Carl verstaute die Briefe seiner Eltern in der alten Metalldose, in welcher sich auch noch die von Gustav befanden, und rauchte eine Zigarette. Vor ihm lag Luzias Kuvert.
In ihren Briefen beschrieb die junge Frau den Arbeitsalltag auf dem Hof, den sie mit einem alten Knecht und zwei Mägden, ihrem Onkel und ihrer Tante bewältigen musste, seitdem ihr Cousin sich freiwillig gemeldet hatte und die jüngeren Knechte eingezogen worden waren. Aber diese Schilderungen waren immer erfrischend, sie spickte sie mit humorvollen Bemerkungen, und die Liebe, die sie den Tieren entgegenbrachte, schwang in jedem Satz mit. Er war überzeugt, dass für Luzia nicht alles leicht und rosig war — er befürchtete das Gegenteil —, sondern dass sie versuchte, ihn damit aufzuheitern. Es gab nicht viel mehr, worüber sie sonst hätte schreiben können, auch er schrieb vor allem über den Alltag an der Front, wobei er die Abscheulichkeiten der Gefechte wegließ, seiner Meinung nach waren sie für eine junge Frau nicht geeignet. Über ihre Gefühle zu schreiben vermieden sie beide, sie kannten einander zu wenig, wussten noch nicht, wie sie zueinander standen. Im Grunde war Luzia Eder eine Heimaturlaubsbekanntschaft. Bei seinem ersten Urlaub hatte sie ihn auf dem Friedhof vor Gustavs Grab angesprochen. Bei seinem zweiten, im März 1916 — sein Regiment wurde von Galizien nach Italien verlegt, auf dem Weg nach Bozen durfte er für zwei Wochen bei seinen Eltern Halt machen —, fragte sie ihn beim Abschied, ob sie ihm schreiben dürfe, und küsste ihn spontan.
Nur in einem Brief hatte sie sich bisher über etwas beklagt. Überraschend waren militärische Beamte auf dem Bauernhof aufgetaucht und hatten nicht nur die Vorräte beschlagnahmt, sondern auch die Pferde mitgenommen. Ihr Flehen, dass sie die Felder im Frühling ohne die Haflinger nicht bestellen konnte, wurde ignoriert, die Männer behandelten sie und ihre Verwandten, als wären sie der letzte Dreck.
Einer hat gelacht und gesagt: Der Knecht kann ja euch drei anspannen. Ein anderer hat gesagt: Ihr Bauern lebt wie die Maden im Speck, während die Männer an der Front hungern. Ich habe mir das nicht gefallen lassen und habe ihn angespuckt und angeschrien, dass wir und die anderen Bauern im Dorf die Leute versorgen, so gut es uns möglich ist, dass auch die Vorräte dafür gedacht sind und viele Familien im Winter nun hungern müssen. Meine Tante hat zu mir gesagt, ich habe wie eine Furie ausgesehen. Die Eintreiber waren im ganzen Dorf unterwegs, in der Hofmühle haben sie die letzten zwei Schweine verladen.
Das war im letzten Frühling gewesen, Carl hoffte, dass die Eltern mittlerweile in der Lage gewesen waren, bei einem Bauern Ferkel zu kaufen. Ohne alljährliche Schlachtung im November sah es mit den Vorräten im Winter schlecht aus.
Er nahm den Brief in die Hand und öffnete ihn langsam. Die Zeilen waren in ungewohnt krakeliger Schrift verfasst, ganz so als wäre Luzia beim Schreiben aufgewühlt gewesen oder hätte sie eilig zwischen Tür und Angel geschrieben. Carl begann zu lesen und traute seinen Augen nicht.
Das Kaufhaus Brugger & Partner ist gestern abgebrannt. Jemand ist eingedrungen und hat ein Feuer im Inneren gemacht. Dein Vater ist überzeugt, dass es Deserteure waren, die eine Nacht im Warmen verbringen wollten. Das gelöschte Feuer hat weitergeglimmt, nachdem die Männer bereits weg waren. Dein Vater hat versucht, ein paar wertvolle Möbel zu retten, und ist wie ein Wahnsinniger immer wieder in die Flammen hineingelaufen. Deine Mutter hat furchtbare Angst um ihn ausgestanden. Seine Hände sind verbrannt, und er hat eine Rauchgasvergiftung erlitten. Der Arzt weiß nicht, ob er es schaffen wird. Er fragt ständig nach Dir. Deine Mutter ist verzweifelt, sie hat mich gebeten, diesen Brief zu schreiben. Sie hofft, dass Du so schnell wie möglich Urlaub bekommen kannst.
