In den drei Sommern darauf fuhren sie in die Toskana, nach Südfrankreich — an einem Strand in der Nähe Nizzas küsste Julius sie zum ersten Mal — und wieder nach Meran, weil Luzia und Julius sich das wünschten. Im Oktober 1913 begann Julius Geisteswissenschaften in Wien zu studieren, er wollte Gymnasiallehrer für Deutsch und Geschichte werden, die Wochenenden verbrachte er in Linz. Luzia vermisste ihn und fühlte sich einsam in dem großen Haus, Valentin hatte geheiratet und lebte mit seiner Frau in einer eigenen Wohnung. Luzia hatte noch für ein Jahr das Lyzeum zu besuchen und wollte, weil Julius es sich wünschte, nach der Reifeprüfung ebenfalls nach Wien gehen. Sie hatte Bedenken, was das Leben in der Großstadt betraf, denn ihr war Linz bereits zu groß, zu laut, an den Wochenenden fuhr sie oft mit Julius und Martha aus der Stadt hinaus, um in der Natur zu sein.

»Wir werden sehen«, sagte Johannes dazu, und zu seiner Frau gewandt: »Mir wäre es lieber, Luzia bliebe bei uns, bis Julius fertig studiert hat, sonst bist du den ganzen Tag allein, Liebes.«

»Für mich ist das in Ordnung. Vorher wird aber geheiratet«, sagte Martha, dass die beiden ein Paar waren, freute sie.

Die beiden versprachen hoch und heilig, nach Julius’ Studium zurückzukehren, aber Martha lachte nur: »Versprecht nicht zu viel, das Leben kommt meist anders als geplant.«

Im Jänner 1914 kehrte bei Martha die Krankheit mit voller Wucht zurück, es wurden Tumore nicht nur in der zweiten Brust, sondern auch in anderen Organen entdeckt, die Ärzte stellten mit Bedauern fest, dass sie machtlos waren. Luzia ging nicht mehr zur Schule, Julius kehrte nach Linz zurück und begann als Buchhalter im väterlichen Betrieb zu arbeiten.

Luzia gestand er, dass er sich auf der Universität ohnehin nicht wohlgefühlt hatte, er aber befürchtete, seine Eltern zu enttäuschen, die meisten seiner Professoren erschienen ihm weltabgewandt, er konnte damit nichts anfangen.

»Ihr zwei seid mir in den letzten Jahren eine große Freude gewesen«, sagte Martha zu Julius und Luzia. »Ich habe gehofft, eure Hochzeit noch mitzuerleben und auch euer erstes Kind.«

Das Sterben ihrer Tante war für Luzia in vielen Augenblicken mehr, als sie glaubte, ertragen zu können. Die Patientin wand sich vor Schmerzen, zum Schluss erhielt sie hohe Dosen an Morphium und dämmerte vor sich hin. Luzia wechselte ihre Windeln und fand es entwürdigend, so sterben zu müssen. Da Martha keine fremde Pflegerin um sich haben wollte, wechselten sich Julius und sie in den Nächten ab, einer von ihnen schlief auf dem Sofa im Schlafzimmer, untertags war Luzia alleine mit der Kranken. Johannes und die verheirateten Söhne kamen hin und wieder vorbei, saßen für wenige Minuten am Krankenbett, hielten mit Tränen in den Augen Marthas Hand und tätschelten anschließend ihre. Als es dem Ende zuging, kam Elsa aus Salzburg angereist und unterstützte sie, vier Monate nach der Diagnose starb Martha.

Bisher hatte Luzia nur den Tod ihres Großvaters erlebt, er war alt gewesen und eines Nachts nicht mehr aufgewacht. Nachdem er nicht zum Frühstück erschienen war, war sie in sein Zimmer gegangen, um nachzusehen, er lag auf dem Rücken, die Tuchent war glattgestrichen, und die Hände hatte er auf Brusthöhe gefaltet, als hätte er gewusst, dass er nicht mehr aufwachen würde. Seine linke Gesichtshälfte, die normalerweise herunterhing, wirkte, als hätte er nie einen Schlaganfall gehabt, für die Neunjährige sah der alte Mann aus, als würde er friedlich schlafen und von etwas Schönem träumen.

