Die Nacht wollte kein Ende nehmen.
Die Männer lagen dichtgedrängt, um sich gegenseitig zu wärmen, sie hatten vom Zugführer aus reiner Schikane die offenen Unterstände zugewiesen bekommen. Carl stand stündlich auf und ging einige Schritte, er hatte Angst um seine Finger und seine Zehen, weshalb er sie ständig bewegte, auch die Ohren und die Nase rieb er ohne Unterlass. Mit Leo — er war vor dem Krieg Volksschullehrer gewesen — wechselte er sich ab, immer wieder die Kameraden zu wecken, damit sie Arme und Beine bewegten. Was Erfrierungen betraf, war Carl panisch. Selbst wenn seine Gruppe in einer Baracke untergebracht war, in der sich ein notdürftig beheizter Ofen befand, oder sie in einer Kaverne Feuer machen durften, gab er sich nie bedenkenlos dem Schlaf hin und rüttelte die Männer hin und wieder wach, weil er wollte, dass sie ihre Gliedmaßen bewegten, und vor allem um sicherzugehen, dass sie noch am Leben waren. So mancher wurde darüber fuchsteufelswild.
Im letzten Winter hatte Carl auf dem Monte Cimone furchtbare Erfrierungen gesehen, die Verstümmelten mit den amputierten Gliedmaßen, der amputierten Nase, Ohren, verfolgten ihn in seinen Albträumen. Am öftesten kam ihm Bert in den Sinn, da er in seiner Gruppe gewesen war und sie Freundschaft geschlossen hatten. Dem Bäckermeister aus dem Salzkammergut — er war um die vierzig, hatte Frau und fünf Kinder — erfroren bei einem Patrouillengang die Finger, da der heftige Wind seine Handschuhe über den Abgrund fortgeweht und er sich zu allem Unglück auch noch verirrt hatte, erst nach Stunden war er in die Stellung zurückgekehrt. Die Temperatur war nicht besonders niedrig, etwa zwei bis drei Grad unter Null, aber der Wind war stets das Schlimmste. Innerhalb der nächsten Tagen verfärbten sich Berts Finger blauschwarz, und sie brachten ihn zur Sanitätsstation, die sich in einer Barackensiedlung — ursprünglich eine der Italiener — westlich von der Stellung befand. Carl bekam die Mitteilung, dass er nach Bozen, in ein Lazarett, transportiert werden sollte, wo ihm, falls keine Besserung eingetreten war, die Finger oder sogar die Hände amputiert werden mussten, bevor es in die Heimat ging. Er besuchte ihn, um sich zu verabschieden. Verlegen stand er neben der Pritsche, richtete die Grüße der anderen aus und erzählte, was in den letzten Tagen vor sich gegangen war, es war das Übliche, Ausschau halten nach Bewegungen der Italiener, Kälte, Wind, Nässe, kaum Schlaf, kleine Essensrationen.
»Du darfst nach Hause«, sagte er und nickte ihm aufmunternd zu, obwohl ihm ein Kloß im Hals steckte.
»Wie soll ich ohne Hände meinen Beruf ausüben? Kannst du mir das sagen? Wie soll ich meine Familie ernähren?«, fragte Bert.
Carl wusste nicht, was er ihm antworten sollte. »Vielleicht geht ja alles gut«, erwiderte er schließlich.
»Fühlt sich nicht so an«, sagte Bert und holte die Arme unter der Decke hervor, er streckte ihm die verbundenen Hände entgegen, der schmutzige Verband sah aus, als trüge er dicke Fäustlinge. Carl stockte der Atem, von seinem Bruder Gustav wusste er, dass Hygiene das Wichtigste bei Wunden war, ganz gleich welcher Art.
»Wann wurde das zum letzten Mal gewechselt?«, fragte er.
»Wurde es noch gar nicht«, sagte Bert.
Am anderen Ende des Raumes rief ein Mann: »Haltets Maul! Es gibt Leute, die schlafen wollen.«
Carl fand den Sanitäter vor der Baracke, er spendierte ihm eine Zigarette, sie rauchten gemeinsam, dann, als er es wagte, den verdreckten Verband zu kritisieren, sah der Mann für einen Augenblick aus, als würde er auf ihn losgehen wollen.
