Am elften Tag des Kampfes um den Monte Valbella erwischten Granatsplitter Tonis Beine. Carl fand ihn in einem Trichter, in den er auf allen vieren gekrochen war, um Deckung zu finden und auf Hilfe zu warten, ein Gefallener lag neben ihm. Die Versuche, den Verletzten aus dem Trichter zu schaffen und zum Sanitätsunterstand zu bringen, scheiterten, der Artilleriebeschuss war zu heftig, und Carl hätte mit Toni auf dem Rücken diesem nicht ausweichen können. Er hatte keine andere Möglichkeit, als eine Beruhigung des Feuers abzuwarten und mit den Sanitätern zurückzukommen. Carl band, so gut es ihm möglich war, das linke Bein ab, es war schlimmer getroffen als das rechte, das Blut floss unaufhörlich. Toni richtete sich auf und lehnte sich an die Erdwand, Carl zog dem Toten den Mantel aus und breitete ihn über seinen Freund.

»Glaubst du, eine Beinprothese wird mir stehen?«, fragte Toni und versuchte zu lachen, scheiterte aber kläglich.

»Ich werde dir eigenhändig eine schnitzen«, sagte Carl.

»Herrgott nein, ich will ja keinen Klumpfuß, sondern etwas Zierliches, das kommt bei den Frauen an.«

»Ich bin ein begnadeter Schnitzer, du bekommst die grazilste Prothese, die es je gegeben hat, du wirst schon sehen. Ich male sie dir auch an, wenn du willst. Grün mit gelben Dotterblumen? Oder doch einfärbig hellblau?«

In dem Moment, in dem Carl aus dem Trichter kletterte — das Feuer hatte etwas nachgelassen —, sprang ein junger italienischer Soldat am anderen Ende hinein und ließ sich schwer atmend nieder, um sein Carcano zu laden. Als er die beiden bemerkte, zeichnete sich auf seinem Gesicht pure Verzweiflung ab. Carl schätzte ihn auf siebzehn, achtzehn, er hob seine Arme, wies mit dem Kopf auf Toni, wiederholte das Wort ferito, legte langsam sein Gewehr auf den Boden. Er sah Toni unter dem Mantel nach seiner Waffe tasten und bedeutete ihm mit den Augen, es nicht zu tun, der Italiener bemerkte ihren Blickwechsel, verlor die Nerven und stürzte schreiend auf Carl zu. Sie kämpften mit bloßen Händen miteinander, schlugen sich die Fäuste ins Gesicht, würgten einander, Carl konnte den Angstschweiß des Burschen riechen. Er rammte ein Messer in Carls Oberschenkel, gleichzeitig feuerte Toni einen Schuss ab — der junge Soldat stand endlich mit dem Rücken zu ihm —, tödlich getroffen sank er zu Boden.

»Sag nichts, ich weiß, ich bin ein Idiot«, sagte Carl, während er seine Wunde begutachtete, sie war tief und blutete stark.

»Du bist kein Idiot, du bist ein gottverdammter Idiot!«

Der stärker werdende Blutverlust verhinderte, dass er aus dem Trichter klettern konnte, er gab auf und ließ sich neben Toni nieder.

»Sie werden uns finden«, sagte er, mehr um sich selber zu beruhigen.

Als es dämmerte, tauchte eine Silhouette über ihnen auf, eine Fackel wurde in den Trichter gehalten.

»Hier sind zwei Verletzte!«, rief Carl.

Der Schatten bewegte sich eine Weile nicht, um sich dann langsam zu entfernen.

»Nicht weggehen! Wir brauchen Sanitäter!«, brüllte Carl.

Aus der Ferne hörte er Neuperts Stimme: »Da ist niemand. Wir suchen dort drüben weiter.«

Dieses Schwein, dachte Carl, dieses elende Schwein lässt uns hier tatsächlich verrecken. Er gab nicht auf und schrie weiter, hoffte, dass die Männer ihn hörten, doch der starke Wind, der über den Trichter brauste, schluckte alles. Die ganze Zeit über redete er beruhigend auf Toni ein, um ihn wach zu halten, nach Stunden konnte er seine Augen selbst nicht mehr offen halten und schlief kurz ein. Als er hochfuhr, war es windstill, und Schneeflocken tanzten in der Luft, es war erschreckend still. Sein Freund war tot.