Er hatte Zeit für sie gehabt, alle Zeit der Welt, wenn sich die Leute auf dem Hof vor lauter Arbeit überschlagen hatten. Aufgrund seines herabhängenden linken Arms und seines hinkenden Beins konnte er keine schwere Arbeit verrichten, weshalb er auf sie aufpasste, als sie klein war, und später auch auf Matthias. Er war froh, wieder eine Aufgabe zu haben, er war jahrelang untätig herumgesessen, uneins mit der Welt und sich selbst, und Veronika war froh, dass ihr jemand mit den zwei Kindern half. Als sie noch klein waren, saß er mit ihnen während der Heuarbeit in der Wiese, er zog sie in einem Leiterwagen hinter sich her, mühte sich ab, Figuren für sie zu schnitzen — einmal verletzte er sich dabei mit dem Schnitzmesser —, im Winter rodelte er mit ihnen auf dem Hang hinter dem Haus. Obwohl ihm das Sprechen nicht leichtfiel, erklärte er ihnen die Bäume, Pflanzen, Blumen, Insekten, er hatte eine Engelsgeduld, besonders mit ihr. Sie war sein Liebling, wohingegen die Aufmerksamkeit und liebevolle Fürsorge der Eltern hauptsächlich Matthias galt. Veronika hatte keine Kinder bekommen können, was für ihre Ehe eine große Belastung gewesen war, erst nach Luzias Adoption wurde sie schwanger, so etwas würde, so die Hebamme, öfter vorkommen. Als Luzia siebzehn Monate alt war, wurde der heiß ersehnte Sohn geboren. Der Großvater bestand darauf, seine Enkeltochter in den ersten Tagen ins Dorf zur Schule zu begleiten, und diese Gewohnheit behielt er bei, weil ihm das Gehen guttat, es verhindere das endgültige Rosten seiner Knochen, behauptete er. Auf dem Nachhauseweg erwartete der Großvater sie an der Weggabelung unterhalb des Hofes.

An ihrem achten Geburtstag kam er mit einer jungen zugerittenen Haflingerstute samt Sattel und Zaumzeug nach Hause, die Eltern fielen aus allen Wolken. Er habe sie einem Bauern im Nachbarort abgekauft, sagte er und verkündete, es sei das Pferd seiner Enkeltochter. Es kam zu einem großen Streit zwischen Vater und Sohn, den Luzia mitanhörte, Friedrich tobte, weil sein Vater noch so viel Geld besaß, um ein Pferd zu kaufen, und es obendrein vor ihm versteckt hatte. Den Großvater ließ das Toben seines Sohnes kalt — er konnte sehr eigensinnig sein, was Luzia an ihm liebte —, er sattelte das Pferd und half ihr beim Aufsteigen, tagelang führte er sie am Zügel, bis sie in der Lage war, alleine zu reiten. Den Eltern war das Pferd ein Dorn im Auge, sie fanden es unbescheiden und unpassend für eine Bauerntochter, man ging zu Fuß oder spannte es vor das Fuhrwerk, aber man saß nicht darauf. Luzia schien es, als hätte ihr Großvater Spaß daran, seinen Sohn zu ärgern.

Veronika zog ihm seinen besten Anzug an, der ihm zu groß war, er verschwand beinahe darin, drei Tage lang wurde er in der Stube aufgebahrt. Jeden Abend kamen Leute vorbei, um Gebete zu sprechen und vom alten Ederbauern Abschied zu nehmen. Luzia trauerte sehr um ihren Opa, und obwohl tagelang eine ernste, gedämpfte Stimmung im Haus herrschte, wunderte sie sich darüber, dass außer ihr und Matthias niemand eine Träne um den Verstorbenen vergoss, und sie stellte die Mutter zur Rede.

»Es gibt keinen Grund zum Weinen«, sagte Veronika. »Euer Großvater ist jetzt bei Gott. Er hat ein langes Leben gelebt und ist friedlich gestorben.«

Woraufhin Luzia zu dem Schluss kam, dass Erwachsene nur um Verstorbene weinten, wenn sie entweder zu früh gegangen waren oder heftige Schmerzen erleiden hatten müssen. Jemanden zu vermissen war offensichtlich kein Grund dafür. Als sie das qualvolle Sterben ihrer Tante hautnah miterlebte, erschienen ihr Veronikas Worte nicht mehr so herzlos, wie sie ihr als Kind vorgekommen waren.