»Wenn du stänkern willst, kannst gehen«, sagte er.
Carl bestand darauf, dass er den Verband auf der Stelle wechselte, er wurde stehengelassen, wütend marschierte er dem Mann hinterher und forderte ihn auf, ihm eine saubere Bandage auszuhändigen. Da kein Stuhl aufzutreiben war, hockte er auf den Knien neben der Pritsche und entfernte den alten Verband.
»Das musst du doch nicht tun«, sagte Bert.
Sorgfältig legte er einen neuen an, die Finger waren geschwollen, blauschwarz und an manchen Stellen offen, er wusste, dass sie nicht zu retten waren.
Als er die schmalen Pfade zur Stellung hochging, fühlte er sich hilflos und elend. Lasst uns doch alle die Waffen niederlegen und nach Hause gehen, dachte er. Am Abend — er saß mit einigen Männern zusammen, sie teilten sich eine Schnapsflasche — sprach er seinen Gedanken aus.
»Wer weiß, wie lange das Ganze dauern würde, wenn die Oberen hinter dem Schreibtisch hervorkommen und den Krieg zu Ende führen müssten«, sagte er.
Ein Leutnant war schockiert, es wäre demoralisierend für die Leute, so etwas laut zu sagen, schnauzte er Carl an, er solle das auf der Stelle unterlassen, es wäre ihre heilige Vaterlandspflicht, die Grenze zu Italien zu verteidigen, koste es, was es wolle.
»Sag so etwas nie wieder vor den anderen«, sagte in der Nacht sein Freund Leo zu ihm, »die zögern nicht lange und stellen dich vor ein Kriegsgericht.«
Nicht nur die Erfrierungen waren schlimm. Bei manchen begannen aufgrund der permanent feuchten Füße in den nassen Stiefeln regelrecht die Zehen zu schimmeln. Das erste Mal sah Carl einen solch verfaulten Fuß im ersten Kriegswinter bei einem jungen Mann aus dem Pongau. Das 3. Bataillon des Infanterieregiments Nr. 59 — die Rainer, wie sie allgemein genannt wurden — kämpfte noch an der Ostfront, sie lagen in Stellung in dem kleinen niederschlesischen Ort Janowice, der sich im Nirgendwo zwischen Krakau und Ostrava befand. Der Mann, schüchtern und pflichtbewusst, wurde immer ruhiger, eines Morgens blieb er einfach liegen und wollte nicht sagen, was los war, er wirkte beschämt.
»Du sagst mir jetzt, wo der Schuh drückt«, sagte Carl bestimmt, »eher gehe ich nicht weg.«
»Da, wo der Schuh drückt«, antwortete der Mann und zeigte dem entsetzten Carl seine Füße, einen Monat darauf starb er im Militärhospital an Blutvergiftung. Carl wurde nicht müde, vor den Männern zu betonen, dass Scham fehl am Platz sei, und bestand darauf, dass jeder seine Socken so oft wie möglich wechselte und die Füße mit Hirschtalg einschmierte. Seine Männer machten sich über ihn lustig, indem sie ihm ihre Füße hinstreckten und fragten, ob er daran riechen wolle.
Wie die Fliegen starben die Männer rings um Carl, zuerst in den unendlichen Weiten Galiziens und Schlesiens, dann in diesen trostlosen Gebirgszügen im Norden Italiens. Wenn sie nicht erfroren, abstürzten oder von einer Lawine in den Tod gerissen wurden, erkrankten sie schwer an Lungenentzündung, an Bauchtyphus, oder aber sie wurden von Schrapnells, Sprenggranaten, Handgranaten im Artillerie- oder Gewehrfeuer zerfetzt, und wenn es doch nicht ihr Ende gewesen war, fanden sie es in den Sanitätsbaracken, in den Lazaretten, dort ging es rau zu, man war zermürbt von dem furchtbaren Leid, das man täglich zu Gesicht bekam, und nur einige wenige kehrten zu ihrer Familie zurück, und das nur, weil sie verstümmelt waren, gezeichnet für den Rest ihres Lebens.