Mit Toni fiel der letzte Mann der ersten Gruppenbesetzung, die er im August 1914 in dem kleinen Nest Mokryany nahe Lemberg zugeteilt bekommen hatte. Schon am ersten Abend zeigte sich, dass der Bauernbursche Anton Eisl, der Jüngste in der Gruppe, ein lustiger Kerl war, ein Spaßvogel, der die Leute gerne mit Scherzen unterhielt. Nach stundenlangem Exerzieren saßen sie im Gastgarten eines kleinen Dorfwirtshauses, um einen zu heben, er war gesteckt voll mit Soldaten des 3. Bataillons des k. u. k. Infanterieregiments Nr. 59. Jeder bekam nur eine Maß Bier, mehr hatte der verzweifelte Wirt nicht, er war völlig überfordert mit der ungewohnt hohen Gästeanzahl. Toni schaute eine Weile trübsinnig in sein leeres Glas, sprang dann auf, deutete mit dem Zeigefinger Richtung Osten und schrie aufgeregt irgendetwas von Russen im Anmarsch, und während die Männer hochsprangen und schauten, schnappte er sich zwei Gläser und trank sie leer. Carl konnte die Schlägerei, die es beinahe gegeben hätte, gerade noch verhindern.

»Was für ein lustiges und hitzköpfiges Küken wir da haben«, sagte er zu dem Burschen auf dem Weg zurück zu den Unterkünften und nahm ihn spaßhalber in den Schwitzkasten.

Noch in der Nacht wurde Carl von einem Mann aus seiner Gruppe, Paul Glück, und einem Sanitäter gefunden, sie waren skeptisch geworden und hatten die Suche erneut aufgenommen. Da es nicht aufhörte zu schneien, verzögerte sich der Transport der Verwundeten ins Tal, Carl musste im Sanitätsunterstand ausharren, die Wunde wurde gereinigt und verbunden, er bekam Fieber. Neupert verhielt sich, als wäre nichts geschehen, Carl stellte ihn zur Rede und kündigte an, er werde den Vorfall dem Bataillonskommandanten melden, unter den Männern entstand Gerede. Obwohl starke Lawinengefahr herrschte, kam am späten Nachmittag des zweiten Tages der überraschende Befehl zum sofortigen Abtransport der Verwundeten ins Campo-Mulo-Tal, sie mussten mit großem Abstand hintereinander getragen werden. Als am Beginn der Kolonne ein lauter Tumult entstand — ein Schuss war zu hören, jemand schrie — und der ganze Zug stoppte, entfernten sich die zwei Träger, um nachzusehen, Carl blieb auf der Trage zurück. Später sollte er erfahren, dass ein Schuss in der Nähe abgefeuert worden war und man bereits an einen Angriff der Italiener geglaubt hatte, ein Mann war leicht verletzt, die Kugel hatte ihn am Oberarm gestreift.

Er sah einen Mann auf sich zukommen, konnte ihn aber aufgrund des gleißenden Schnees nicht erkennen. Der Mann verließ wenige Meter, bevor er bei ihm ankam, den ausgetretenen Pfad und stapfte den Hang hinauf, wobei er bis zu den Oberschenkeln im Schnee versank, schließlich verschwand er aus Carls Sichtfeld. Kurze Zeit darauf begann Schnee herabzurieseln, der immer mehr und bedrohlicher wurde, Carl rollte von der Trage, lag auf dem Bauch, drückte sich an die Böschung und krallte sich an einem Gestrüpp fest, die Trage wurde den Hang hinuntergespült. Doch so schnell es begonnen hatte, endete das Ganze auch wieder, Carl, über und über mit Schnee bedeckt, brauchte eine Weile, um sich zu befreien und auf den Rücken zu drehen, seine Wunde schmerzte höllisch. Er sah einen Mann auf sich zukommen, als dieser bei seinen Füßen stand und auf ihn herabschaute, erkannte er, dass es Neupert war.

Siedend heiß wurde ihm bewusst, dass er derjenige gewesen war, der den Schnee von oben losgetreten hatte. Neupert musste gehofft haben, eine große Lawine würde entstehen und ihn mitreißen. Mit einem Blick hatte Neupert erkannt, dass sie alleine waren und sich durch eine hohe Schneewechte auf dem Abhang oberhalb des Weges die einmalige Gelegenheit bot, sich seiner endgültig zu entledigen. Wegen eines Lawinentoten, der ohnehin schon verwundet war, würde ihn niemand zur Rechenschaft ziehen. Carl traute ihm sogar zu, das Ganze geplant zu haben, indem er für einen Tumult am Anfang der Kolonne sorgte.

Neupert musterte ihn und bückte sich langsam, Carl — er tat, als wäre er benommen — ließ ihn nicht aus den Augen. Todesangst kroch in ihm hoch, und gleichzeitig überkam ihn unbeschreiblicher Hass auf den Mann, der ihn monatelang schikaniert und seinen Freund auf dem Gewissen hatte. Ruckartig richtete er sich auf, packte Neupert mit beiden Händen an der Kehle und versetzte ihm mit seinem gesunden Bein einen heftigen Schlag gegen das Knie. Neupert wurde von Carls Angriff völlig überrascht, sie rangen miteinander, ihr Kampf dauerte nur kurz, Neupert stürzte den steilen Abhang hinunter.

Carl sank schwer atmend auf den Schnee zurück — seine Wunde blutete sehr stark — und er sah im selben Augenblick einen seiner Männer nur wenige Meter hinter ihm stehen, sein Gesichtsausdruck war fassungslos, offenbar hatte er alles mitangesehen.

