Aus Bozen traf Feldpost ein. Carl erhielt ein Päckchen aus der Heimat und einen Brief von Luzia. Das Päckchen war bereits Ende Oktober aufgegeben worden, der Brief vor drei Wochen, er überlegte, was er zuerst aufmachen sollte, und beschloss — um die Vorfreude länger genießen zu können —, das Paket der Eltern zu öffnen. Es enthielt dicke knielange Socken, Zigaretten, eine Keksdose und ein kleines Notizbuch. Er hatte ihnen geschrieben, dass sein altes sich dem Ende zuneigte und er gerne ein neues hätte, er schrieb täglich ein paar Zeilen über das Erlebte nieder. In der Keksdose fand er zuunterst einen Brief, offenbar hatten seine Eltern wieder einmal die Zensur umgehen wollen, was das betraf, waren sie — wie auch seine Schwester Elisabeth — äußerst findig geworden.

Sein Vater teilte ihm mit, dass seine Tante Josephine gestorben war, sie war schon länger bettlägerig gewesen.

Ihre letzten Worte haben Dir gegolten. Sie hat sich nichts mehr gewünscht, als dass Du gesund aus diesem Krieg, der schon viel zu lange dauert, heimkehrst, die Hofmühle übernimmst, heiratest und Kinder bekommst. Sie wird vor den Herrgott hintreten und diesen Wunsch vortragen, hat sie gesagt, bevor sie ihren letzten Atemzug getan hat. Mein lieber, lieber Carl, wir alle wünschen uns nichts sehnlicher als das. Achte auf Dich und setze Dich keiner unnötigen Gefahr aus. Ich kann gar nicht ausdrücken, wie sehr ich mich freue, wenn ich Dich endlich in meine Arme schließen darf.

Seit Oktober feiert ihr gegen die Walschen einen Sieg nach dem anderen. Ich bin stolz auf Dich und auf all die anderen tapferen Männer, die Dich umgeben. In der Presse werden unsere Soldaten überschwänglich gefeiert, die Hoffnung ist groß, dass der Krieg nun doch bald ein siegreiches Ende findet.

Sein Vater berichtete weiter von der Arbeit in der Mühle, die er seit zwei Jahren alleine verrichtete, von den Bauern, die weiterhin ihr Getreide brachten, verlangte er, dass sie mit Lebensmitteln bezahlten, die Papierkronen waren nicht einmal mehr das Papier wert, auf dem sie gedruckt waren. Zum Schluss beschwor er ihn noch einmal, sich keiner unnötigen Gefahr auszusetzen und durchzuhalten.

Seine Mutter hatte ebenfalls einen Brief beigelegt, wie immer schrieb sie über gänzlich andere Dinge als sein Vater, und auch die Art und Weise, wie sie darüber schrieb, war eine komplett andere. Seitdem Gustav gefallen war, war sie noch vehementer gegen den Krieg eingestellt und nahm dabei kein Blatt vor den Mund. Carl stellte sich vor, wie die beiden deshalb stritten, einen derartigen Streit hatte er einmal miterlebt. Seinem Vater war es nicht recht, dass der Sohn, der als Soldat an der Front kämpfte, während seines Heimaturlaubs mit schonungslosen Realitäten über den Krieg konfrontiert wurde, da er der Meinung war, es würde Carl weder nutzen noch weiterbringen und ganz bestimmt nicht guttun.

Es gibt kleine Siege in Italien, aber an der Westfront steht es schlecht, so seine Mutter, in den Zeitungen schreiben sie davon kaum, doch wir haben unsere Quellen in Wien. Wir wissen nicht, was wir von der Sache halten sollen. Weißt Du Genaueres darüber, was reden die Offiziere? Wir haben auch von meinen Brüdern von zahlreichen Protesten gegen den Krieg gehört, die in Wien stattgefunden haben. Es gibt immer wieder Krawalle und Kundgebungen, die Leute in den Städten kommen mit den streng rationierten Lebensmitteln nicht mehr aus. Tagtäglich frage ich mich verzweifelt, wann beides endlich ein Ende hat: das Morden und Schlachten der Männer auf den Feldern und das Hungern der Alten, Frauen und Kinder in der Heimat.