Carl führte als Feldwebel eine Gruppe mit zwölf Leuten an, das Gefühl, in Kameradschaft und Freundschaft mit seinen Männern verbunden zu sein, war an vielen Tagen das Einzige, das ihn aufrechterhielt. Doch auch das veränderte sich im Laufe der Jahre. Von der ursprünglichen Gruppe, die er im September 1914 zugeteilt bekommen hatte, waren nur noch Toni, ein junger Bauer aus dem Innviertel, und Leo am Leben. Die Gefallenen und Versehrten waren wieder und wieder ersetzt worden, mit frisch rekrutierten, kaum ausgebildeten Soldaten, für die er sich zwar verantwortlich fühlte, mit denen er sich aber nicht mehr befreunden wollte, weil er die Kraft dazu nicht mehr fand. Für jeden toten Soldaten seiner Gruppe fühlte er sich schuldig, und seine Qual war größer, wenn er wusste, was für ein Mensch er gewesen war und wen er hinterließ. Von seinen ersten Männern hatte er jede Kleinigkeit gewusst, auch die Namen der Eltern, Ehefrauen und Kinder oder den des Mädchens, von dem sie träumten, obwohl sie es kaum kannten. Jetzt hörte er zumeist weg, wenn ein Neuer anfing zu erzählen.
Carl sehnte sich nur noch nach einem Ende dieses gottverdammten Krieges, er war die Erschöpfung, den Hunger, die Kälte und die Nässe derart leid, dass er manchmal glaubte, wahnsinnig zu werden. Er staunte über das Glück, das ihn bisher keinen Augenblick lang verlassen hatte, es glich beinahe einem Wunder, ihm stand der vierte Kriegswinter bevor, er war am Leben und heil, zumindest sein Körper war es. Seine Tante Josephine hatte ihm, als er ein Kind gewesen war, die Geschichte von den Schutzengeln erzählt, die unsichtbar über jedem Menschen schwebten und auf ihn achtgaben. Er fand die Vorstellung irgendwie tröstlich, sein Vater tat sie mit einer ärgerlichen Handbewegung ab und sagte: »Glaub diese Märchen nicht, Carl, nur du allein bist für dich verantwortlich.« Dass sein Vater doch nicht in allem Recht hatte, zeigte sich in diesem furchtbaren Krieg, sein Schutzengel musste Unglaubliches leisten, er dankte ihm jeden Abend.
Gegen fünf Uhr früh hatte das Warten ein Ende, durchfroren krochen die Männer aus dem Unterstand, vertraten sich die Füße, schlürften ihren wässrigen Kaffee, setzten sich die Gasmasken auf. Das Schießen der Artillerie setzte ein. Wie bei vorangegangenen Gefechten verwendete sie Batterien mit Giftgas, die in die feindlichen Stellungen geschossen wurden, die Italiener erwiderten mit Trommelfeuer. Der Kampf um den Monte Miela und den Monte Flor begann, am nächsten Tag sollten der Meletta di Foza und der Meletta di Gallio eingenommen werden. In Carls Augen war das Meletta-Bergmassiv nur eine weitere unwirtliche Gegend voller Gestein und Geröll, in den Augen der Heeresführung stellte es ein wichtiges Etappenziel in der Offensive gegen den Feind dar. Diese hatte vor sechs Wochen vielversprechend begonnen und war der erste große Erfolg an der Südfront gewesen, denn die Italiener hatten sich bis hinter den Piave zurückziehen müssen. Es regnete Tapferkeitsmedaillen, und den Männern wurde vermittelt, die Südfront wäre ausschlaggebend für den Ausgang des Krieges, an ihnen allein läge es, diesen zu gewinnen. Nach einem siegreichen Kampf ist es leichter für die Oberen, den Männern einzureden, dass heute zu sterben noch heldenhafter ist als ein Jahr zuvor, sagte sich Carl bitter.
Als die Sonne bereits höher stand, dauerte der Beschuss immer noch an, drei Gruppen der Infanterie erhielten den Befehl, sich in Richtung des Feindes zu bewegen, um das Räumen der ersten Stellung zu beschleunigen. Carl und seine Männer sollten die Vorhut übernehmen, so die Anweisung des Zugführers Neupert, und Carl — er versuchte sich vor seinen Männern nichts anmerken zu lassen — murmelte: »Wie hätte es anders sein können.«
Seit wenigen Wochen war Leutnant Siegfried Neupert der neue Zugführer, unter dem Carls Gruppe und sieben weitere dienten, insgesamt waren sie an die hundert Mann. Der erste Zugführer, dem sie mehr als drei Jahre lang gedient hatten — sie hatten ihn alle sehr geschätzt —, war ums Leben gekommen. Eine Granate war über ihnen am Felsen krepiert und hatte eine Wolke von Sprengstücken und Steinen auf sie herabgeschleudert, sie erschlug elf Soldaten, darunter den Zugführer.
