkomme konnte den Hof weiterführen, die anderen mussten sehen, wo sie blieben. Möglichkeiten, sich eine eigene Landwirtschaft aufzubauen, gab es in der Heimat kaum, in Übersee jedoch zur Genüge. Die drei wollten nach Wisconsin, dort gab es günstig Farmland zu kaufen, über eine katholische Organisation hatte Hubert bereits einen Antrag gestellt. Emil wurde nach seinen Plänen ausgefragt. Er erzählte, dass er gelernter Müller war und ebenfalls nach Wisconsin, nach Milwaukee ging, um in einer Getreidemühle zu arbeiten, er wurde erwartet und sollte eine leitende Position einnehmen. Der Besitzer der Mühle stammte ursprünglich aus Böhmen und war ein alter Bekannter seines Lehrherrn, sie kannten sich aus der gemeinsamen Zeit in der k. u. k. Kriegsmarine. Dieser hatte das Ganze eingefädelt, wofür Emil ihm sehr dankbar war.
»Sein Wunsch war, dass ich so schnell wie möglich komme. Ich hätte lieber noch ein halbes Jahr oder auch ein Jahr gewartet. Aber dann wäre die Stelle nicht mehr frei gewesen«, erzählte Emil. »Meine Frau ist nämlich hochschwanger. Wir wären gerne zusammen gereist. Sie kommt mit dem Kind nach.«
Die drei gratulierten ihm, Hubert holte eine Schnapsflasche aus seinem Koffer, und jeder trank einen Schluck auf Emils ungeborenes Kind. Man verstand sich gut, und als man in Bremen aus dem Zug stieg, beschloss man, gemeinsam einen Gasthof zu suchen. Bis in die Nacht hinein saßen sie in der Gaststube, für eine kurze Weile setzte sich ein Leichtmatrose der Reederei zu ihnen und erzählte von seiner Arbeit, er empfahl ihnen, die Elbe zu nehmen, sie würde in drei Tagen auslaufen. Als Emil todmüde ins Bett fiel, hatte er das Gefühl, Freunde gefunden zu haben.
Hubert zeigte Emil hocherfreut die drei Fahrkarten.
»Es war ein Kinderspiel, noch Karten zu bekommen«, erzählte er. »Das Schiff hat Platz für über eintausend Passagiere, dieses Mal sind nur zweihundert an Bord, nicht viele wollen im Winter über den Ozean. Dafür werden hundertfünfzig Tonnen Reis und an die hundert Tonnen eiserne Radreifen geladen.«
Sie beschlossen, sich Bremen ein bisschen anzusehen. Sie schlenderten durch die Stadt, und weil der kalte Wind zu ungemütlich war, setzten sie sich in ein Kaffeehaus, am Abend wurde es wieder spät in einer Kneipe.
Am nächsten Tag zogen sie wieder gemeinsam los, die Frau wollte noch ein Paar Schuhe kaufen, Hubert ein paar gute Zigarren.
»Hilft gegen die Seekrankheit«, sagte er.
Maria suchte stundenlang nach etwas Passendem, bis sie schließlich eine Bluse und keine Schuhe kaufte, und Emil dachte: Wie kompliziert die Frauen sind. In einem Wirtshaus aßen sie ein typisches Bremer Gericht, Grünkohl mit Pinkel, und tranken wieder zu viel Bier. Sie beschlossen, in Übersee in Kontakt zu bleiben, und schrieben sich gegenseitig ihre Adressen auf, Emil kannte die der Mühle auswendig, Maria notierte die Adresse vom Pfarrer des kleinen Ortes in Wisconsin, in dem sie erwartet wurden. Als sie auf die Straße traten, entdeckten sie ein Fotostudio und beschlossen, Bilder machen zu lassen. Emil sträubte sich, er wollte dafür kein Geld ausgeben, er war bei seiner Hochzeit vor eineinhalb Jahren — zum ersten Mal in seinem Leben — fotografiert worden, mit und ohne Hedwig. Es kam ihm unsinnig vor, nach so kurzer Zeit wieder Fotografien von sich anfertigen zu lassen. Er wollte das frühestens in fünf Jahren tun, mit Hedwig und seinen Kindern — falls es denn mehrere sein sollten — an seiner Seite, im Hintergrund sein Haus in Milwaukee, ein Foto würde er in seiner Stube aufhängen, ein Foto an die Familie Brugger schicken, ein drittes an seinen Vater, um ihn zu ärgern.