Er war bewusstlos, als er im Lazarett in Belluno ankam. Da keine Trage mehr verfügbar gewesen war, hatten ihn zwei seiner Männer abwechselnd auf dem Rücken getragen, was sehr schmerzhaft für ihn gewesen war, im Tal hatte man die Verwundeten in zwei Lastwagen verfrachtet, die Erschütterungen während der Fahrt waren eine weitere Tortur gewesen. Nachdem er aufgewacht war, griff er panisch an sein Bein.

»Keine Sorge, es ist noch da«, sagte eine Krankenschwester, sie half ihm, sich aufzurichten, und reichte ihm ein Glas Wasser. »Die Wunde ist gut vernäht, wir hoffen, dass sie sich nicht entzündet.«

Anfangs genoss Carl den Aufenthalt im Lazarett, kein eisiger Wind wehte, alles war sauber, er schlief in einem Bett, erhielt zwei warme Mahlzeiten am Tag, und obendrein waren die Schwestern um ihn bemüht. Doch schnell kroch die Angst in ihm hoch, jeden Augenblick vom Arzt gesundgeschrieben zu werden und an die Front zurückzumüssen. Seine Verletzung war nicht besonders schlimm, sie heilte gut, zu seinem Glück, wie die Schwestern immer wieder betonten. Was wissen sie schon, dachte er bitter. Er ertappte sich dabei, sich eine schwere Verwundung zu wünschen, nur damit er nicht wieder an die Front musste, alles, was er sich wünschte, war nach Hause fahren zu dürfen.

Das Lazarett war in einem ehemaligen Schulgebäude untergebracht. Auf dem Gang und in den vier Klassenzimmern versorgten ein Arzt, zwei Sanitäter und vier Krankenschwestern die Patienten, bis sie entweder an die Front entlassen oder zur weiteren Erholung in die Kriegsspitäler nach Bozen, Meran oder Innsbruck verlegt wurden. Ein weiteres Klassenzimmer diente als Operationsraum, in den Räumen des Dachbodens schliefen die Schwestern und Sanitäter, die keinen Nachtdienst hatten, der Arzt war in einem Gasthaus in der Nähe untergebracht. Neben Carl lag ein Gefreiter aus Graz, dessen Knie von Kugeln zertrümmert worden war, sein Name war Andreas Mitterer, vor dem Krieg war er Elektroingenieur gewesen, er würde für den Rest seines Lebens ein steifes Bein haben.

»Immerhin habe ich noch eines«, sagte er.

»Und du darfst nach Hause«, sagte Carl.

In wenigen Tagen sollte Andreas entlassen werden, die beiden begannen Schach zu spielen, um sich die Zeit zu vertreiben. Manchmal passierte es, dass sie sich gegenübersaßen und es plötzlich stockdunkel wurde, woraufhin einer den anderen spaßhalber beschuldigte, die Figuren verschoben zu haben. Der Generator, der das Lazarett mit Strom versorgte, hatte eine Reparatur nötig, immer wieder ging das Licht in den Räumen aus, und die Schwestern mussten Petroleumlampen aufstellen.

Auf der anderen Seite lag ein Sanitäter, dessen untere Gesichtshälfte, unterhalb der Nase, dick verbunden war, Carl erfuhr von einer Schwester, dass der Mann Milan hieß, aus Laibach stammte und vor dem Krieg Arbeiter in einer Lederfabrik gewesen war. Auf dem Monte Pertica war er in feindliches Feuer geraten, er hatte einen Verwundeten auf die Trage gehoben, sich aufgerichtet, als ihn eine Kugel am linken Unterkiefer traf. Um essen und trinken zu können, musste eine Schwester jedes Mal den Verband abwickeln und ihn wie ein kleines Kind mit Brei und Wasser füttern, die Sache war sehr schmerzhaft für ihn und meistens nur mit Morphium möglich. Milan wartete auf ein Bett im Allgemeinen Krankenhaus in Wien, wo ein plastischer Chirurg sein Gesicht einigermaßen wiederherstellen sollte. Wenn das Morphium nachließ, wanderte er rastlos herum, am liebsten begleitete er Carl und Andreas in die Laube hinter der Schule und sah ihnen beim Rauchen zu, er ging nah an sie heran und sog den Rauch gierig über die Nase ein, wobei ein schniefendes und rasselndes Geräusch zu hören war.

Vor dem Krieg hatten sich die Schulkinder während der Pausenzeiten in der Laube aufgehalten. Während Carl in die verhärmten Gesichter der Männer schaute, denen ein Arm oder ein Bein fehlte, deren Kopf verbunden war, die auf Krücken gingen, stellte er sich die lärmenden Mädchen und Buben beim Spielen vor und dachte an seine Kinder, die er eines Tages hoffte zu haben.