Neupert war knapp dreißig. Ein schöner Kopf mit aristokratisch wirkendem Gesicht — stechende dunkle Augen, gepflegter Schnurrbart, volles gewelltes Haar — saß auf einem gedrungenen Körper mit zu schmalen Schultern und zu kurzen Beinen. Ganz so, als wäre ihm bewusst, dass die Proportionen seines Körpers nicht passten, beinahe lächerlich wirkten, war ihm die Wichtigkeit ins Gesicht gemeißelt. Carl und seine Männer hatten einiges über ihn in Erfahrung gebracht, sie wussten, dass er aus einer wohlhabenden Familie in Linz stammte und sein Großvater mit einer Kürschnerei zu Geld gekommen war. Der Vater studierte Rechtswissenschaften und schaffte es bis zum Richteramt, das kleine Vermögen vergrößerte er konsequent mit Immobilienkäufen. Siegfried Neupert tat es seinem Vater gleich, studierte Jura und strebte ebenso eine Karriere im Staatsdienst an, ein Jahr bevor der Krieg ausbrach, wurde er als Staatsanwalt vereidigt.
Carl konnte Neupert nicht ausstehen. Von Anfang an hatte dieser keine Gelegenheit ausgelassen, ihn vor allen geringschätzig zu behandeln und zu schikanieren, warum das so war, konnten er und seine Männer nur vermuten. Neupert benötigte jemanden, an dem er seine Demütigung, seine Wut abreagieren konnte, und die Wahl war zufällig auf den gutmütigen Gruppenführer Carl Brugger gefallen, oder auch nicht zufällig, wer weiß. Er war von seinem Schreibtischposten in Meran zum Einsatz an der Front abgezogen worden, was er sich zuschulden kommen lassen hatte, wusste niemand, es kursierten Gerüchte. Vielleicht aber hatte der Leutnant davon gehört, dass man Carl zum Fähnrich hatte befördern wollen, was dieser dankend abgelehnt hatte — es war ihm mehr als genug, für zwölf Leute die Verantwortung zu tragen —, und interpretierte seinen fehlenden Ehrgeiz als mangelnde Begeisterung für den Krieg oder gar als Feigheit. Oder es war ihm einfach nur ein Dorn im Auge, dass Carl bei seinen Männern äußerst beliebt war.
Gebückt bewegten sich Carl und seine Männer vorwärts, die Waffen fest an sich gepresst, der Boden unter ihren Stiefeln war aufgrund des gefallenen Schneeregens nass und rutschig, immer wieder musste man Steinen und Felsbrocken ausweichen. Drei Feuerstellungen galt es am langgezogenen Bergrücken einzunehmen, bevor die Eroberung des Stützpunktes auf der Steinkuppe eingeleitet werden konnte. Mit der Hand gab er ein Zeichen, woraufhin sie sich trennten, er hatte ihnen eingetrichtert, einige Meter Abstand zum Nächsten zu halten, so blieben andere meist verschont, wenn es einen treffen sollte. Die Männer, die noch nicht lange an der Front waren, strahlten Zuversicht aus, sie hofften auf das Anhalten der Glückssträhne der k. u. k. Armee, auf einen weiteren Sieg, und gleichzeitig wirkten sie ängstlich. Manche von ihnen schrien wie verrückt, um sich gegenseitig zu ermutigen, zu berauschen. Carl hingegen rückte konzentriert vor, mit zugeschnürter Kehle und flauem Magen, sein treuer Begleiter war die Todesangst. Er wusste, dass es den meisten der Langgedienten ähnlich erging, er konnte es in ihren Gesichtern sehen.