Ausschweifend schrieb sie über Elisabeth und ihre tägliche Tätigkeit am OP-Tisch in einem Lazarett in Asiago, wo sie dem Arzt vor allem bei Amputationen assistierte. Elisabeth war auf ihren Wunsch hin aus dem Kriegsspital in Wiener Neustadt in das Kriegsspital in Meran versetzt worden und schließlich direkt an die Front. Du kannst Dir nicht vorstellen, was für eine unglaublich tapfere junge Frau Deine Schwester ist. Die Tochter war der Mutter schon immer am nächsten gestanden. Über ihre verstorbene Schwägerin fiel kein Wort, die zwei Frauen hatten einander zwar respektiert — oder sich gegenseitig in Ruhe gelassen —, waren aber nie Freundinnen geworden. Die Eltern waren also alleine in dem großen Haus und mit der vielen Arbeit, diese Vorstellung verursachte Carl Magenschmerzen.

Anna hatte sich nach Gustavs Tod lange nicht erholt.

Die Beziehung zu ihrem jüngsten Sohn war eine sehr enge, was damit zu tun hatte, dass sie in den Jahren vor dem Krieg während der Wintermonate bei ihm in Wien gelebt und ihm den Haushalt geführt hatte. Als Gustav mit achtzehn nach Wien ging, um zu studieren, schlug Anna vor, dass die Tochter, damals dreizehn, ebenfalls nach Wien ziehen sollte, um dort eine höhere Schule zu besuchen. Albert unterstützte ihren Wunsch und überraschte die Familie mit der Ankündigung, eine Wohnung in Wien kaufen zu wollen.

»Es ist mir lieber, wenn Gustav nicht in Untermiete bei irgendwelchen fremden Menschen wohnt, wo er sich womöglich unwohl fühlt. Er soll sein eigener freier Herr sein«, sagte Albert. »Und ich möchte auch nicht, dass Elisabeth das ganze Jahr über bei den Nonnen lebt und nur im Sommer und zu Weihnachten bei ihrer Familie ist. Was haltet ihr davon, wenn wir eine Wohnung in Wien kaufen, die groß genug für uns alle ist?« Und zu Anna gewandt: »Die vor allem dir Unterschlupf bietet in der kalten Jahreszeit? Deine Schwermut von November bis März ist kaum zu ertragen, und ich brenne darauf, mit dir ins Theater zu gehen.«

Im Sommer 1908 kaufte Albert eine Wohnung in Döbling, Annas Bruder, der die Tischlerei des Vaters übernommen hatte, half, sie einzurichten. Carl kam es so vor, als wäre mit dieser Wohnung in Wien ein neues und glücklicheres Kapitel für die Familie angebrochen, seiner Mutter tat es sichtlich gut, einen zweiten Wohnsitz in ihrer Heimatstadt zu haben, bei ihrer Familie war sie nie gern zu Gast gewesen. Seitdem sie die Freiheit hatte, jederzeit dem Landleben zu entfliehen, welches sie als trostlos empfand, war sie wie ausgewechselt. Carl lernte eine neue Seite an seiner Mutter kennen, sie war lebendiger, liebevoller, gesprächiger. Vier bis fünf Monate verbrachte sie hauptsächlich bei ihren beiden Jüngsten, Albert besuchte sie gelegentlich und blieb jeweils für ein paar Tage, Carl war seltener in Wien. Er war gerne zu Hause und mochte seine Arbeit, Vinzenz litt seit Jahren an einem schwachen Herzen und war obendrein dem Alkohol nicht abgeneigt, weshalb Carl die Mühle samt Säge praktisch alleine betrieb. Wenn er auf Gustavs Drängen nach Wien kam — er tat es vorwiegend in der warmen Jahreszeit —, genoss er die ersten Tage in vollen Zügen. Er liebte es, mit seinem Bruder und dessen Freunden zu flanieren, den Mädchen nachzuschauen, in den Gastgärten zu sitzen und den jungen Leuten beim Palavern zuzuhören, um dann wieder gerne nach Hause zu fahren. Er war kein Stadtmensch, und das städtische Treiben erschien ihm anstrengend und oberflächlich.