»Komm schon, es sind die letzten in der Heimat«, sagte Maria.
Er wollte erwidern, dass Bremen nicht seine Heimat war, doch sie griff bereits nach seiner Hand und zog ihn über die Schwelle. Sie lachten die ganze Zeit, der Fotograf bestand auf Ernsthaftigkeit. Nachdem Einzelporträts gemacht worden waren, ließ sich das Ehepaar zu zweit ablichten, zum Schluss schlug der Fotograf vor, sie alle zusammen zu fotografieren. Emil stand zwischen Maria und ihrem Bruder, sie war ausgelassen, legte nicht nur eine Hand auf die Schulter ihres Mannes, sondern auch auf seine. Er bemerkte, dass sie nach Rosenöl roch.
Mit einem Mal wünschte Emil sich sehnlichst, es wäre Hedwig, die neben ihm stand, ihn anlachte, ihn berührte, er spürte eine unendliche Müdigkeit und Traurigkeit in sich. Was tat er hier mit diesen fremden Menschen, warum gab er so viel Geld für Blödsinnigkeiten aus, warum trank er seit Tagen so viel Bier? Und warum um Gottes willen war er nicht bei seiner Frau geblieben, um ihr in der schweren Stunde beizustehen? Er hätte in Milwaukee oder sonst wo mit Sicherheit eine andere Arbeit gefunden, warum hatte er sich nur derart unter Druck gesetzt? Es fühlte sich alles falsch an. Es war noch nicht zu spät, er konnte immer noch umkehren, die Fahrkarte würde die Reederei sicherlich zurücknehmen, wenn auch nicht zum vollen Preis, aber das war ihm gleichgültig. Der Fotograf, mit einer Zigarette im Mund, scharwenzelte um sie herum, drehte und zog an ihnen, um sie in die gewünschte Position zu bringen, blies ihnen Rauch ins Gesicht. Schwindel erfasste ihn, am liebsten hätte er auf der Stelle das Studio verlassen, um sich am Bahnhof nach dem nächsten Zug in Richtung Süden zu erkundigen. Der Apparat blitzte auf, seine Augen schmerzten. Sie bezahlten den Mann und schrieben die Postanschrift der Eltern auf — Emil die der Hofmühle —, dorthin sollten die Bilder nach Fertigstellung geschickt werden. Er wankte ins Freie, die kalte Luft tat ihm gut.
»Du hast zu viel getrunken!«, lachte Hubert.
Maria entschied, sie wolle doch ein Paar Schuhe kaufen. Emil verabschiedete sich, indem er die Hand hob, und ging zum Gasthof zurück. In seinem Zimmer angekommen, schlief er tief und fest den ganzen Nachmittag. Als er aufwachte, war es bereits dunkel, er fühlte sich wieder zuversichtlich, die Bedenken waren wie weggewischt. Die Entscheidung, nicht auf diese gute Stellung in Übersee zu verzichten, war richtig gewesen, er wollte hart arbeiten, um sich des Vertrauens, das ihm im Vorhinein geschenkt worden war, würdig zu erweisen, er würde Joseph Zeman nicht enttäuschen. Wenn Hedwig mit dem Kind ankam, hätte er bereits ein großes helles Heim für seine Familie gefunden und eingerichtet, er freute sich auf ihren staunenden Blick, wenn sie durch die Räume ging. Er setzte sich an den kleinen wackligen Tisch und schrieb Hedwig einen Brief, er erzählte von den drei Leuten, die er im Zug kennengelernt hatte und mit denen er seine Zeit in Bremen verbrachte. Wir haben unsere Adressen getauscht, schrieb er und weiter: Ich bin mir sicher, du wirst sie mögen. Es sind lustige Leute. Maria und du, ihr werdet bestimmt Freundinnen werden. Er steckte den Brief in ein Kuvert, überbrachte es dem Fotografen und bat, es den Fotos beizulegen, die an seine Frau Hedwig geschickt werden sollten.
