In St. Louis, Missouri, arbeitete Eugen den Winter über in einem von Benediktinerinnen geführten Waisenhaus. Er ersetzte den alten Hausmeister, der von der Leiter gestürzt war und sich neben einem komplizierten Bruch des Oberschenkels gebrochene Rippen und eine geprellte Schulter zugezogen hatte. Eugen fühlte sich wohl in dem großen alten Haus, das hundert Jahre zuvor von einem Händler im französischen Kolonialstil erbaut worden war. Es war ein kalter Winter, mit der Außenwelt hatte Eugen kaum Kontakt, er hatte das Gefühl, in einem warmen Kokon zu leben. Die Zuneigung, die ihm die Kinder vom ersten Tag an entgegenbrachten, überwältigte ihn. Dass er sich mit ihnen befasste, mit ihnen redete, mit ihnen spielte, darauf bestanden sie täglich, bald war er mehr Aufsichtsperson, Vertrauter und Spielkamerad denn Hausmeister, die Klosterschwestern ließen ihn gewähren. Diese verwöhnten ihn mit wohlwollender Aufmerksamkeit, einige von ihnen konnten das Flirten nicht lassen, kaum waren sie eine Sekunde mit ihm alleine. Auch das gute Essen und die abendlichen Zusammenkünfte, an denen auch die älteren Kinder teilnehmen durften, genoss er.

Da der Orden mit einer kirchlichen Organisation in Helena, Montana, in enger Kooperation stand, kamen einige der Kinder aus diesem dünn besiedelten Bundesstaat im Nordwesten, in dem das Leben noch wesentlich rauer war als im zivilisierten Osten. Die harten Schicksale dieser Kinder machten Eugen sehr betroffen. Drei Brüder hatten ihre Mutter verloren, weil sie auf dem Weg vom Stall zurück zum Haus von einem hungrigen Wolfsrudel angegriffen wurde, die Buben mussten durch das Fenster mitansehen, wie ihre Mutter getötet wurde. Sie hatte die Tür von außen verschlossen, um die Kinder daran zu hindern, ins Freie zu laufen — es hatte minus zwanzig Grad —, und ihnen so das Leben gerettet. Der Vater befand sich zur selben Zeit auf dem Weg in die nächste Stadt, wo er Lebensmittel und Medikamente holen wollte, die Farm war seit Wochen eingeschneit. Seine Leiche wurde von einem Nachbarn entdeckt, sein Pferd musste ihn abgeworfen haben, er war erfroren. Die Buben waren tagelang alleine in der Hütte, der Älteste war sieben, er gab sein Bestes, um die Jüngeren mit Essen zu versorgen und Feuer im Herd zu machen.

Ein anderes Kind, die vierzehnjährige Caitlin, hatte als Einzige einen nächtlichen Überfall überlebt, weil sie es schaffte, schwerverletzt aus dem Fenster zu springen und sich im Sägewerk ihres Vaters in einem Haufen Späne zu verkriechen. Ihr Vater war Ire gewesen, ihre Mutter stammte von den sogenannten Métis ab, Nachfahren der ersten europäischen Pelzhändler und ihren indianischen Frauen. Ihr Haar war schwarz und glatt, ihre wässrigblauen Augen, ihr heller Teint zeugten von ihrer irischen Abstammung. Der Sheriff verdächtigte die Kutenai, deren Flathead Reservation sich zwischen den Städten Kalispell und Missoula befand. Er ließ einige junge Männer verhaften, nach einer schnellen Gerichtsverhandlung wurden sie gehängt, obwohl das Mädchen mehrmals aussagte, es wären keine Indianer gewesen. Die Kutenais machten seit Jahren Schwierigkeiten, sie waren gegen den Bau einer Eisenbahnstrecke durch ihr Gebiet gewesen, gegen die Öffnung des Reservats für nichtindianische Siedler und seit kurzem gegen die zunehmenden Rodungen ihrer Wälder für die Bauholzindustrie, wiederholt hatte es kleinere Überfälle auf Holzfäller und Sägewerke gegeben. Da das Mädchen Verwandte im Osten hatte, wurde es — von einer ältlichen Witwe begleitet — mit dem Zug nach St. Louis gebracht. Tante und Onkel konnten jedoch beim besten Willen nicht ausfindig gemacht werden, weshalb Caitlin im Waisenhaus der Benediktinerinnen verblieb. Bei Eugens Ankunft lag sie die meiste Zeit im Bett, die Wunde am Bauch hatte sich wieder entzündet, sie hatte furchtbare Schmerzen. Als sie im Fieber delirierte, entschied man doch, sie ins Krankenhaus zu bringen, wo sie auf der Stelle operiert wurde, erst Wochen danach kehrte sie ins Waisenhaus zurück. Sie war gesund, würde jedoch höchstwahrscheinlich keine Kinder bekommen können, lautete die Diagnose der Ärzte. Caitlin wünschte sich, in ihre Heimat zurückzukehren, sie vermisste das freie, naturverbundene Leben und fühlte sich im städtischen Heim eingesperrt, die Schwestern vertrösteten sie auf ihre Volljährigkeit. Eugen erwischte sie eines Nachts am Tor, sie wollte heimlich zum Bahnhof gelangen, es blieb ihm nichts anderes übrig, als sie in ihren Schlafsaal zurückzubringen und ihr gut zuzureden.