Gustav hatte im Gegensatz zu Carl keinen Wehrdienst leisten müssen und wurde aufgrund seines Medizinstudiums nicht einberufen. Wie die meisten seiner Kommilitonen meldete er sich im August 1914 freiwillig. Bevor er einrückte, besuchte er für einige Tage seine Familie und verkündete beim ersten Abendessen, dass er in ein paar Tagen in den Krieg ziehen werde. In Annas Gesicht zeichnete sich Fassungslosigkeit ab, sie, die jegliche Form von Gewalt verabscheute, war außer sich. Ermutigt von den Professoren, sei es der größte Wunsch der Studenten, Kaiser und Vaterland zu dienen, erzählte Gustav. »Auch ich möchte Kaiser und Vaterland dienen.«

Carl fand seine Worte pathetisch. Du Idiot, dachte er, du ausgemachter Idiot.

»Ich leite als Assistenzarzt eine mobile Feldsanitätsstelle und werde direkt an der Front Erstversorgung leisten. Ich habe nicht vor, mich in einem Lazarett im Hinterland zu verstecken«, fuhr Gustav fort.

»Deinem Vaterland hättest du als Arzt in einem Militärhospital in Wien genauso dienen können!«, erwiderte Anna aufgebracht.

Carl war schockiert über Gustavs Entscheidung, er selbst hatte keine Wahl, er würde früher oder später einberufen werden, aber niemals hätte er sich freiwillig gemeldet. Der Gedanke, in den Krieg ziehen zu müssen, war ihm unerträglich, von einigen Bekannten wusste er, dass sie ähnlich dachten wie er. Man blickte dem Krieg besorgt entgegen, der Kaiser und seine Minister waren weit weg, das Pflichtgefühl ihnen gegenüber hielt sich in Grenzen, die Menschen wollten in Frieden leben. Die Begeisterung, die in den Städten herrschte, konnten viele auf dem Land nicht nachvollziehen.

Er wunderte sich über die Entscheidung seines Bruders, Gustav war ein unpolitischer junger Mann, der sich seit seiner Jugend den Naturwissenschaften verschrieben hatte. Er hatte ein Gymnasium in Linz als einer der Besten absolviert und war in Wien bereits in den ersten Semestern des Studiums einem Professor aufgrund seiner Vorkenntnisse und seines Fleißes aufgefallen, dieser hatte ihm eine glänzende Zukunft als Arzt prophezeit. In der Familie genoss Gustav deshalb einen besonderen Status, jeder war stolz auf ihn, besonders der Vater, der sich als junger Mann gewünscht hatte, studieren zu dürfen. In wenigen Monaten sollte Gustav seine Abschlussprüfungen machen, eine Stelle als Chirurg im Sophienspital war ihm bereits angeboten worden.

In das betretene Schweigen hinein erzählte Gustav, dass er und seine Kommilitonen aus der Stellung ein Fest gemacht hatten, zu zwölft waren sie losgezogen, hatten die ganze Zeit, während sie begutachtet und ausgefragt worden waren, gewitzelt, um sich anschließend in einem Gastgarten zu betrinken. Der Bericht ihres jüngsten Sohnes brachte Anna noch mehr auf, sie erhob sich abrupt und verließ das Esszimmer.

Alle blickten auf Albert, dieser nahm sein Besteck wieder auf und aß weiter, die anderen taten es ihm nach, ein Gespräch kam nicht mehr zustande. Nach dem Essen bat er die Tochter, nach der Mutter zu sehen.