Bald bin ich fünfunddreißig, dachte er, und ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht. Und wenn er zu Ende war, würde alles seine Zeit brauchen: Man musste um eine Frau werben und vorher eine finden, um die es sich zu werben lohnte — das stellte seiner Meinung nach die größte Schwierigkeit dar —, sie dazu bringen, mit ihm das Leben teilen zu wollen, das Aufgebot bestellen, eine Hochzeit feiern, den gemeinsamen Hausstand einrichten, sich aneinander gewöhnen, beten, dass es nicht zu lange dauerte, bis die Frau in guter Hoffnung war, und schließlich warten, bis — so Gott es wollte — ein gesundes Kind geboren wurde. Für ihn hatte der Aufgabe, eine Familie zu gründen, schon immer etwas Schweres angehaftet. Konnte es sein, dass es nicht mehr nötig war, die richtige Frau zu finden, die das Leben mit ihm teilen wollte, da er sie bereits gefunden hatte? Er dachte an Luzias letzte Zeile in ihrem Brief: Bitte stirb nicht und kehr zu mir zurück, Deine nur an Dich denkende Luzia. Wenn er an sie dachte, überkam ihn ein überwältigendes Gefühl, durfte er sich tatsächlich Hoffnung machen, sie zur Frau zu bekommen? Sie war zwölf Jahre jünger als er, was sah sie in ihm? Und was würde ihre Familie zu einer Verbindung — ausgerechnet — mit einem Brugger sagen?

Die Leute in seiner Umgebung hatten sich vor dem Krieg gewundert, warum er keine Anstalten machte, sich eine Frau zu suchen, sie hatten ihm immer wieder versichert — vermutlich um ihm Mut zu machen —, dass diese Jahre die schönsten im Leben eines jungen Mannes darstellten. Er konnte nicht nachprüfen, ob sie als frisch verliebte Menschen glücklich gewesen waren, er konnte ihnen nur glauben, wenn sie es ihm erzählten, aber das, was von ihrem Glück geblieben war, empfand er als bitter und erbärmlich. Seine Mutter sah mit ihren geistesabwesenden Augen durch seinen Vater hindurch, und dieser ging mit ihr um, als wäre sie ein rohes Ei, das auf keinen Fall zerbrechen durfte. Seine Tante Fini wurde von ihrem Mann Vinzenz gar nicht angesehen, er redete auch nicht mit ihr, jahrelang nicht, um nicht zu sagen, jahrzehntelang. Bevor er aufhörte, mit ihr zu reden, beschimpfte er sie als ausgedörrt und nutzlos — Carl hatte es als Achtjähriger mit eigenen Ohren gehört —, sie hingegen tat täglich, als wäre die Welt in Ordnung, was Carl ihr im Grunde hoch anrechnete. Denn die Lästertiraden seiner Tante Katharine über ihren Mann Alfred, bei denen sie kein Blatt vor den Mund nahm, fand er derart hässlich, dass es ihm manchmal die Sprache verschlug. Bei den meisten jungen Frauen aus dem Dorf, die sie im Laufe der Jahre für den Haushalt einstellten, bekam er mit, wie sie sich verliebten — sie gingen dann summend ihrer Arbeit nach —, heirateten und innerhalb weniger Jahre verbitterten. Carl verzichtete lieber auf ein wenig überschwängliches Glück zu Beginn, wenn dafür später ein Rest davon übrig bleiben sollte. Ihm fiel ein Spruch ein, den sein Bruder Eugen als Kind eine Zeitlang ständig von sich gegeben hatte, niemand wusste, woher er ihn hatte: Finden Sie Ihr Glück und behalten Sie es.

Elisabeth besuchte ihn, Carl freute sich übermäßig darüber, er hatte sie das letzte Mal vor mehr als einem Jahr, im Herbst 1916, in Meran gesehen. Sie war ihm damals verändert vorgekommen, was nicht nur an der neuen Frisur lag, sondern auch an dem gekürzten Rock, welcher nicht bis zu den Knöcheln reichte, sondern nur bis zu den Unterschenkeln, außerdem rauchte sie wie ein Schlot und wirkte durch ihre Gesten und ihre Sprechweise abgebrüht. Ihre Haare hatte sie selbst in Schulterlänge abgeschnitten, woraufhin sich ihre Locken verstärkt hatten, sie kräuselten sich bis zum Kinn hoch. Carl war zunächst schockiert, musste jedoch zugeben, dass das kurze Haar ihr hübsches herzförmiges Gesicht besser zur Geltung brachte als der monströse Dutt, den sie bisher getragen hatte.

Sie überreichte ihm einen gefüllten Rucksack, er staunte nicht schlecht, als er ihn öffnete, er enthielt Speck, Käse, Fleischkonserven, Brot, sogar Zigaretten.