Gemeinsam mit Elsa und Julius sortierte sie Marthas Sachen aus. Was ihr gefiel, durfte sie behalten, den Rest erhielt ein Heim, das bedürftigen Frauen Unterschlupf gewährte, Martha hatte dort vor ihrer Erkrankung oft ausgeholfen. Luzia nahm einige wenige Kleider, Röcke und Blusen an sich, außerdem einen langen Wintermantel aus Wildleder und mit einem Pelzkragen, Johannes hatte ihn im ersten Ehejahr seiner jungen Frau, der im Winter ständig kalt war, zu Weihnachten geschenkt. Der Mantel hatte es Luzia vom ersten Augenblick an angetan, Martha hatte sie als Vierzehnjährige hineinschlüpfen lassen, sie hatte sich vor dem Spiegel gedreht und war sich mondän und verwegen gleichzeitig vorgekommen.

Da es keinen Sinn ergab, das Schuljahr fertig zu machen — sie hatte zu viel versäumt —, führte Luzia den Haushalt. Es gab nicht viel zu tun, es war ruhig geworden. Als würde er sein Zuhause meiden, war ihr Onkel seit dem Begräbnis den ganzen Tag unterwegs und kam erst spät nachts zurück. Damit Luzia nicht so viel alleine war, nahm Julius am Nachmittag die Bücher aus dem Kontor mit und arbeitete zu Hause. Seit Marthas Tod waren sie oft zu zweit, ohne einen Aufpasser an ihrer Seite. Johannes schien sich um Konventionen wenig zu scheren oder ihnen zu vertrauen, beides gefiel Luzia. Manchmal fühlte es sich an, als ob sie ein jung verheiratetes Paar wären und das Haus ihnen gehörte, sie kümmerten sich um alles und nahmen die meisten Mahlzeiten zu zweit ein. Die Gespräche über eine gemeinsame Zukunft wurden konkreter, Luzia gab Julius zu verstehen, dass sie später auf dem Land leben wolle, in den vergangenen Jahren war ihr bewusst geworden, dass sie auf Dauer in der Stadt unglücklich sein würde.

»Am liebsten würde ich in den Bergen wohnen«, sagte sie. »Und am liebsten hätte ich ein Pferd, einen Hund, ein paar Hennen und ein paar Katzen.«

Es war ein heißer Tag im Juni, sie lagen nebeneinander auf einer Decke im Garten, er nahm einen Grashalm und fuhr damit ihren Unterarm entlang.

»Dann werde ich eben Bergdorfschullehrer«, sagte Julius, und sie lachte.

Er überlegte laut: Er würde im Herbst nicht nach Wien gehen, sondern in Linz die Lehrerbildungsanstalt besuchen, die meisten Jahre vom Gymnasium würde man ihm sicherlich anrechnen, nach Wien auf die Universität brächten ihn keine zehn Pferde zurück.

»Es muss ohnehin befriedigender sein, Dorfkinder zu unterrichten als überhebliche Gymnasiasten. Wenn ich mit der Ausbildung fertig bin, ziehen wir aufs Land, wo immer du auch hinwillst.«

»Ich hoffe, du stellst dir das Landleben nicht romantischer vor, als es ist.«

»Ich stelle mir alles vor, was du willst«, sagte er und küsste sie.

Sie wusste, dass Julius Schwierigkeiten mit seinem Vater bekommen würde, wenn er verkündete, ein einfacher Volksschullehrer werden zu wollen, und hoffte, dass er sich durchsetzen konnte.

Wenige Tage darauf, sie kam gerade vom Markt, sah Luzia ihren Onkel mit einer Frau an seiner Seite aus einem Kaffeehaus kommen, sie drehte sich schnell weg, später wusste sie nicht, ob sie es Julius erzählen sollte oder nicht, und noch später kam sie nicht dazu, denn am Abend war es in aller Munde: Der Thronfolger und seine Frau waren in Sarajevo ermordet worden.

Das furchtbare Ereignis hielt alle in Atem, und die Stimmung im Haus, in der Nachbarschaft, in der gesamten Stadt war aufgeheizt. Johannes verbrachte wieder mehr Zeit zu Hause, er erhielt zahlreichen Besuch von Freunden und Kollegen aus der Politik. Sie ereiferten sich über die verzwickte politische Situation in Europa, die meisten waren der Meinung, den Serben gehöre eine Lektion erteilt, nur Einzelne bezweifelten die Mitwisserschaft der serbischen Regierung an dem Attentat. Einen Monat später erklärte der Kaiser den Krieg, die Stadt ähnelte einem brodelnden Kessel, Johannes feierte die Kriegserklärung mit einem kleinen Sektempfang, der in einem Saufgelage endete. Obwohl Luzia ihn beschwor, es nicht zu tun — sie konnte sich Julius beim besten Willen nicht auf dem Schlachtfeld vorstellen —, meldete er sich wenige Tage darauf freiwillig. Er war dem Druck seines Vaters nicht gewachsen gewesen, Luzia war wütend auf ihren Onkel.