Schrille Pfeifgeräusche ertönten, über ihren Köpfen durchfurchten Granaten den wolkenverhangenen Himmel, Explosionen, die bis in die Eingeweide spürbar waren, erschütterten den Bergrücken. Aus einem Trichter warfen Carl und einige seiner Männer mehrere Granaten gleichzeitig auf die Maschinengewehre in der ersten Stellung, um anschließend mit starkem Gewehrfeuer in den Graben zu springen. Er bot ein Bild der Verwüstung, überall lagen zerfetzte Körper und schwer Verwundete, leichter grüner Gasnebel bedeckte stellenweise den schlammigen Boden. Mit seinem Bajonett erstach Carl einen auf ihn losstürmenden Alpini, den er aufgrund des Nebels erst in letzter Minute sah. Der Sterbende trug keine Gasmaske, er hatte lediglich ein Tuch um die untere Gesichtshälfte gebunden, das Blut quoll ihm aus dem Mund und färbte das Tuch. Unverwandt schaute er Carl an, bis er aufhörte zu atmen, es war ein älterer Mann, seine Stirn war faltendurchzogen. Die restliche Besatzung verließ mit erhobenen Händen die Stellung, um sich den Nachrückenden zu ergeben. Carl sank heftig atmend in die Hocke, Leo ließ sich neben ihm nieder, er zündete sich mit zitternden Händen eine Zigarette an und teilte sie mit seinem Freund.
Die Rast war von kurzer Dauer. Nachdem zwei brauchbare Maschinengewehre abgebaut worden waren, verließen sie den Stellungsgraben und bewegten sich weiter in Richtung Bergkuppe. Langsam und geduckt liefen die Männer wieder zwischen pfeifenden Kugeln und Granaten im Zickzack vorwärts, suchten Schutz hinter einem Felsbrocken oder in Granatlöchern, aus den Augenwinkeln sah Carl, wenn ein Mann in seiner Umgebung getroffen wurde. Für die Verwundeten konnte kaum etwas getan werden. Es war zwar Sanitätspersonal anwesend, welches den Sturmwellen unmittelbar folgte, doch die Rückschaffung der Verletzten war infolge des Artilleriefeuers ein Ding der Unmöglichkeit. Die Rückzugsgräben ins Campo-Mulo-Tal, wo sich ein kleines Feldlazarett befand, waren zudem zerschossen und konnten nicht benutzt werden. Jeder wusste, dass eine Verwundung den Tod bedeutete.
Drei Stunden später wurde die zweite Stellung eingenommen. Die Verluste bei den eigenen Leuten waren dieses Mal höher als bei der Stürmung der ersten, das Bataillon verlor mehrere Männer, viele wurden schwer verwundet, die Sanitäter hatten alle Hände voll zu tun und waren dennoch hilflos. Carl saß neben einem jungen Gefreiten, dessen Bein weggeschossen worden war, verzweifelt versuchte er die Blutung mit seinen Händen zu stoppen und schrie nach einem Sanitäter.
»Werde ich es schaffen, Carl?«, hörte der junge Mann nicht auf zu fragen.
Die Minuten, bis zwei Sanitäter mit einer Trage auftauchten, kamen Carl wie eine Ewigkeit vor, er redete dem Mann gut zu, versicherte ihm, dass er es schaffen werde. Er starb in dem Augenblick, in dem ihm das Bein abgebunden wurde.
Während sie das brauchbare Material einsammelten und eine kurze Verschnaufpause einlegten, hofften sie inständig auf ein Abflauen des feindlichen Feuers, auf ein geschwenktes weißes Tuch. Doch die Schießerei dauerte ununterbrochen an, die feindliche Artillerie blieb ebenso wenig untätig wie die eigene. Heftiges Maschinengewehr- und Infanteriefeuer zeigte, dass die Italiener, obwohl sie auf verlorenem Posten waren, nicht an ein Kapitulieren dachten. Carl wiederholte in seinem Kopf flehend die Worte: Hört auf zu schießen! Er begann sie zu hassen für ihre stumpfsinnige Entschlossenheit, in den Tod zu marschieren und hunderte andere, egal ob Feind oder Freund, mitzunehmen.