»Wie bist du an die Sachen gekommen?«

»Ich bin mit der Köchin befreundet«, sagte sie. »Heb sie dir für später auf, wenn du wieder an der Front bist.«

Carl schlüpfte in seinen Mantel, und sie gingen nach draußen, um in der Laube zu rauchen, die Männer starrten Elisabeth an, es schien ihn mehr zu stören als sie selbst.

»Was genau ist passiert?«, fragte sie ihn und deutete mit dem Kopf auf seinen verbundenen Oberschenkel.

Er erzählte von Toni und dessen Verwundung, von dem Trichter, von dem jungen italienischen Soldaten, dessen Leben er gerne verschont hätte, und dass man ihn erst in der Nacht, nach Tonis Tod, gefunden hatte, als er mit seinem Leben bereits abgeschlossen hatte. Neuperts Rolle erwähnte er mit keinem Wort, es war besser, wenn sich Schweigen über die Geschichte breitete, nachdem, was auf dem Weg ins Tal passiert war, konnte er keine Nachforschungen gebrauchen.

»Du hast wirklich geglaubt, du stirbst?«

»Ich war überzeugt davon.«

»Wer hat dich gefunden?«

»Ein siebzehnjähriger Bursche aus meiner Gruppe, er heißt Paul Glück.«

»Du musst ihm sehr dankbar sein.«

»Das bin ich.«

Dass er zwei Gründe hatte, Paul auf ewig dankbar zu sein, musste er ebenso verschweigen. Der junge Mann war es gewesen, der Neuperts Absturz mitangesehen und ihn gedeckt hatte, ohne dass er ihn darum gebeten hatte, kein Wort hatten sie über das Geschehene verloren. Er bestätigte, dass der Zugführer Siegfried Neupert von einem Schneebrett, das vor seinen Augen abgegangen war, mitgerissen worden war, der Gruppenführer Carl Brugger sich glücklicherweise mit Müh und Not an einem Gestrüpp hatte festhalten können, seine Trage jedoch fortgespült worden war.

Bereits nach einer Stunde musste sie wieder aufbrechen, der Fahrer, der sie nach Belluno mitgenommen hatte — er hatte Nachschub an Medikamenten und an Verbandsmaterial geliefert —, gesellte sich zu ihnen in die Laube und drängte auf Abfahrt, mit einer heftigen Umarmung verabschiedete sich Elisabeth von Carl.

»Pass auf dich auf und wage es ja nicht zu fallen, Bruderherz«, sagte sie und winkte den anderen Männern zu.

Nach dem Besuch seiner Schwester schrieb der Arzt Carl gesund, in wenigen Tagen sollte er an die Front zurück. Sein Bettnachbar Andreas wurde entlassen, am Tag seiner Heimfahrt rauchten sie zum Abschied eine letzte Zigarette, Milan stand neben ihnen und machte sein lautes schniefendes Geräusch. Carl kramte in Elisabeths Rucksack, holte ein Stück Speck und Brot hervor und überreichte beides Andreas, dieser wehrte ab, doch Carl bestand darauf.

»Damit du nicht verhungerst, bis du in Graz ankommst.«

Ein Mann kam aus dem Schuppen neben der Laube, in dem sich der defekte Benzingenerator befand, er fluchte, sie boten ihm eine Zigarette an. Der Bürgermeister habe ihn geschickt, das verdammte Ding zu reparieren, sagte er, der Generator fiele in seinen Zuständigkeitsbereich, der Arzt habe sich mehrmals bei ihm darüber beschwert.

»Ich kenne mich mit sowas aus«, sagte Andreas und bot seine Hilfe an, er hatte noch etwas Zeit bis zur Abfahrt seines Zugs.

Carl reichte Andreas die Hand, ihm war kalt, er wollte zurück ins Lazarett gehen, die beiden Männer gingen in den Schuppen, Milan folgte ihnen aus Neugier.

Im selben Augenblick, als Carl nach der Türklinke des Hintereingangs griff, hörte er einen ohrenbetäubenden Knall und wurde gegen die Tür gepresst. Er wandte sich um, und mit Entsetzten begriff er, dass der Schuppen explodiert war und in Flammen stand. Er lief zurück und erkannte, dass er für die drei Männer nichts tun konnte, ihre toten Körper brannten. Nur wenige Sekunden lang überlegte er. Er nahm seine Marke ab und warf sie ins Feuer, schnappte Andreas’ Rucksack, der in der Laube lehnte, und lief fort.

Da er Angst hatte, jemand könnte ihn am Bahnhof erkennen, beschloss er, zu Fuß zu gehen, anfangs ging er hauptsächlich in der Nacht, abseits der Straße, und das nur wenige Stunden lang, um sein Bein zu schonen, allmählich traute er sich auch untertags zu gehen, ein verwundeter Soldat schien niemanden zu kümmern. Das Vorwärtskommen im Schnee war an manchen Stellen beschwerlich, zum Glück hatte sich das Wetter gebessert, die Temperatur war gestiegen, und es war zumeist sonnig. Er übernachtete in Ställen oder Heuschobern, wenn Bauersleute ihn entdeckten, setzte er an zu erklären, er wäre auf dem Weg nach Hause und hätte sich das Zugticket nicht leisten können, die meisten winkten ab, es interessierte sie nicht, sie waren den Krieg leid.