»Ich bin enttäuscht, dass du nicht mit mir darüber gesprochen hast«, sagte Albert. »Eine derartige Entscheidung trifft man nicht allein.«

»Keiner hätte mich davon abhalten können«, erwiderte Gustav trotzig. »Außerdem bin ich volljährig.«

Carl merkte seinem Bruder an, dass es ihm nicht gleichgültig war, was der Vater von ihm dachte, keinem der vier Kinder war die Meinung des Vaters je gleichgültig gewesen.

»Volljährig«, schnaubte Albert. »Volljährig bist du, aber finanziell abhängig bist du von mir. Ich bin dein Vater, ich bezahle dein Studium, dein tägliches Leben. Nicht der Kaiser. In erster Linie bist du deiner Familie Rechenschaft schuldig und dann erst dem Kaiser.«

Carl schaute zu Gustav, dann zu seinem Vater, dieser wirkte aufgewühlt. Dass sein Jüngster ihn nicht um Erlaubnis gefragt hatte, schien ihn mehr aufzubringen als die Tatsache, dass er bald an der Front stehen würde, um dort Leute zusammenzuflicken oder zu entscheiden, bei wem sich der Aufwand lohnte und bei wem nicht. Albert war in den ersten Tagen entsetzt gewesen über die Kriegserklärung, weil er wusste, Carl würde eingezogen werden, er hatte als einziger der Söhne den allgemeinen Wehrdienst geleistet. Dem Krieg selbst stand er nicht abgeneigt gegenüber. Die Ermordung des Thronfolgers durch die Serben stellte in seinen Augen einen Affront dar, welchem der Kaiser hart begegnen musste, um sich nicht zum Gespött zu machen.

»Ich kann verstehen, dass du nicht zurückbleiben willst, wenn alle anderen aufbrechen, um die Heimat zu schützen. Keiner gilt gerne als Feigling. Es ist eine Frage des Ehrgefühls. Aber deine Mutter hat Recht, du hättest dem Vaterland genauso gut gedient, wenn du die Leute in einem Militärhospital hinter der Frontlinie zusammenflickst. Wem hilft es, wenn man dich über den Haufen schießt?«, sagte Albert. »Die Wissenschaft, die Forschung, gleichgültig in welchem Bereich, ist unendlich wichtig für unser Land, ohne sie gäbe es keinen Fortschritt und keinen Wohlstand.«

Gustav blickte zu Carl und rollte mit den Augen, derartige Vorträge ihres Vaters hatten sie schon oft gehört.

»Die Ausbildung eines jeden einzelnen Studenten kostet eine Menge Geld, und das hat seine Richtigkeit, denn sie sind die Zukunft des Landes. Ich finde es im Allgemeinen unverantwortlich, sie auf ein Kampffeld zu schicken. Es sollte verboten sein, dass sie sich freiwillig melden. Die Begeisterung für diesen Krieg wird unter den jungen Studenten bewusst geschürt, und das verurteile ich zutiefst. Sie wären anderswo wesentlich nützlicher, auch während des Krieges. Nichts weiter als teures Kanonenfutter werden sie sein.«

Ein Student zählt für dich mehr als ein Bauer, Handwerker, Arbeiter, mehr als ein Müller, dachte Carl, es ist dir also gleichgültig, wenn ich auf ein Kampffeld geschickt werde und sterbe?

Gustav schien ähnliche Gedanken zu haben, denn er fragte: »Und Carl? Weil er nicht studiert, ist es für dich in Ordnung, wenn er fallen sollte, obwohl es nicht seine freie Entscheidung war, in den Krieg zu ziehen? Du weißt, dass er mit Sicherheit in den nächsten Wochen einberufen wird.«

»Das ist für mich natürlich nicht in Ordnung!«, sagte Albert laut. »Und ihr wisst auch, wie ich über den Wehrdienst denke.«

Sie wussten es. Ihm war als junger Mann der verpflichtende Wehrdienst entgegengekommen, da ihm dadurch ermöglicht wurde, von zu Hause fortzugehen und etwas von der Welt zu sehen. Doch im Grunde war er gegen den allgemeinen Wehrdienst, er fand es nicht richtig, dass jeder Mann dienen sollte, ganz gleich, ob er sich dazu berufen fühlte oder nicht. Carl war während der zwei Jahre seines Wehrdienstes sehr unglücklich gewesen, dass sein Vater mitgelitten hatte, hatte die beiden einander nähergebracht. Dieser hatte ihn oft an seinen freien Tagen in Salzburg besucht.