Als der alte Hausmeister im Frühling wieder einsatzfähig war, zog Eugen weiter, obwohl die Schwestern ihn baten zu bleiben und die Kinder ihn geradezu anflehten. Der Abschied war herzzereißend, und er brauchte tagelang, um sich davon zu erholen. Noch Wochen später passierte es ihm, dass ihm unvermittelt ein Kind in den Sinn kam, das ihn an der Hand nahm und mit großen Augen um etwas bat.

Er entschied sich für Cincinnati im Staat Ohio, da hier — wie in Milwaukee und St. Louis — Deutsche und Österreicher dominierten. In dem Hotel, in dem er ein Zimmer gebucht hatte, wurde ihm am zweiten Tag eine Stelle angetragen. Der Hotelbesitzer, ein älterer Ungar, fragte ihn, ob er als Kellner anfangen wolle, es wurde dringend jemand im Speisesaal benötigt.

Das Haus beherbergte dreißig Zimmer und trug — nach der ersten jung verstorbenen Frau des Ungarn — den Namen Zsofia. Es war bereits etwas heruntergekommen, die Tapeten fleckig, die Möbel abgenützt, hatte jedoch Charme. In jedem Raum, selbst auf dem Boden, standen unzählige Vasen mit den unterschiedlichsten Nelken, welche die zweite Frau des Hotelbesitzers hingebungsvoll in einem Glashaus hinter dem Hotel züchtete. Sie war Wienerin und an die zwanzig Jahre jünger als ihr Mann, die beiden hatten einander auf dem Schiff kennengelernt und auf Ellis Island geheiratet. Auf ihr Drängen hin waren sie in Cincinnati gelandet, wo eine entfernte Cousine von ihr lebte, wenige Jahre nach ihrer Ankunft kauften sie einem Bayern das Hotel um einen Spottpreis ab, dieser hatte es offensichtlich eilig, die Stadt zu verlassen.

Der Eigentümer nahm sich Zeit und schulte Eugen ein, er war gutmütig, freundlich, humorvoll und dem Alkohol nicht abgeneigt. Jeden Abend betrank er sich an der eigenen Hotelbar, während er die Gäste mit Anekdoten aus seiner Vergangenheit unterhielt. In Budapest war er Oberkellner in einem noblen Restaurant gewesen, bis er eines Tages des Diebstahls bezichtigt wurde und sich vor einem Gericht verantworten musste. Die Sache wurde aufgeklärt, doch fand er keine Stelle mehr und entschloss sich daraufhin auszuwandern. Er war gut darin, Leute zu imitieren, und zog die adligen Gäste, die er vor vielen Jahren in seiner Heimatstadt bedient hatte, liebend gern durch den Kakao. An den Vormittagen lag er nicht ansprechbar im Bett. Seine Frau war unglücklich, sie litt unter der Alkoholsucht ihres Mannes und darunter, dass sie keine Kinder hatte. Ihre Frustration ließ sie oftmals an den Angestellten aus, um sich dann wieder zerknirscht zu entschuldigen und dabei nicht selten in Tränen auszubrechen.