Maria zeigte ihm beim Abendessen ihre neuen Schuhe, sie waren aus weichem Leder und hatten einen hohen Absatz, sie gefielen ihm, er nahm sich vor, in Milwaukee für Hedwig ähnliche zu kaufen. Er schämte sich, dass er vor wenigen Stunden noch gedacht hatte: Was habe ich mit diesen Fremden zu schaffen?
Feierstimmung und Melancholie kamen gleichzeitig auf: Es war der letzte Abend vor der Reise über den weiten Ozean. Am frühen Morgen hatten sie die Geestebahn nach Bremerhaven zu nehmen, wo gegen drei Uhr nachmittags die Elbe mit Kurs auf New York City ablegte. Emil hielt sich beim Essen und Trinken zurück, er wollte einen klaren Kopf haben, wenn der Schnelldampfer ins offene Meer hinausglitt, Albert hatte ihm diesen Rat gegeben, die Seekrankheit würde ihn dann nicht mit voller Wucht erwischen.
Staunend betrachteten sie die Elbe. Vom Leichtmatrosen, der sich am ersten Abend im Gasthof zu ihnen gesellt hatte, hatten sie einige technische Einzelheiten erfahren. Ihre Länge betrug 127 Meter, der Propeller bestand aus Manganbronze, sie war sicher, wendig, schnell, konnte eine Geschwindigkeit von sechzehn Knoten erreichen. Kajüten erster und zweiter Klasse waren vorhanden, und die Zwischendecksunterkünfte waren geräumig und sauber, die Zeit der katastrophalen Zustände auf Auswandererschiffen war zum Glück schon länger vorbei.
Vor der Rampe, die auf das Schiffsdeck führte, standen auf der linken Seite zwei Ärzte, einer davon war der kahlköpfige, unwillkürlich wandte Emil sich um und hielt nach der Behrens Ausschau. Tatsächlich stand sie in einigen Metern Entfernung inmitten des Getümmels, neben ihr ein elegant gekleidetes Paar, der Mann schien alles mit Argusaugen zu beobachten. Jeder Passagier wurde mit einem schnellen Blick von oben nach unten begutachtet, die Augen wurden noch einmal untersucht, erst dann durfte er den Kontrolleuren auf der rechten Seite die Fahrkarte zeigen.
Und endlich war auch diese letzte Hürde geschafft, Emil ging langsam die Rampe hoch, in der rechten Hand seinen Koffer, vor ihm seine neuen Freunde. Er blickte auf das Wasser hinunter, das schwarz und träge gegen die Kaimauer schwappte, es wirkte bedrohlich auf ihn. Seine Halbbrüder hatten ihn mehrmals — unter dem Vorwand, ihn waschen zu wollen, da er furchtbar stänke — mit Gewalt in den gefüllten Brunnen gesetzt und seinen Kopf so lange untergetaucht, bis er glaubte, sterben zu müssen. Einmal, er war bereits bewusstlos, kam in letzter Sekunde sein Vater dazu und zog ihn heraus; während er würgend ins Leben zurückkehrte, hörte er die Schläge, die seine Brüder bekamen, und das Fluchen seines Vater: »Wollt ihr die Drecksarbeit beim Vieh machen?« Erst im Haus der Familie Brugger freundete er sich mit dem nassen Element an. Hedwig bestand darauf, dass er einmal in der Woche badete, und er begann es allmählich zu genießen, im warmen Wasser zu sitzen. Albert brachte ihm das Schwimmen bei, es dauerte nicht lange, bis er einige wenige Tempi schaffte, und die ganze Sache machte ihm sogar Freude.