Ihr Cousin Matthias galt seit kurzem als verschollen, berichtete Luzia. Die Familie wusste nicht, ob er in russische Gefangenschaft geraten oder nicht identifiziert in einem Massengrab gelandet war, ihre Tante und ihr Onkel waren am Boden zerstört.
Sie endete mit den Worten: Lieber Carl, Du kannst Dir nicht vorstellen, welch große Angst ich jeden Tag um Dich ausstehe. Ich sehne mich nur noch danach, dass ich Dich in meine Arme schließen kann. Bitte stirb nicht und kehr zu mir zurück, Deine nur an Dich denkende Luzia
Als er den Brief beiseitelegte, merkte er, dass er Magenschmerzen und Herzklopfen gleichzeitig hatte.
Carl bat umgehend um Urlaub und erhielt die Erlaubnis. Ein Verpflegungstransporter sollte ihn nach Bozen mitnehmen, von dort ging es mit dem Zug nach Innsbruck und weiter nach Salzburg und Linz. Er verabschiedete sich von seinen Männern, als Neupert durch die Tür trat.
»Tut mir leid, Brugger, der Urlaub ist gestrichen«, sagte er und zog an seiner Zigarette, mit der anderen Hand tippte er auf ein gefaltetes Papier in seiner Brusttasche, Carl meinte ein gehässiges Grinsen um seine Lippen zu erkennen.
»Was soll das heißen?«
»Auf meinen Antrag hin rückgängig gemacht. Die Befehle haben sich geändert, wir müssen die 181. Brigade verstärken.«
Im Raum war es totenstill. Carl sah sich im Geiste mit seinen Händen Neuperts Hals fest umfassen und so lange drücken, bis dessen Augen hervortraten, er zu röcheln begann und schließlich tot zu Boden sank.
»Es ist dringend«, sagte er, »mein Vater ist schwerverletzt. Ich war das letzte Mal im März 1916 zu Hause.« Er hasste es zu betteln, und noch mehr zuwider war ihm, Neupert anbetteln zu müssen.
»Wir können keinen Mann entbehren. Morgen früh ist Aufbruch«, erwiderte Neupert.
»Wen kratzt es, ob in den nächsten zwei Wochen ein Mann mehr oder weniger in der Reserve ist?«, fragte Carl wütend.
»Fühl dich geehrt, Brugger, du bist unabkömmlich.« Neupert blies ihm den Rauch ins Gesicht und wandte sich zur Tür.
»Das können Sie nicht machen!«
Carl packte den Zugführer an der Schulter und riss ihn mit einer Vehemenz zurück, dass dieser über die Schwelle stolperte und auf dem Hinterteil landete, verhaltenes Lachen ertönte. Rot im Gesicht, rappelte Neupert sich hoch und streckte den erhobenen Zeigefinger in Carls Gesicht, unterließ es aber, etwas zu sagen, da er merkte, die Männer konnten sich das Grinsen kaum verkneifen.
Das Bataillon verließ das Lager am Monte Rovere, heftiger Schneefall machte den Marsch sehr beschwerlich, ein Mann wurde von einer Lawine verschüttet. Aufgrund der anhaltenden Lawinengefahr sah man sich gezwungen abzuwarten und fand in Baracken Notunterkunft. Am 20. Dezember stieß man endlich zur 18. Division der 181. Brigade auf dem Col del Rosso. Als Unterkünfte dienten alte italienische Gräben, die notdürftig überdeckt waren, Reisighütten, die zumindest ein wenig Schutz boten auf dieser Höhe, fehlten gänzlich. Die Schikanen des Zugführers nahmen kein Ende, genauso wenig wie der ununterbrochen brausende eisig kalte Wind auf der kahlen Bergkuppe. Hier herrscht auch ohne Artilleriebeschuss die Hölle, dachte Carl.
Das tagelange erbitterte Ringen um Monte Valbella, Col del Rosso und Monte Echelle begann, am elften Tag bekam Carl im Nahkampf mit einem jungen italienischen Soldaten ein Messer in den linken Oberschenkel gerammt, er wurde in das Lazarett in Belluno gebracht. Dort fühlte er sich wie im Paradies, er schlief in einem richtigen Bett und erhielt zwei warme Mahlzeiten am Tag, er hoffte, dass ihm der Arzt wohlgesonnen war und ihn nicht so schnell zurück an die Front entließ.