Die Arbeit als Kellner machte Eugen nicht ungern, er empfand es als angenehm, ständig von vielen Menschen umgeben zu sein, mit denen er sich jedoch nicht emotional auseinandersetzen musste, so wie es bei den Waisenkindern gewesen war. Im Gegensatz zu seiner Zeit in St. Louis, in der er selten einen Fuß aus seiner Arbeitsstätte gesetzt, sich regelrecht verkrochen hatte, war er in der neuen Stadt nach Dienstschluss viel unterwegs. Mit Leonardo, der in der Hotelküche als Abwäscher angestellt war, zog er in den freien Stunden um die Häuser. Leo, ein Jahr älter als er, stammte aus einem sizilianischen Dorf, er war unglücklich in Cincinnati, wollte an die Ostküste, wo viele Italiener lebten. Sein Traum war, eines Tages ein eigenes kleines Café zu führen. Sein Onkel und seine Tante lebten bereits länger in der Stadt, sie hatten für ihn die Überfahrt bezahlt und ihm die Stelle im Hotel Zsofia besorgt, aus einem Gefühl der Verpflichtung war er bisher geblieben.

Eines Nachts kam die Ehefrau des Hotelbesitzers in Eugens Zimmer, sie kroch zu ihm ins Bett, überraschte ihn im Schlaf und verführte ihn, ihre Hände rochen nach frischer Blumenerde. In den darauffolgenden Wochen wuchs das schlechte Gewissen seinem Arbeitgeber gegenüber und gleichzeitig das Verlangen nach dem Körper der Wienerin, die ihn immer wieder aufsuchte. Im Herbst suchte er das Weite. Er überredete Leo, mit ihm zu kommen, dieser stellte die Bedingung, dass das Ziel Boston sein müsse. Ihm war alles recht.

Boston war Eugens erste Station in den Staaten, an der nicht an jeder Ecke deutsch gesprochen wurde. Sofort nach ihrer Ankunft bewarb sich Leo als Kellner in einem italienischen Restaurant, es gehörte einem Mann mit dem Namen Alessandro Russell, der ursprünglich Russo geheißen hatte, auf Ellis Island hatte man kurzerhand den Namen geändert.

»Ihr müsst hungrig sein«, sagte er und setzte beiden einen Teller Spaghetti vor, Eugen plagte sich mit den langen dünnen Nudeln. Schließlich war er es, der die Stelle erhielt, da Russell jemanden benötigte, der Deutsch sprach, und weil er — Russells Worte — wirkte, als hätte er das richtige Auftreten dafür, Leo brachte er in der Küche unter. Leo, der lieber als Kellner gearbeitet hätte, verfluchte Eugen, war aber schnell wieder versöhnt. Gemeinsam suchten sie eine Unterkunft und fanden eine kleine Zweizimmerwohnung über einer Bäckerei, am Morgen weckte sie der Duft nach frischem Brot.

At Russells war ein beliebter Treffpunkt für Unternehmer, welche die Erfolgsleiter noch nicht bis nach oben geklettert, aber willens dazu waren, es bot das richtige Ambiente dafür, war solide und gediegen, weder eine kleine Spelunke noch ein überteuerter nobler Gourmettempel. Die Männer standen am Anfang ihrer Karriere, hatten gerade einen Betrieb oder ein Geschäft eröffnet, sie kamen, um bei einem Mittagessen Kontakte zu knüpfen oder Geschäfte anzubahnen, mit Kunden, Lieferanten oder eventuellen Partnern, aber auch um ihre Familien auszuführen.

Eugen interessierte sich für ihre Geschichten, und Alessandro Russell gab bereitwillig Auskunft. Ein junger Tiroler, der besessen daran arbeitete, ein Holzunternehmen aufzubauen, erregte seine Neugier am meisten. Wenn er ihn sah, dachte er an seinen Bruder Carl — woran das lag, hätte er nicht sagen können, vielleicht an der Ernsthaftigkeit, mit der er redete — und an das Mädchen Caitlin, die immer wieder von ihrem vergangenen Leben erzählt hatte, von ihrem Vater, dem sie oft hatte helfen müssen mit den schweren Baumstämmen, von dem Geruch nach Holz, den er verströmt hatte. Eugen selbst hatte in seiner Jugend stets lieber in der Säge ausgeholfen als in der Mühle, er mochte die Arbeit mit Holz.

Die meiste Zeit des Jahres lebte Frank — ehemals Franz — Tabelander in seinem Lumber Camp etwas außerhalb der kleinen Stadt Petersham, sie befand sich im Landesinneren von Massachusetts, siebzig Meilen westlich von Boston. Er war mit neunzehn ausgewandert und hatte zwei Jahre lang als Holzfäller in den Berkshire Mountains gearbeitet. Mit dem Ersparten hatte er schließlich ein kleines Waldgrundstück in der Nähe von Petersham gekauft, es eigenhändig gerodet und die Stämme an ein Sägewerk verkauft. Die Baumstümpfe wurden ausgegraben und verbrannt, das fruchtbare Land an einen Farmer verkauft und das nächste Waldgrundstück gekauft und gerodet, mittlerweile arbeiteten acht Männer für ihn. Wenn er in Boston zu tun hatte, schaute er bei Russell vorbei, an einem Abend — das Restaurant war bereits leer — saßen sie an der Bar und winkten Eugen zu sich.