Schnell stieg Emil hinunter in das Zwischendeck und suchte die Unterkünfte der Männer, er wollte nicht darauf warten, bis die besten Plätze belegt waren. Er entschied sich für ein Bett in der Nähe der Treppe, wo es zwar kühler, jedoch im Falle einer Übelkeit einfacher war, an Deck zu gelangen. Er legte seinen Koffer auf das obere Bett, schrieb seinen Namen und seine Passagiernummer auf die Karte, die am Pfosten befestigt war, und eilte zurück an Deck, wo es mittlerweile laut und hektisch zuging. Ein ohrenbetäubendes Signal ertönte, das Schiff legte ab, der Kai mit den winkenden Menschen wurde winzig, während die Elbe aufs offene Meer hinausfuhr. Emil empfand den Augenblick als erhebend, er fühlte eine unbändige Freude in sich. In einer Woche betrat er amerikanischen Boden und sein neues Leben begann! Neben ihm lagen sich seine Freunde lachend und weinend in den Armen und umarmten auch ihn.
Als es kalt wurde, verließen die Leute das Deck und suchten ihre Unterkünfte auf, nachdem jeder ein Bett gefunden hatte und Ruhe eingekehrt war, lagen die meisten still da und hingen ihren Gedanken nach. Aus dem Frauenbereich drang Kinderweinen herüber. Emil holte die Fotos aus seinem Koffer, die Hedwig sorgfältig in dickes Papier eingeschlagen hatte, damit sie nicht einrissen oder knickten. Er hatte ihr versprochen, in Milwaukee edle Holzrahmen dafür zu kaufen. Auf einem Bild waren nur ihr Kopf und ihre rechte Schulter zu sehen, ihre großen dunklen Augen blickten ihn schelmisch an, ihre vollen Lippen lächelten nur leicht, da der Fotograf nicht gewollt hatte, dass sie ihre Zähne zeigte. Ihre keck nach vor gestreckte Schulter war nackt, da sie kurzerhand ihr Kleid etwas hinuntergeschoben hatte, weshalb das Porträt wirkte, als wäre sie beim Fotografieren gänzlich nackt gewesen. Von ihrer verstorbenen Mutter, die in einem Wiener Theater gearbeitet hatte, hatte sie das Posieren gelernt. Auf einer anderen Fotografie, es war ihr Hochzeitsbild, saß Emil auf einem Fauteuil und Hedwig neben ihm auf der Lehne. Sie hatte die Beine übereinandergeschlagen, sodass ihre Schuhe und ihre schlanken Fesseln zu sehen waren, ihren Arm hatte sie um seine Schulter gelegt, darunter standen in Schnörkelschrift ihre Namen. Sie hatte sich geweigert, steif nebeneinander stehend abgelichtet zu werden, wie es bei Brautpaaren üblich war. Das dritte Bild zeigte Emil und Hedwig gemeinsam mit dem Ehepaar Brugger und den Söhnen Carl, Eugen und Gustav vor der Hofmühle. Im Vordergrund saßen auf zwei Stühlen sein Arbeitgeber — der ihm mehr ein väterlicher Freund gewesen war —, rechts neben ihm seine Frau, sie hatte das jüngste Kind, Gustav, auf dem Schoß, der damals erst drei Jahre alt gewesen war, er schaute mit finsterem Blick und Schmollmund in die Kamera. Neben Anna stand Carl, er lehnte sich leicht an die Schulter der Mutter. Neben Albert stand Eugen, Carls Zwillingsbruder, er blickte ebenso finster drein wie der kleine Gustav, er hatte zwischen Hedwig und Emil stehen wollen, doch es war ihm verboten worden. Hinter Albert stand Hedwig, die Ähnlichkeit der beiden stach ins Auge, hinter Anna stand er, Emil. Hedwig und er waren die Einzigen, die einander ansahen, sie hatte nach seiner Hand gegriffen, woraufhin er sich ihr zugewandt hatte, im Nachhinein war er sich sicher gewesen, dass sie es mit Absicht gemacht hatte. Sie war es, die Regie führen wollte: vorne die fünfköpfige Familie, die ernst in die Kamera schaute, dahinter das Liebespaar, das nur Augen füreinander hatte. Er fuhr sanft mit dem Zeigefinger über ihr Gesicht und auch über das der drei Buben, er hatte sie in den letzten Jahren liebgewonnen.
Jemand rüttelte ihn an der Schulter, er schreckte hoch.