Nach zehn Tagen erst kam er in Innsbruck an. In der Stadt war er mutiger, es wuselte von Soldaten, die meisten davon verletzt, sie waren auf Erholung oder unterwegs von der Südfront nach Hause, niemand interessierte sich für den Einzelnen. Er mietete ein Zimmer in einer Pension, um sich gründlich zu waschen — den Bart ließ er stehen — und guten Schlaf zu finden. Auf dem Bett liegend dachte er an seine Eltern, er war überzeugt davon, dass seine Mutter hinter ihm stehen würde, und fragte sich, wie sein Vater auf die Tatsache, dass sein Sohn ein Deserteur war, reagieren würde. Er füllte Andreas’ Rucksack mit Lebensmitteln, die ihm eine Bäuerin nach hartem Feilschen verkaufte, Elisabeths Proviant hatte sich dem Ende zugeneigt, ihren Rucksack hatte er in einem Wald in der Nähe von Sterzing verbrannt. In einem Kaffeehaus blätterte er Zeitungen durch und fand in den Innsbrucker Nachrichten einen kurzen Artikel über den Brand im Lazarett in Belluno. In Belluno hat die Explosion eines defekten Benzingenerators in einem Schuppen hinter dem Lazarett drei Opfer gefordert. Franz Gamper, 67, Gemeindeangestellter, war dabei, den Generator mit Benzin zu füllen, als dieser in die Luft ging. Das tragische Unglück forderte nicht nur sein Leben, sondern auch das des Gruppenführers Carl Brugger, k. u. k. Infanterieregiment Nr. 59, 34 Jahre alt, und Milan Vidmar, Sanitäter der k. u. k. 5. Armee, 29 Jahre alt. Alle drei Männer waren auf der Stelle tot. Das Lazarett selbst blieb zum Glück unbeschädigt.

Von Innsbruck nach Salzburg fuhr er mit dem Zug, bei der Kontrolle zeigte er Andreas Mitterers Entlassungspapiere, anschließend war er schweißgebadet, er hatte das beunruhigende Gefühl, jeder der Mitreisenden bemerke seinen inneren Aufruhr. Ab Salzburg ging er wieder zu Fuß, ein Grazer auf dem Weg nach Linz und weiter ins Mühlviertel wäre bei einer Kontrolle kaum glaubwürdig gewesen. Je näher er seiner Heimat kam, desto mehr Normalität herrschte, das Land wirkte, als gäbe es keinen Krieg, es waren keine Soldatentrupps, keine Trainkolonnen, keine zerschossenen Gebäude zu sehen. Nachdem er bei Niederranna die Donau überquert hatte, wuchs seine Angst, erkannt zu werden, er zog seine Kappe tief ins Gesicht und suchte sich abgelegene Pfade, dass Winter war, kam ihm zugute, kaum jemand hielt sich im Freien auf.

Die letzten Kilometer schlich er regelrecht durch den Wald, im Morgengrauen konnte er die Hofmühle und auch die Brandruine des Kaufhauses durch die Bäume sehen, er hatte das Gefühl, sein Herz setze vor Freude und Erleichterung aus. Einer der Hunde lief ihm bellend entgegen, erkannte ihn aber und presste sich freudig winselnd an ihn, während der zweite Hund im Haus wie verrückt bellte, drückte sich Carl an der Hausmauer entlang bis zur kleinen windschiefen Tür des alten Traktes und suchte umsonst den Schlüssel in Josephines altem Versteck. Die Fenster zur Küche und zur Stube waren von innen mit einem großen Brett zugenagelt und verliehen dem Haus einen verlassenen Eindruck. Er schlich geduckt bis zur Eingangstür, sie öffnete sich einen Spalt, ein Gewehrlauf wurde sichtbar, und die drohende Stimme seiner Mutter sagte: »Ich rate Ihnen, auf der Stelle zu verschwinden.«

Zehn Tage zuvor hatten seine Eltern die Nachricht erhalten, dass ihr Sohn im Lazarett seinen Verletzungen erlegen war. Der Totenschein war dem offiziellen Schreiben beigelegt, der Pfarrer hielt eine Begräbnismesse ab, die Gravur des Grabsteins war veranlasst. Elisabeths Brief, der wenige Tage darauf eintraf, klärte über die genauen Umstände auf, sie hatte von einer Schwester im Lazarett erfahren, dass Carl bei einer Explosion ums Leben gekommen war.