»Das freut mich, dass du einen Landsmann von mir eingestellt hast«, sagte Tabelander zu Russell, und sie betranken sich zu dritt bis zum Morgengrauen. Frank war nervös, seine Jugendliebe war auf dem Weg zu ihm nach Amerika, er hatte ihr das Geld für die Überfahrt geschickt. In zwei Tagen sollte er sie auf Ellis Island abholen, wo auch die Trauung stattfinden sollte.

Eine Woche darauf kam er mit seiner Frau im Russells vorbei, um zu essen, bevor es nach Petersham weitergehen sollte. Im Handumdrehen machte Alessandro ein kleines Hochzeitsfest daraus, indem er zwei Geigenspieler holen ließ, Tische zu einer Tafel zusammenstellte und eine kurze Rede hielt.

Im Frühling 1907 beschloss Eugen weiterzuziehen, er war neugierig auf den Westen. San Francisco war ein Jahr zuvor nach einem Erdbeben und einem verheerenden Brand zerstört worden, und er hatte gehört, dass als Bauarbeiter gutes Geld zu verdienen war. Russell ließ ihn ungern ziehen, da er bei den Leuten, vor allem bei den Damen, gut ankam, er sei der geborene Kellner, versicherte er ihm, er versprühe Witz und Charme. Eugen jedoch hatte erkannt, dass er alles andere wollte, als sein Leben lang Leute bedienen. Der Abschied fiel ihm dieses Mal schwerer als in den vorangegangenen Städten, er musste einen liebgewonnenen Freund verlassen. Leonardo, der anfangs überlegt hatte, mit ihm zu kommen, entschied sich dagegen. Er hatte sich in ein Mädchen aus Rom verliebt, das mit ihren Eltern und vier Geschwistern eben erst nach Boston gekommen war.

Mit dem Zug fuhr Eugen Richtung Westen, in Nebraska stieg er in einem Ort mit dem Namen Cozad aus. Frank Tabelander hatte ihn gebeten, seinen Cousin zu besuchen, der sich ein Jahr zuvor mit seiner Familie südwestlich des Städtchens niedergelassen hatte. Die Familie war in Schwierigkeiten geraten, der Mann war beim Stallbau vom Gerüst gefallen und hatte sich einen offenen Unterschenkelbruch zugezogen, woraufhin die Bank den Kredit gekündigt hatte. Eugen sagte ohne zu zögern zu, er war neugierig darauf, wie das Leben einfacher Farmer in der endlosen Weite aussah.

Direkt vom Bahnhof marschierte er zur katholischen Kirche, fragte den Pfarrer nach den Beers und wie er am besten zu ihnen käme. Der junge Mann bot ihm an, ihn mitzunehmen, er hätte in einer Nachbarranch zu tun. Sie waren eine Stunde mit dem Einspänner unterwegs, der Weg verlief die meiste Zeit am Fluss entlang, an dessen Ufer mächtige Tannen und Fichten standen, Eugen konnte sich nicht sattsehen an der weiten Landschaft, sie erschien ihm unfassbar schön, er hatte Natur noch nie derart gewaltig und imposant erlebt.

Die Beers freuten sich über den Besuch und noch mehr über das Kuvert, welches er aushändigte — Tabelander hatte ihm Geld mitgegeben —, und luden ihn ein, ein paar Tage zu bleiben. Er saß inmitten der Familie, das Ehepaar hatte sieben Kinder, allesamt blond und blauäugig, wie Orgelpfeifen aufgereiht saßen sie ihm gegenüber und löcherten ihn mit Fragen nach dem Leben in Milwaukee, St. Louis, Cincinnati und Boston. Am nächsten Tag zeigten ihm die beiden älteren Kinder auf Pferden die Umgebung, das Pferd, auf dem Eugen saß, wurde vom Jungen an einer Leine geführt, das Mädchen galoppierte auf ihrem voraus und wieder zurück, umrundete sie. Sie trug Hosen, ihre offenen Haare flatterten im Wind. Am Abend fragte Eugen, ob er länger als ein paar Tage bleiben dürfe, er könne sich beim Stallbau nützlich machen.

»Ich kann dir nicht viel zahlen«, sagte Paul Beer.