»Es gibt Abendessen, du Schlafmütze«, sagte Hubert.
Er musste kurz eingeschlafen sein, die Fotos hatte er an seine Brust gepresst, er verstaute sie wieder sorgfältig im Koffer. Obwohl er großen Hunger verspürte — er hatte den ganzen Tag kaum etwas zu sich genommen —, verzichtete er auf das Essen, die anderen zogen alleine los. Emil schlüpfte in seinen Mantel und begab sich an Deck, es war eiskalt, einige Menschen waren über die Reling gebeugt, stöhnten, übergaben sich, andere huschten, blass im Gesicht und gekrümmt, herum. Emil blickte lange auf das schwarze Meer hinaus, später leisteten ihm seine Freunde Gesellschaft. Sie tarockierten im Speisesaal, ein Mann begann Ziehharmonika zu spielen, manche Paare begannen zu tanzen, um Mitternacht fielen die Letzten ins Bett. Die Aufregung ließ Emil nicht einschlafen. Es war für ihn unfassbar, dass er sich tatsächlich in einem Schiffsbauch befand, der ihn nach Amerika brachte, in das paradiesische Land, in dem man mit der Arbeit seiner Hände, seines Kopfes wohlhabend werden konnte. Er musste innerlich lachen, seit seiner Abreise vor einer Woche wechselte seine Stimmung beinahe stündlich. Mit dem Gedanken an Hedwigs dicken Bauch und ihre großen Brüste fiel er schließlich in einen leichten Schlaf.
Ein dumpfer Knall weckte ihn, er richtete sich auf und beugte sich zu seinem unteren Bettnachbarn hinunter.
»Was war das?«, fragte er.
»Schlaf weiter«, knurrte dieser. Emil lauschte, es war wieder still, er drehte sich zur Seite.
Wenige Minuten darauf waren Rufe und eilige Schritte vom Deck zu hören, die immer lauter wurden, er sprang aus dem Bett, schlüpfte in seine Hose und lief barfuß die steile Treppe hoch, einige folgten ihm. Auf Deck herrschte ein unglaublicher Tumult, schreiend liefen Leute — manche von ihnen halbnackt — in der Dunkelheit herum. Panik erfasste Emil.
»Was ist passiert?«, fragte er einige, doch sie schüttelten nur mit angstgeweiteten Augen den Kopf, endlich fand er im Gedränge einen Matrosen, der ihm antwortete: »Wir sind seitlich gerammt worden.«
»Und was bedeutet das?«, fragte er weiter gegen den Lärm anschreiend.
»Was das bedeutet?«, schrie der Matrose zurück. »Das bedeutet, das Schiff sinkt!«
Emil starrte ihn fassungslos an.
»Wie viel Zeit bleibt noch, um zu packen und in die Rettungsboote zu steigen?«, fragte ein älterer Mann neben ihm, er packte den Matrosen am Oberarm. Dieser schaute den Fragenden ungläubig an, riss sich los und eilte weiter. Emil zwang sich zur Ruhe, ich muss Hubert und die anderen wecken, sagte er zu sich, und meine Dokumente holen, die Dokumente brauche ich am dringendsten. Und die Fotos. Einen Anzug kann ich mir in Milwaukee kaufen.
Er setzte sich in Bewegung und merkte, dass es völlig aussichtslos war, zu versuchen, in das Zwischendeck zu gelangen, die Zugänge waren mit schreienden, sich hervorkämpfenden Menschen verstopft, es wurde getreten, geschlagen, gebrüllt, geweint. Ihm wurde übel, er taumelte und musste sich festhalten. Dass Hubert, seine Frau und sein Schwager mittlerweile wach waren und heil an Deck kamen, konnte er nur hoffen.
»Frauen und Kinder nach Steuerbord in die Rettungsboote!«, rief jemand. Emil kämpfte sich nach Steuerbord und sah Matrosen, die verzweifelt bemüht waren, die hölzernen Rettungsboote klarzumachen.
»Die Taue sind gefroren!«, hörte er mehrmals jemanden schreien.