Völlig aufgelöst saßen sie ihm gegenüber und sahen ihm beim Essen zu. Es hatte eine Weile gedauert, bis Anna die Tür langsam aufgeschoben hatte, um nachzusehen, wer derjenige war, der nicht aufhörte zu flüstern, Ich bin es, Carl. Sie befürchtete, jemand erlaube sich einen schlechten Scherz mit ihnen. Um sicherzugehen, dass niemand ihn zu Gesicht bekam, hielten sie sich im Erdgeschoss des alten Hauses auf, das seit Josephines Tod unbewohnt war, die Fenster hatte seine Mutter zugenagelt, um Deserteure am Einsteigen zu hindern. Die Hände und Unterarme seines Vaters sahen furchtbar aus, sie waren mit einer dunkelroten rissigen, verkrusteten Haut überzogen und steif, er konnte sie kaum bewegen, auch seine Stirn hatte rote Flecken. Als er immer wieder in das brennende Kaufhaus hineingelaufen war, um einige der verbliebenen wertvollen Waren zu retten, hatte er sich zum Glück ein nasses Tuch um Nase und Mund gebunden, so die Mutter. Sein Vater redete nicht viel, sein Atem ging schwer und rasselnd, sein Gesicht drückte Müdigkeit und Resignation aus.

Carl fragte nach Luzia, seine Mutter antwortete, dass die Nachricht von seinem Tod sie sehr getroffen habe.

»Sie ist eine liebe junge Frau«, sagte Anna, »immer wieder hat sie uns besucht und nach dem Rechten gesehen. Einmal hat sie uns sehr geholfen.«

Sie erzählte, dass Albert im Februar 1917 für einige Tage in der Linzer Justizanstalt inhaftiert gewesen war. Er riskierte eine Fahrt mit dem Frachter Anna in die Stadt, um im Hafen günstig Lebensmittel und Brennholz an bedürftige Familien zu verkaufen, und wurde des Schwarzhandels bezichtigt. Der Sturkopf musste sich stets um andere sorgen, selbst wenn die Zeiten für die eigene Familie schwierig waren, dachte Carl. Solche Fahrten auf der Donau hatte der alte Mann einige unternommen, einmal schon hatte man ihn erwischt, da war er noch mit einer Abmahnung davongekommen.

»Luzia hat ihren Onkel Johannes gebeten, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um deinen Vater freizubekommen, und er hat es tatsächlich getan«, schloss Anna.

In der Nacht verbrannte Carl Andreas’ Rucksack mitsamt seinem Inhalt und alles, was er auf dem Leib trug. Er hielt sich vorwiegend im Keller und in Josephines Küche auf, obwohl die Hofmühle abgelegen vom Dorf stand und es weit und breit keine Nachbarn gab, war seine Angst, entdeckt zu werden, groß. Für gefährliche Situationen präparierte er ein Holzfass — es war zu einem Drittel mit Birnenmost gefüllt —, sodass er sich schnell darin verstecken konnte. Jedes Mal, wenn sich Leute der Hofmühle näherten, kroch er hinein und harrte stundenlang darin aus, später wurde er nachlässiger, er blieb zumeist in der alten Küche und Stube und beobachtete durch die Schlitze zwischen zwei Brettern, was vor sich ging und ob es erforderlich war, in den Keller zu gehen und in das Fass zu steigen.

Anfang März tauchten überraschend Männer auf, sie fuhren mit zwei Fahrzeugen vor und wiesen sich als Beamte des Militärdivisionsgerichts in Linz aus. Sie waren auf der Suche nach dem Feldwebel Carl Brugger, dem nicht nur Desertion vorgeworfen wurde, sondern obendrein die willentliche Vortäuschung seines Todes, was eine grobe Verletzung des Militärstrafrechtes darstellte. Sie durchwühlten das ganze Haus, die Mühle und sogar die Brandruine des Kaufhauses. Anna spielte ihre Rolle der außer sich tobenden Mutter, die zwei ihrer Söhne im Krieg verloren hatte und deren einer nun derart schändlich beschuldigt wurde, äußerst überzeugend. Carl, der sich erst zehn Stunden später aus dem Fass wagte — er war völlig durchgefroren —, bekam von seinem Vater die Einzelheiten berichtet.

»Hier ist der Totenschein, unterzeichnet von einem Arzt!«, schrie sie und hielt das Papier den Männern vors Gesicht. »Lesen Sie das! Sie dürften ja in der Lage sein zu lesen! Sie und Ihre Männer verkriechen sich hinter ihren Schreibtischen, während andere an der Front verrecken, Ihr elenden Feiglinge! Es ist himmelschreiend, dass Familien, die ihre Söhne verloren haben, so behandelt werden, schämen Sie sich!« Zum Schluss spuckte sie ihnen vor die Füße, ging zu einem Fahrzeug und öffnete resolut die Fahrertür.

Wochen darauf erschienen erneut Männer, dieses Mal krochen sie aus dem Wald — durch die beiden Hunde wurde Carl dennoch rechtzeitig gewarnt —, wieder stellten sie alles auf den Kopf und mussten unverrichteter Dinge wieder abziehen.