In der Nacht vor seiner Abreise in die Kaserne, in der er seine kurze Ausbildung absolvieren sollte, schlich er zum ersten Mal in ihr Zimmer. Luzia vermutete, dass es am Alkohol lag, denn beim Abschiedsessen war viel Wein geflossen. Seine älteren Brüder waren mit ihren Gattinnen eingeladen gewesen, sie sollten in den nächsten Tagen alle in den Krieg ziehen, zwei von ihnen waren einberufen worden, drei hatten sich freiwillig gemeldet, Johannes hatte keine Ruhe gegeben. Julius, im Nachthemd, setzte sich an die äußerste Bettkante und gestand ihr, dass er vor den Kämpfen, die ihm so gut wie sicher bevorstanden, entsetzliche Angst hatte.

»Ich glaube nicht, dass ich mich als tapferer Soldat erweisen werde«, sagte er kleinlaut. »Ich sehe aber auch keine Möglichkeit, mich um den Kriegsdienst zu drücken, ohne als Feigling dazustehen. Ich träume seit Tagen von allen möglichen grausamen Todesarten.«

Er sprach mit gesenktem Blick, als wären seine Worte an seine nackten Zehen gerichtet. Luzia, die aufgerichtet und mit offenen Haaren in ihrem Bett saß, streckte ihre Hand aus und legte sie über die seine auf sein Knie. Ihr war bewusst, dass sie eigentlich hätte sagen müssen, dass Pflicht und Ehre es verlangten, das Heimatland tapfer zu verteidigen. Die anderen Frauen hatten während des Essens ständig solche Sätze von sich gegeben, doch ihr schnürte sich bei dem bloßen Gedanken die Kehle zu. Sie hätte sich auch einfacherer Floskeln bedienen können wie zum Beispiel »Nur Mut« oder »Hab keine Angst« oder »Alles wird gut«. Ihr kamen diese tröstlichen Redewendungen in dem Augenblick aber entsetzlich verlogen vor, weshalb sie nichts sagte, sie streichelte einfach nur weiter seine Hand, bis sie plötzlich — vermutlich ebenfalls unter dem Einfluss des Alkohols — ihre Bettdecke hob. Julius sah sie mit großen Augen an und schlüpfte neben sie, sie breitete die Decke über ihn. Seitlich zueinander gewandt lagen sie da, sie legte ihre Hand auf seinen Brustkorb, und er küsste sie.

»Darf ich dich sehen?«, fragte er flüsternd.

Sie halfen sich gegenseitig aus ihren Nachthemden, Luzia legte sich auf den Rücken, Julius betrachtete sie, andächtig streichelte er ihre Brüste, bevor er sich hinunterbeugte, sie mit kleinen Küssen bedeckte und schließlich ihre Brustwarzen zwischen seine Lippen nahm. Sein Körper leuchtete weiß und war mit Leberflecken übersät, seine Haut war weich. Sie spürte etwas in ihrem Schoß, was vermutlich allgemein als Lust bezeichnet wurde, es war warm und weich und kribbelte, sie kannte das Gefühl gut genug. Dasselbe hatte sie in den Nächten überkommen, wenn sie an Julius gedacht und sich gewünscht hatte, er würde den Mut aufbringen und in ihr Zimmer schleichen. Wenn es stark und fordernd war und sie nicht einschlafen ließ, nahm sie Zuflucht zu Trostmitteln, die sie mit fünfzehn zum ersten Mal entdeckt hatte: ein Kissen und ihre eigenen Finger. Damals machte sie sich große Sorgen, weil sie glaubte, die Einzige zu sein, die diese Möglichkeit bei sich entdeckt hatte, und sie müsste obendrein ein äußerst schlechtes, verdorbenes Wesen sein, wenn sie zu solchen Dingen fähig war und nicht die Disziplin aufbrachte, dem zu widerstehen. Voller Verzweiflung befürchtete sie, dass sie am nächsten Tag mit einem sichtbaren Mal gezeichnet sein würde, mit rotem Kopf war sie am Frühstückstisch gesessen. Als die resolute und aufgeklärte Antonia sie in Sachen einsamer Liebe eines Besseren belehrte, war sie sehr erleichtert.