»Ich will nur Kost und Logis«, sagte Eugen. »Und ich möchte, dass deine Kinder mir das Reiten beibringen.«

Er blieb ein halbes Jahr. Gemeinsam mit Paul junior — ab und zu halfen auch Farmer aus der Nachbarschaft aus — baute er über den Sommer den Stall nach Beers Anweisungen und zäunte zwei Weiden ein. Er half den Kindern bei den Hausaufgaben, ging mit den Söhnen fischen, lernte reiten, am Abend saß er mit der Familie zusammen. Die Beers hatten in Tirol einen kleinen Bauernhof bewirtschaftet, der zu wenig ertragreich gewesen war, um die sich stetig vergrößernde Familie zu ernähren. Paul war gezwungen gewesen, zusätzlich als Pferdeknecht bei einem Gutsherrn zu arbeiten, während sich seine Frau auf dem Hof abrackern musste. Sein Cousin riet ihm in einem Brief zur Auswanderung und sicherte finanzielle Unterstützung für den Anfang zu. Der ursprüngliche Plan war, in Nebraska eine Pferde- und Rinderzucht aufzubauen, doch schnell erkannte Paul Beer, dass es wesentlich besser und lukrativer war, sich nur auf Pferde zu konzentrieren. Beinahe jede Ranch weit und breit betrieb Rinderzucht, wohingegen Pferde, ob als Reittiere für die Cowboys oder für den deutschen Metzger in Cozad, der gerne Sauerbraten und Gulasch aus Pferdefleisch im Sortiment hatte, eher Mangelware waren. Auf Eugens Frage, ob sie es bereut hätten auszuwandern, schüttelten alle zögerlich den Kopf, nur Paul junior posaunte ein lautes und entschiedenes: »Nein.«

»Ich vermisse meine Familie so sehr, dass ich es manchmal nicht aushalte«, sagte Teresa.

»Mir fehlen mein Hof und das vertraute Gefühl, dass ich jeden einzelnen Stein kenne«, sagte Paul.

»Das Einzige, was mich stört in diesem Land, ist, dass unser Name wie Bier ausgesprochen wird und auch Bier bedeutet«, sagte Paul junior. »Auch wenn ich es gerne trinke.« Sein Vater lachte und verpasste ihm einen kleinen Boxhieb auf den Oberarm.

Anfang November 1907 kam Eugen in San Francisco an. Die Stadt war eine einzige Baustelle, die Stimmung war gedrückt, es gab viele Obdachlose und Hungernde, Polizei und Bürgerwehr waren allgegenwärtig, mit Erlaubnis des Bürgermeisters wurden Diebe und Plünderer auf der Stelle erschossen. Alles musste in Windeseile neu aus dem Boden gestampft werden, nicht nur aufgrund der geplanten Weltausstellung — wie Eugen aus der Zeitung erfuhr —, sondern um willige Investoren aus dem Osten nicht zu verlieren. In eine zerstörte Stadt wollte niemand ziehen geschweige denn Geld investieren, erzählte der Bauunternehmer, der ihn einstellte.

Er fand Arbeit in einer großen Baufirma und wurde dem Aufbau des abgebrannten Palace Hotels in der Montgomery Street zugeteilt. Er schleppte Balken, Bretter, Ziegel, mit Mörtel gefüllte Eimer, Männer aus China, Polen, Irland, Frankreich und Deutschland waren seine Arbeitskollegen, wie Ameisen wuselten sie auf der Baustelle herum. Weil er darum bat, übertrug man ihm — zusammen mit einem Iren — die Verantwortung für den Transport des Bauholzes vom Bahnhof bis zur Baustelle. Er arbeitete zwölf Stunden am Tag, doch verdiente er viermal mehr denn als Kellner.