Mittlerweile war es Nachmittag geworden, sie bewegten sich in Richtung des nächsten feindlichen Stellungsgrabens. Sie verließen die Deckung einiger Felsbrocken, als eine Sprenggranate in wenigen Metern Entfernung einschlug und zwei Männer zerriss. Carl konnte nicht erkennen, ob es welche aus seiner Gruppe oder andere erwischt hatte, schemenhaft sah er ihre Körper durch die Luft fliegen. Etwas Schweres fiel auf ihn, drückte seinen Kopf ruckartig auf die spitzen Steine unter ihm. War nur eine Frage der Zeit, bis es mich auch erwischt, das war alles, was er dachte. Er spürte Warmes auf seiner Wange und griff danach, es war Blut, Bäche von Blut liefen über sein Gesicht, es war überall, in seinem Nacken, am Hals, es quoll unter seiner Kappe hervor. Vermutlich hatte er eine schwere Kopfverletzung erlitten, an der er auf diesem trostlosen Bergmassiv sterben sollte, er wunderte sich, dass ein Mensch dermaßen viel Blut im Kopf hatte. Er brauchte eine Weile, um zu realisieren, dass es nicht seines sein konnte, und entwand sich dem Körper, der auf ihm gelandet war, rollte ihn zur Seite, um zu erkennen, dass diesem der Kopf fehlte und unaufhörlich Blut aus dem zerfetzten Hals strömte. Er brüllte auf, ein junger Soldat aus seiner Gruppe, ein Bursche noch, übergab sich neben ihm, Carl hörte nicht auf zu schreien: »Wer war das?«
Toni rutschte zu ihm, er und der Junge schauten ihn betreten an. Eine weitere Granate schlug nicht unweit von ihnen ein, Steinsplitter rieselten auf sie herab, Toni packte ihn am Oberarm und zog ihn weiter. Mit einem letzten Blick auf den kopflosen Toten ließ Carl es geschehen, wer der Getötete war, erkannte er an den Stiefeln. Leo hatte diese einige Tage zuvor mit neuen, hellbraunen Schnürsenkeln versehen, und er hatte ihm dabei zugesehen. Leos Frau Bertha hatte sie auf sein Bitten hin — die Versorgung mit Ausrüstung war zunehmend schlechter geworden — ihrem Brief beigelegt.
Als es dämmerte, fielen nur noch vereinzelt Schüsse. Die meisten Stellungen waren aufgegeben, der Stützpunkt auf dem Bergrücken erobert, der Feind hatte sich zurückgezogen oder ergeben. Man machte sich auf, um nach Verwundeten zu suchen, musste aber aufgrund der eingeschränkten Sicht aufgeben, starker Nebel war aufgezogen. Sie konnten nur jene bergen, die nach Hilfe riefen, jedem war bewusst, dass diejenigen, die man nicht fand, dem Tod durch Erfrieren preisgegeben waren. Der Gedanke war Carl unerträglich, mit einer Fackel in der Hand wankte er auf den Abhängen herum und suchte weiter, Toni half ihm dabei, unter Felsvorsprüngen fanden sie neun verletzte Männer, zwei davon aus ihrer Gruppe. Es dauerte eine geraume Weile, bis sie im Unterstand waren, welcher den Verwundeten und dem Sanitätspersonal vorbehalten war. Carl wollte weitersuchen, da immer noch Männer des Bataillons vermisst wurden, ein Gefreiter überbrachte Neuperts Befehl, die Suche zu beenden. Es war stockdunkel, als sie die Kaverne betraten, in der sie die Nacht verbringen sollten, die Männer starrten Carl an, als wäre er ein Gespenst. Er ersuchte darum, den unverzüglichen Transport der Verletzten ins Campo-Mulo-Tal leiten zu dürfen, es wären genug Fackeln und Petroleumlampen vorhanden.
»Waschen Sie sich endlich das Gesicht«, schnauzte ihn Neupert an.
Carl gab nicht auf und bat erneut, doch er erhielt eine weitere Abfuhr. Es sei nichts zu machen, schnauzte Neupert, der Bergpfad ins Campo-Mulo-Tal sei zu lang und völlg vereist, unmöglich in der Nacht zu bewältigen.