»Pfff, Selbstdisziplin! Ach du meine Güte! Ich glaube sogar, diese hier bekommen das besser hin, als es ein Mann könnte«, sagte Antonia, hielt dabei ihre rechte Hand in die Höhe und bewegte ihre Finger. »Und sie schwängern mich auch nicht.«

Die Freundin, mit der sie heimlich hin und wieder erotische Bücher las, war überzeugt davon, dass alle Frauen, jung oder alt, zu diesem Mittel griffen, und vertrat die schockierende Ansicht, dass es genauso normal sei, wie wenn man einen Kuchen verdrückte, weil einem dieser schmeckte. Warum also sollte man ihn sich verkneifen? Antonia sprach ungezwungen über die Sache, nach Luzias Empfinden fast frivol.

»Ich habe noch nie so etwas Schönes gesehen«, murmelte Julius.

Während er sie am ganzen Körper streichelte und mit seinen Lippen liebkoste, wunderte sie sich, dass ihr Gefühl im Schoß nicht drängender und fordernder wurde. Plötzlich ergoss er sich mit einem Stöhnen an ihrer Seite, es war ihm unendlich peinlich, sie beruhigte ihn, zu ihr gewandt und mit der Hand auf ihrem Bauch schlief er ein, sie lag noch lange wach.

Am Morgen begann Julius sie wieder zu küssen und zu streicheln, sein erregtes Glied drückte gegen ihren Oberschenkel, sie hielt seine Hand fest und sagte: »Julius, es ist besser, wir heben uns das für den Tag deiner Heimkehr auf.«

Er hörte auf der Stelle auf, sie zu berühren, und sie fragte sich für einen kurzen Augenblick, ob sie es bevorzugt hätte, wenn er nicht derart folgsam gewesen wäre. Ihr fiel eine Aussage Antonias ein, die diese über zukünftige Ehemänner gemacht hatte: »Zumindest lenkbar sollten sie sein.«

Er redete noch eine Weile, beschwor Bilder herauf von einem gemeinsamen Leben auf dem Land, er als Lehrer von Kindern, die harte Arbeit gewohnt waren, die vermutlich dankbar waren für jedes nette Wort, sie in ihrem Obstgarten, als Bewirtschafterin ihres eigenen kleinen Hofes. Dann stand er auf, schlüpfte in sein Nachthemd, er sah ein bisschen lächerlich darin aus, und schlich aus ihrem Zimmer, beim Frühstück war er verlegen, am Bahnhof überkam sie die Ahnung, dass sie ihn zum letzten Mal sah.

»Bitte fahr nicht«, sagte sie, sie umarmte ihn fest und begann zu weinen. »Bitte steig nicht in diesen Zug, bitte bleib bei mir.«

»Mach es ihm nicht schwer, Luzia«, sagte ihr Onkel und hielt sie an der Schulter fest. »Er ist bald wieder zurück.«

Sie konnte sich den ganzen Tag nicht beruhigen, wurde immer wieder von heftigen Weinkrämpfen geschüttelt.

Johannes stellte ihr frei, das letzte Schuljahr zu absolvieren oder als Verkäuferin in einem seiner Juweliergeschäfte zu arbeiten, sie war erstaunt über sein Angebot, es war verpönt, eine Frau für den Verkauf einzustellen.

»Du kannst natürlich auch den Haushalt führen, bis Julius zurück ist, wenn dir das lieber ist, ich werde dich angemessen bezahlen. Aber ich glaube, ich kenne dich mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass dich Haushaltsführung alleine nicht befriedigt.« Sie war neugierig und nahm die Stelle im Geschäft an.