Die Tage, die Gustav zu Hause verbrachte, verliefen in bedrückter Stimmung, den Eltern und Elisabeth gegenüber sprach er nicht mehr von seiner bevorstehenden Einrückung, und auch sie vermieden das Thema. Nur mit Carl redete Gustav viel darüber, dabei war er voller Enthusiasmus und Vorfreude. Es sei höchste Zeit gewesen, etwas zu erleben, sagte er, denn wer möchte schon sein ganzes Leben lang nur die Schulbank drücken, um dann jahrzehntelang zu arbeiten? »Du wirst sehen, in ein paar Wochen sind meine Freunde und ich zurück und werden als Helden gefeiert. Und ich kann später meinen Kindern und Enkeln davon erzählen.«

Carl war es, der ihn zum Bahnhof brachte, die Eltern fühlten sich dazu nicht in der Lage.

Gustav war dem Sanitätsdienst des zweiten Corps der vierten Armee unter General Blasius von Schemua zugeteilt, so wie Carl auch erlebte er das Debakel des Gefechts in dem Städtchen Rawa-Ruska hautnah mit. Nach der verheerenden Niederlage geriet die gesamte Front der österreichisch-ungarischen Monarchie im Osten in Auflösung. Lemberg und ganz Ostgalizien waren verloren, die Truppen mussten sich bis an den Fluss San zurückziehen, der Verlust an Männern und Ausrüstung war enorm. Der Schock war groß, und das Bewusstsein, der Krieg werde doch nicht in wenigen Wochen gewonnen sein, folgte unweigerlich. Gustavs Worte in seinen Briefen veränderten sich im Laufe des Winters 1914/15, sie klangen nicht mehr übereifrig und euphorisch, er war ernüchtert von dem Grauen, das er täglich zu sehen bekam.

Mein lieber Bruder!

Heute wieder fünf Amputationen vorgenommen, direkt auf dem Feld, im Sanitätszelt. Zerfetzte Arme, zerfetzte Beine. Ich bin regelrecht zu einem Metzger geworden. Zwei dabei gestorben, drei auf dem Weg in das Lazarett hinter der Front. Ich hoffe, sie überleben den Transport, nachdem sie diese Tortur überstanden haben. Ich habe heute zu wenig Morphium für die armen Schweine gehabt und für mich zu wenig Kokain. Drei von fünf ist eine gute Rate, weiß ich mittlerweile. Aber den einen, sozusagen den vierten, den hätte ich gerne über den Berg gebracht. Er war erst zwanzig, ein unglaublich tapferes Bürschchen. Während ich ihm den rechten Arm unterhalb des Schultergelenkes abgesägt habe, hat er mich die ganze Zeit mit großen Augen angesehen, eine Stunde später war er tot. Du kannst Dir nicht vorstellen, wie unerträglich mir mittlerweile das Geräusch der Säge geworden ist. Oberarzt Rothen sagt dazu: Sei froh, wenn es etwas zu sägen gibt, die Bauchwunden sterben dir alle weg, ohne dass du was dagegen tun kannst.