Das Schiff begann sich ächzend zu senken, die Menschen schrien auf. Wenn die Rettungsboote auf der einen Seite für Frauen und Kinder vorgesehen waren, dann durften vermutlich die Männer in die Rettungsboote auf der anderen Seite einsteigen, er kämpfte sich nach Backbord. Auch hier bemühten sich einige Männer, ein Rettungsboot klarzumachen, mit dem Unterschied, dass es Passagiere und keine Besatzungsmitglieder waren, sie hatten keinerlei Erfahrung, Emil half mit und erkannte schnell, dass es zwecklos war. Wieder senkte sich das Schiff ab und neigte sich dabei leicht nach Steuerbord, dieses Mal ohne jedes Geräusch, als hätte es vor, sich still und leise zu verabschieden, ein chorartiger Aufschrei stieg in die Luft, viele stürzten zu Boden und rutschten meterweit über das vereiste Deck. Emil sah den Kapitän auf der Brücke stehen und einem Offizier Anweisungen geben, der daraufhin wieder zu den Rettungsbooten auf der Steuerbordseite zurückeilte. Neben der Brücke standen zwei Matrosen, sie schossen Leuchtraketen ab, die zischend und rot in den Himmel aufstiegen. Emil schöpfte Hoffnung, sicherlich gab auch der Funker sein Bestes, um auf das sinkende Schiff aufmerksam zu machen, ein Schiff, das sich in der Nähe befand, würde kommen und sie retten. Bis dahin war es jedoch unerlässlich, die Menschen zu beruhigen und in die Rettungsboote zu setzen und, vor allem, diese ins Wasser zu bekommen! Warum machte das die Besatzung nicht, warum lief alles derart tumultartig und chaotisch ab? Er erkannte, dass es ohne Erwärmung mittels einer Fackel aussichtslos war, die gefrorenen Taue zu lösen, dafür jedoch keine Zeit blieb, das Schiff senkte sich mit einer unglaublichen Geschwindigkeit. Er war der Meinung gewesen, ein Schiffsuntergang, vor allem wenn es sich um einen riesigen Dampfer handelte, dauerte viele Stunden lang, und dass es in dieser Zeit der Besatzung möglich war, sich um alles ordnungsgemäß zu kümmern, den Leuten Schwimmgürtel anzulegen, sie in die Rettungsboote einsteigen zu lassen, diese zu fieren; während sich in der Zwischenzeit mehrere zu Hilfe kommende Schiffe um den Unglücksort versammelten, um die Passagiere an Bord zu nehmen.
Eine Axt war vonnöten, um die Taue zu kappen. Emil lief wieder nach Steuerbord und suchte den Offizier, den er beim Kapitän gesehen hatte, als er ihn fand, drückte dieser ihm einen Rettungsgürtel in die Hand, er wirkte, als wäre er in Trance.
»Ich brauche eine Axt!«, schrie Emil.
»Ziehen Sie das an!«, sagte der Mann und wankte weiter.
Mittlerweile waren die Menschen wie von Sinnen, sie klagten und schrien, verloren das Gleichgewicht, klammerten sich verzweifelt an Gegenständen fest, Kinder wurden umgerannt und verletzt, eine sehr junge Frau, fast noch ein Mädchen, saß mit ihrem Baby am Boden und weinte. Er band den Gürtel um und sah, dass man in Begriff war, ein Rettungsboot ins Wasser zu lassen, es war zur Hälfte mit Frauen und Kindern gefüllt. Er zog die junge Mutter hoch und bahnte sich mit ihr einen Weg durch die Menge, ein Offizier, der in der Mitte des Bootes stand, reichte der Frau die Hand und half ihr in das Boot, dann streckte er die Hand nach Emil aus.