Ende September erhielt Johannes die Nachricht, dass sein Sohn Julius am 11. September bei der Kleinstadt Rawa-Ruska in der Nähe Lembergs gefallen war, wobei er sich vor seinem Tod durch besondere Tapferkeit ausgezeichnet hatte. Ein Brief eines Kameraden, der wenige Tage später ankam, schilderte die genauen Umstände. Bei einem verlustreichen Rückzugsgefecht waren vier andere Männer angeschossen worden, der Gruppenführer hatte sie zurücklassen wollen, Julius hatte sich geweigert und einen nach dem anderen vom Feld in den Sanitätsunterstand gezogen, zum Schluss war er vom Feind regelrecht durchlöchert worden. Ein Mann war nach der Amputation seines Beines gestorben, doch die drei anderen hatten überlebt. Dem Brief war das Foto von Luzia beigelegt, das Julius bei sich gehabt hatte. Sie brach zusammen, schlug mit Fäusten auf ihren Onkel ein, die darauffolgenden Tage vergingen für sie wie im Nebel. Mit Blick auf Marthas Bild sagte Johannes: »Wenigstens musste sie das nicht mehr miterleben.«

Er war nur noch ein Schatten seiner selbst, er hatte einen seiner Söhne verloren, ein zweiter lag verletzt in einem Lazarett in der Nähe von Lemberg, die Presseberichte über die Situation an der Ostfront setzten ihm zusätzlich schwer zu, eine klägliche Niederlage folgte der anderen, Luzia konnte dennoch kein Mitleid für ihn aufbringen. Sie gab ihm zu verstehen, dass sie — wie ihre Freundin Antonia — die Ausbildung zur Hilfskrankenschwester machen wolle, um in einem Lazarett an der Front zu arbeiten. Er zeigte ihr einen Brief von seinem Bruder, der bereits Tage zuvor angekommen war, in dem dieser mit seiner ungelenken Handschrift schrieb, dass die Nichte — Friedrich schrieb tatsächlich die Nichte — dringend auf dem Hof benötigt wurde, viele Knechte hatten sich freiwillig gemeldet oder waren eingezogen worden, sie wüssten nicht mehr, wo ihnen der Kopf stand. Zurück auf den Ederhof zu den wortkargen, lieblosen Verwandten war das Letzte, was sie wollte, sie begann regelrecht zu betteln, ihr das nicht anzutun.

»Ich möchte meinen Beitrag im Krieg leisten«, sagte sie, es entsprach nicht ganz der Wahrheit, sie wollte keinen Anteil daran haben, den schrecklichen Krieg zu unterstützen, sondern den einzelnen Soldaten zur Seite stehen, die verletzt waren, im Sterben lagen. Sie hoffte, ihn damit zu erweichen, dieselbe Floskel hatte Johannes gegenüber seinen Söhnen mehrmals vorgebracht: Es ist eure heilige Pflicht, euren Beitrag zu leisten.

»Ich kann es ihm nicht abschlagen«, sagte Johannes zerknirscht. »Du bist rechtlich seine Tochter und ihm Gehorsam schuldig, solange du minderjährig bist.«

Luzia hätte am liebsten erwidert, dass derselbe Einwand vor fünf Jahren von seinem Bruder gekommen war und dieser ihn damals nicht daran gehindert hatte, sie trotzdem in die Stadt mitzunehmen. Was hatte er im Zug zu ihr gesagt? Solch ein aufgewecktes Mädchen dürfe nicht auf dem Land versauern. Es würde für Gerede sorgen, wenn er alleine mit einer jungen Frau im Haus lebe, fuhr er fort, aber sie wusste, es gab einen anderen Grund, er hieß Annamaria und war eine Witwe um die vierzig. Sie hatte die beiden einige Male zusammen gesehen, vermutlich stand sie ihm im Weg oder machte ihm ein schlechtes Gewissen, weil sie ihn allein durch ihre Anwesenheit an Martha erinnerte und daran, dass sie erst wenige Monate unter der Erde lag.

»Die Ausbildung dauert nur sechs Wochen, dann bin ich weg«, warf sie ein, er sah sie geistesabwesend an und nahm ihre Hand: »Luzia, du bist es ihnen schuldig.«

Er brachte sie zum Bahnhof, sie bedankte sich artig bei ihm dafür, dass sie herzlich aufgenommen worden war, dass sie die Schule hatte besuchen dürfen, vieles gesehen, erlebt und erfahren hatte.

»Es freut mich, dass du es so siehst und wir nicht im Streit auseinandergehen«, sagte Johannes. »Wenn ich dich vor fünf Jahren nicht abgeholt hätte, hättest du wahrscheinlich etwas anderes als das Leben in einem Dorf und das Rackern auf einem Bauernhof nicht kennengelernt.«

Was vermutlich besser für mich gewesen wäre, dachte sie, was man nicht kennt, kann man nicht vermissen.