Am schlimmsten sind die Gesichtsverletzungen. Letzte Woche wurde ein Gefreiter gebracht, dem von der Nasenwurzel weg bis zum Unterkiefer das Gesicht fehlte. Der junge Mann hat zu einem Maschinengewehrteam gehört, das einen Schützen, einen Lader und einen Späher umfasst hat. Er war der Späher. Als er seinen Kopf gehoben hat, um durch den Feldstecher zu schauen, wurde er von einem Scharfschützen im Gesicht getroffen. Wie ich von seinen Kameraden gehört habe, ist er ein gutaussehender Mann gewesen, ein Liebling der Frauen. Anstelle seines Gesichtes war da nur ein Loch, ich konnte bis in die Speiseröhre hinuntersehen. Der Geistliche wollte ihm die Hostie geben, aber er wusste nicht, wohin er sie legen sollte. Ich konnte nichts für ihn tun, außer ihm Morphium zu verabreichen. Er hat auf ein Blatt Papier gekritzelt, dass er sterben möchte, ich habe mir für ihn dasselbe gewünscht. Er hat überlebt. Erst jetzt verstehe ich Tante Finis Spruch von den unergründlichen Wegen Gottes, dieser hat hier seine absolute Gültigkeit und ist an Zynismus und Hohn nicht zu übertreffen.

Ich weiß, mein lieber Bruder, Du magst es nicht, wenn ich über Gott und die Gläubigen lästere, aber an manchen Tagen ist es kaum zu ertragen. Ich bin überglücklich, wenn ich nur eine Kugel herausholen und die Wunde vernähen muss.

Im Frühling 1915 waren beide in Dörfern zwischen Gorlice und Tarnów stationiert, sie waren an die dreißig Kilometer voneinander entfernt. Carl erfuhr als Erster in der Familie von seinem Tod, sein Zugführer rief ihn zu sich und informierte ihn. Ein Artilleriegeschoss hatte das Sanitätszelt getroffen und alle darin befindlichen Männer getötet.

Carl erhielt einen Tag frei und wurde von einem Versorgungstransporter in das kleine Dorf Wojnicz in der Nähe Tarnóws mitgenommen. Er setzte alle Hebel in Bewegung, um zu veranlassen, dass die Leiche seines Bruders nach Hause überstellt wurde, doch er erhielt eine Absage nach der anderen. Die Züge und Transporter benötigte man für Verletzte, für Versorgungsgüter, Ausnahmen wurden keine gemacht, die Überreste seines Bruders hatten im galizischen Nirgendwo zu bleiben genauso wie die tausender anderer Toter. Carl konnte verhindern, dass Gustav in einem Massengrab verscharrt wurde, er selbst hob ein Grab neben der Wieckowka aus, ein Sanitäter hatte ihm erzählt, dass Gustav gerne am Abend an dem kleinen Fluss gesessen war. Mithilfe des Geistlichen trieb er einen Sarg auf, band ein Kreuz zusammen, auf welches er den Namen seines Bruders ritzte. Der Geistliche sprach ein paar Worte, bevor der Sarg von den Kameraden in die Erde gelassen wurde. Carl schrieb einen Brief an seine Eltern und legte ihn dem offiziellen Schreiben bei, er packte Gustavs Sachen und schickte sie nach Hause.

Elisabeth schrieb ihm, dass die Mutter nicht aufgehört hatte zu schreien und zu schluchzen, nachdem sie von Gustavs Tod erfahren hatte, der Arzt hatte ihr schließlich ein Beruhigungsmittel verabreichen müssen. Der Vater schloss sich im Arbeitszimmer ein und redete tagelang kein Wort.

Ende Mai, nach der siegreichen Schlacht bei Gorlice-Tarnów, erhielt Carl zwei Wochen Urlaub. Als er das Familiengrab besuchte — in den Grabstein war Gustavs Name unter dem seiner Großeltern Anton und Alberta und den seiner Großtante Rosa frisch eingraviert —, trat eine junge Frau zu ihm, reichte ihm die Hand und bekundete ihr Beileid. Er brauchte eine Weile, um zu erkennen, dass es Luzia Eder war, er hatte sie, seitdem sie ein Kind gewesen war, nicht mehr gesehen. Sie trug die Haare offen, was er noch nie an einer Frau im Ort gesehen hatte, nur die vorderen Strähnen hatte sie nach hinten geflochten, ihre große Narbe an der Wange war verblasst.