Mit hunderten von Arbeitern und deren Familien hauste Eugen in einer Barackensiedlung am Rand von San Francisco, er hätte sich ein besseres Zimmer in einem verschonten Teil der Stadt leisten können, doch er wollte seinen Lohn sparen. Zu diesem Zweck eröffnete er ein Konto bei der Bank of California, das Geld in seinem Zimmer aufzubewahren wäre ihm zu unsicher gewesen. Immer wieder wurde eingebrochen, die verzweifelten Bestohlenen verdächtigten ihre Nachbarn, es herrschte eine Stimmung der Anspannung, des Argwohns, sie machte ihm mehr zu schaffen als die schwere körperliche Arbeit. Er erlebte furchtbare Unfälle mit, Männer wurden erschlagen, eingequetscht, stürzten in die Tiefe und zerschmetterten, ihre Familien erhielten einen Wochenlohn ausbezahlt und zwei Wochen Zeit, um die Arbeiterwohnung zu verlassen. Der Lebensstandard der Arbeiter war schlecht, es interessierte den Arbeitgeber nicht, wo und wie der Mensch, den er einzustellen gedachte, hauste und ob er gesund war, Wohlfahrt war ein unbekanntes Wort, ebenso Tradition oder Bürokratie, kaum jemanden interessierten Papiere. Dass lange Zeit im Westen vielfach Abenteurer ihr Glück gesucht hatten, während der Osten und Mittlere Westen schon länger hartnäckig von tüchtigen Familien bewirtschaftet wurden, war deutlich zu spüren. Bei einem gemeinsamen Bier kommentierte der Bauleiter die Situation mit den Worten: »Hier waren viel zu lange zu viele Glücksritter, zu viele Chinesen und zu wenige Deutsche.«

Im Dezember 1908 reiste er in den Osten zurück, er machte Halt in Nebraska und verbrachte das Weihnachtsfest bei den Beers, sie gaben ihm ein Geschenk für den Cousin mit, von dem sie wussten, dass seine Frau ein Kind erwartete. In Boston kam er bei Leonardo unter, dieser war frisch mit seiner jungen Römerin verheiratet und hatte sich mit Schwiegervater und Schwager selbständig gemacht. In einer gemieteten Halle wurde Pasta hergestellt, Leo war für Verkauf und Auslieferung zuständig, Eugen freute sich für seinen Freund.

Alessandro Russell setzte ihm als Erstes einen Teller Spaghetti vor, schaute ihm beim Essen zu und erkundigte sich nach seinem Leben im Wilden Westen. Eugen fragte ihn nach Frank Tabelanders Adresse und erfuhr, dass dieser ein Haus in der kleinen Stadt Concord gebaut hatte, seine junge Frau sollte nicht im Wald, inmitten all der Männer im Lumber Camp, leben müssen. Er hatte sich gegen Petersham entschieden, da ihm die Nähe zu Boston wichtig war, geschäftlich hatte er immer mehr mit Holzhändlern zu tun, und es war nötig, die Überstellung und das Verladen der Stämme am Frachtbahnhof zu überwachen. Auf der Fahrt nach Concord war Eugen nervös, in Gedanken übte er die Worte, die er zu dem Holzunternehmer sagen würde. Als er mit dem Geschenk der Beers in der Hand vor ihm stand — Tabelander sah furchtbar aus und machte keine Anstalten, ihn hereinzubitten, obwohl es stark schneite —, nahm er all seinen Mut zusammen und sagte: »Hör mir bitte ein paar Minuten zu. Ich muss mit dir reden.«

»Worüber?«

»Ich habe Geld gespart und möchte als Partner bei dir im Geschäft einsteigen. Natürlich nicht zu gleichen Teilen, vielleicht zwanzig zu achtzig am Anfang.«

Der Mann starrte ihn ungläubig an. »Der Kellner will bei mir einsteigen.«

»Ich kann hart arbeiten und kenne mich mit Holz aus. Mein Vater besitzt eine Gattersäge, und im letzten Jahr habe ich in San Francisco mit Bauholz gearbeitet. Ich weiß, was gebraucht wird. Gib mir eine Chance. Ich rate dir zu einem eigenen Sägewerk, dann bist du nicht mehr abhängig, außerdem kannst du für fertig geschnittenes Bauholz mehr verlangen als für …«

Tabelander unterbrach ihn und trat zur Seite. »Ich weiß nicht, ob ich sagen soll, du bist zum schlechtestmöglichen Zeitpunkt gekommen oder genau zum richtigen.«

In der Küche saß eine junge Frau mit einem Kind an ihrer Brust, ein zweites lag in einem Stubenwagen, ein drittes, es war älter, spielte neben ihr auf dem Boden mit gefärbten Holzklötzen. Eugen erfuhr, dass Franks junge Ehefrau wenige Tage zuvor bei der Niederkunft gestorben war, eine junge Mutter aus Concord wohnte vorübergehend mit ihren Kindern im Haus, um seine Tochter Mary zu stillen.

»Ich werde dir wirklich eine Chance geben«, sagte Frank am nächsten Tag. »Ich glaube, mir wird eine Abwechslung guttun, und außerdem schulde ich dir einen Gefallen. Mein Cousin Paul lobt dich in höchsten Tönen.«