»Er ist auch am Tag lang und vereist«, erwiderte Carl knapp, »ich kenne den Weg, und wir haben Steigeisen.«
»Hören Sie auf, den Helden zu spielen. Ich brauche morgen jeden Mann am Monte di Gallio.« Außerdem müsse in aller Frühe das Kampffeld nach verwendbarem Material abgesucht werden, so laute der Befehl von oben, fuhr Neupert fort. Alle Männer sollten versuchen, so gut es ging, in der Nacht etwas Schlaf zu bekommen. Carl widerstrebte es, die Nacht abzuwarten, um am nächsten Tag feindliches Kriegsmaterial einzusammeln, als wären sie auf einem mittelalterlichen Beutezug, und er bat erneut, den Verwundetentransport in die Wege leiten zu dürfen. Er hielt Neupert vor, dass die meisten Verletzten die Nacht nicht überstehen würden, selbst diejenigen nicht, die nicht schwer verwundet waren und eine gute Chance hätten, wenn sie sich in wenigen Stunden in einem geheizten Lazarett befanden und ordentlich behandelt wurden.
»Gehen Sie mir aus den Augen!«, brüllte Neupert.
Toni nahm Carl am Arm und führte ihn ans andere Ende der Kaverne, wo der Rest der Gruppe saß, zwei waren gefallen, drei verletzt, zwei davon schwer. Carl schlich in der Nacht in den Sanitätsunterstand zu seinen verwundeten Männern, sie überlebten die Nacht nicht.
Der Monte di Foza und der Monte di Gallio wurden am 5. und 6. Dezember eingenommen, die Verluste waren verheerend. Am Vormittag darauf suchten Carl und seine Männer das Kampffeld bei der Casera Meletta di Gallio ab, in einer abgelegenen Kaverne am westseitigen Abhang fanden sie Vermisste. Sie waren bei der Abwehr der Gegenangriffe in feindliche Hände gefallen, man hatte sie zwar verbunden, doch anschließend zurückgelassen, die meisten konnten nur als Tote oder Sterbende geborgen werden.
Nach Einbruch der Dämmerung marschierte das 3. Bataillon der Rainer in die Frenzela-Schlucht, um für weitere Befehle schneller verfügbar zu sein, aufgrund seiner stark gelichteten Bestände sollte es in den nächsten Wochen als Reserve dienen. Die eisig kalte Nacht musste im Freilager verbracht werden, ein Volltreffer einer Artilleriegranate kostete fünf weitere Männer das Leben. Am frühen Morgen des 8. Dezember wurde das Bataillon in die Verschneidung am Monte Zomo zurückgeschickt, zweimal bombardierte das italienische Luftgeschwader die Truppe während des Marsches — offensichtlich wollte der Feind den schönen klaren Tag nutzen —, doch verfehlten alle Bomben ihr Ziel. Ein Detachement hatte auf dem Kampffeld insbesondere nach Bestandteilen von Maschinengewehren Ausschau zu halten, Carl kochte vor Wut. In den alten italienischen Baracken fanden sie kaum Erholung, Waschgelegenheiten fehlten, die Fahrküche kam nicht an, weshalb es wieder keine warme Mahlzeit gab, am Abend zog schlechtes Wetter auf. Am folgenden Tag schlief das Bataillon, das nur noch aus fünfzehn Offizieren und zweihundertsechs Mann bestand, in italienischen Kavernen bei Campanella. Diese waren besser ausgestattet als die vorherigen, es war die erste Nacht seit langem, in der sie zumindest vor der Kälte geschützt waren. Am 10. Dezember kam der Befehl, nach Eintritt der Dunkelheit zum Kreuz beim Monte Longara zurückzumarschieren, die Männer waren froh, die Gegend um Campanella verlassen zu können. Den 11. verbrachte das Bataillon, das weitere zehn Männer verloren hatte, in den Baracken bei Croce di Longara, es schneite unaufhörlich so dicht, dass man kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Am 12. marschierten sie über Casera Zingarella nach Ghertele, die Marschlinie war aufgrund von langen Trainkolonnen verlegt worden, und die Schneemengen abseits des Weges waren enorm, der Weg war lang und beschwerlich. Beim Einrücken in die bereitstehenden Baracken kam es zu einem überraschenden Beschuss mit schweren Granaten, wobei zwei Verletzte, die man den ganzen Weg über getragen hatte, starben. Am 13. marschierte das Bataillon auf den Monte Rovere und bezog gute Quartiere im Rivetta-Lager, acht bis vierzehn Erholungstage wurden den Männern zugesichert.