»Kommen Sie!«, rief er. Emil schüttelte den Kopf. Auch die Frau rief: »Machen Sie schnell, kommen Sie!« Er wandte sich um, viele Frauen standen wie gelähmt hinter ihm und rührten sich nicht, niemand war an ihrer Seite, der sie gezwungen hätte einzusteigen oder ihn daran gehindert hätte, die zwei Matrosen, welche an beiden Seiten die Seile hielten, schienen ihm überfordert und hilflos. Einen kurzen Augenblick lang überlegte er, hinüberzuspringen, doch er konnte es mit seinem Gewissen nicht vereinbaren, eine derart verachtenswerte Tat hätte er sich nie verziehen. Er packte eine Frau, die neben ihm stand, und half ihr in das Boot, wie auch drei Mädchen, die offensichtlich Schwestern waren. Aus den Augenwinkeln sah er, dass die Taue eines zweiten Rettungsbootes erfolgreich gekappt worden waren, er atmete auf und schöpfte Hoffnung, dass eines nach dem anderen klargemacht werden konnte.
Er half vier weiteren Frauen, das Boot zu besteigen, bevor es von den beiden Matrosen die wenig verbliebenen Meter hinabgelassen wurde. Da sich gleichzeitig das Schiff stark absenkte, kam es ruckartig auf und schlug auf der Stelle um, sämtliche Insassen fielen ins Wasser, Emil und die Umstehenden schrien auf. Er kletterte über die Reling, ging in die Knie, klammerte sich mit der einen Hand fest und streckte die andere den Leuten hin. Die beiden Matrosen taten es ihm nach, es gelang ihnen, einige an Bord zu ziehen, was durch die nassen schweren Kleider der Frauen erschwert wurde. Drei Frauen klammerten sich weiterhin am umgedrehten Rettungsboot fest, das sich vom sinkenden Schiff entfernte. Mittlerweile stand die Steuerbordseite bereits ein paar Zentimeter unter Wasser, und zum ersten Mal kam Emil der Gedanke, dass die Sache für ihn schlecht ausgehen könnte, Todesangst ergriff ihn.
Nachdem er der letzten Frau geholfen hatte, über die Reling zu steigen, stand er bis zu den Knien im Wasser. Er sah, dass sich das zweite Rettungsboot vom Schiff fortbewegte und die Frauen, die sich an das gekenterte Boot klammerten, den Leuten darin zuriefen: »Hierher!« Wieder schöpfte er ein wenig Hoffnung, er durfte nicht aufgeben, er durfte es einfach nicht, er musste an Hedwig und sein Kind denken und es wagen. Er wandte sich um, hinter ihm war nur noch Verwüstung und Verzweiflung, niemand mehr, der versuchte, ein Boot klarzumachen, Leuchtraketen in den Himmel zu schießen, der Kapitän stand starr und bleich auf der Brücke. Seitdem er das Zwischendeck verlassen hatte, war nicht viel Zeit vergangen.
Emil atmete tief durch, ließ sich kurzentschlossen ins eiskalte Wasser sinken und stieß sich von der Reling ab. Bevor das andere Boot dort ankam, musste er beim gekenterten Boot sein, mit kräftigen Zügen entfernte er sich vom Schiff. Als er sich umdrehte, sah er das sinkende Schiff längsseitig vor sich, es gab ein schreckliches Bild ab. Der Bug mit dem Promenadendeck verschwand vor seinen Augen unter Wasser, das Heck ragte noch hervor, auf ihm drängten sich unzählige Menschen, die zwei Schlote und vier Masten ragten wie Mahnmale in die Höhe, weitere unzählige Menschen trieben hilfeschreiend im Wasser. Er schwamm weiter, die Kälte war unerträglich und machte ihn müde. Nicht weit von ihm entdeckte er den Holzdeckel einer Truhe, an dem sich jemand festklammerte, er schwamm darauf zu, mit einer Art Schwimmhilfe war es sicherlich um einiges leichter, zum Rettungsboot zu gelangen. Die Leiche eines etwa fünfzehnjährigen Jungen, steif und blaugefroren, löste sich in dem Augenblick vom Brett, als er es erreichte, und versank in der Tiefe.
Emil brachte seine letzte Kraft auf, um sich mit dem Oberkörper auf das Holz zu hieven, mit beiden Händen umklammerte er die Kante, mit den Beinen begann er zu strampeln. Er hörte die schwächer werdende Frauenstimme immer wieder rufen: »Hier sind wir!«, es kam von links, und vor ihm bewegte sich das Licht des anderen Rettungsbootes in der Dunkelheit, es sah aus, als würde es tanzen.