Es ging Carl zunehmend schlechter, die Angst, entdeckt zu werden, die permanente Anspannung, das Nichtstun, das Gefühl, seine Kameraden im Stich gelassen zu haben, die Schande und Hoffnungslosigkeit — was würde nach dem Krieg sein? — machten ihm zu schaffen, er ertappte sich dabei, dass er an Selbstmord dachte. Er ließ sich gehen, es gab Tage, an denen er einfach liegenblieb, an denen er sich nicht aufraffen konnte, kleine Tätigkeiten im Haus, in der Mühle zu erledigen oder die Bücher zu lesen, die ihm sein Vater gab.

Eines Nachts kam Luzia zu ihm, da der Hund nicht angeschlagen hatte, wachte er erst auf, als sie bereits im Raum war und die Tür leise hinter sich schloss. Anna habe sie nach der Messe beiseitegenommen und ihr die Wahrheit berichtet und sie jetzt ins Haus gelassen, flüsterte sie.

»Keine Sorge, meine Familie weiß nicht, dass ich hier bin.«

Sie habe von innen ihre Kammertür versperrt, sei aus dem Fenster gestiegen und vom Hof geschlichen. Carl ärgerte sich über das eigenmächtige Handeln seiner Mutter und darüber, dass sie ihn nicht informiert hatte, er genierte sich, der jungen Frau unrasiert und im Nachthemd in der finsteren schäbigen Küche gegbenüberzusitzen. Als würde sie seine Gedanken ahnen, sagte sie: »Sie hat nicht gewusst, dass ich komme. Aber ich habe es nicht mehr ausgehalten, ich musste dich sehen.«

Es fühlte sich eigenartig und fremd an, ihr gegenüberzusitzen. Als sie zu weinen begann und unter Tränen in einem fort sagte, wie froh sie sei, dass er am Leben war, war das Eis gebrochen. Er streckte seine Hände aus, ergriff die ihren und zog sie hinunter auf die Decke am Boden, sie küssten sich gierig, und er spürte sein Glied hart werden. Sie fasste mit ihren Händen unter sein Hemd, streichelte seine Brust, seinen Bauch, seine Schamhaare, berührte mit den Fingerspitzen seinen Penis. Schließlich zog sie ihm das Hemd aus, es war, als ob sie die Führung übernommen hätte und er keine Kraft fände, es umgekehrt geschehen zu lassen; eine ungeheure Stärke ging von ihr aus. Sie saß vollständig bekleidet auf seinen Knien, während er nackt auf der Decke lag, sie legte das Ohr auf seinen Bauchnabel, um ihn dann mit Küssen zu bedecken, wobei sie ihre Zunge kreisen ließ. Mit ihren Fingern umrandete sie seine Brustwarzen, immer wieder beugte sie sich vor, um ihn zu küssen, am Ende ließ sie die Hand zu seinem Glied hinuntergleiten und umfasste es. In seinen heimlichen Träumen in den kalten Gräben hatte er gesehen, wie ihre Hand sich fest um sein Glied schloss, und jetzt war es Wirklichkeit, und weil Luzia stärker zu sein schien, als er je geahnt hatte, hatte er das Gefühl, die Hand schloss sich nicht nur um den einen Körperteil, sondern um ihn. Während sie mit ihren Lippen wieder seinen Mund suchte, ließ sie seinen Penis nicht los, sie hielt ihn fest, wie ein Erstkommunikant seine Taufkerze festhielt, weder zu locker noch zu fest, dafür ein bisschen verkrampft. Er richtete sich auf, zog ihre Schuhe und Strümpfe aus, währenddessen knöpfte sie ihre Bluse auf, dabei ließ sie ihn nicht aus den Augen. Sie streifte die Bluse über ihre Schultern zurück, und er sah ihre nackten straffen Brüste, offenbar hatte sie keine Zeit gehabt, ein Mieder anzulegen. Sie nahm seinen Kopf und führte ihn an ihre steil nach oben gerichteten Brustwarzen, während er sie mit seinen Lippen liebkoste, legte sie ihren Kopf in den Nacken und stöhnte leise. Langsam schob er ihren Rock hoch, ihre Schenkel leuchteten weiß und fühlten sich muskulös an. Noch im Sitzen griff sie an ihren Rücken und öffnete die Knöpfe am Rockbund, sodass im selben Moment, als sie aufstand, ihr das Kleidungsstück von der Hüfte rutschte und zu Boden fiel, völlig nackt stand sie über ihm, Carl umfasste mit beiden Händen ihre Taille und zog sie zu sich auf die Decke.

Im Mai hielt abermals ein Auto vor der Hofmühle, vier Männer sprangen heraus und liefen ins Haus, ein fünfter blieb im Freien, er spazierte auf dem Vorplatz und im Garten auf und ab, stützte sich dabei auf einen Stock, sein linkes Bein war steif.

»Er hat bei dieser Hitze Lederhandschuhe getragen, ich nehme an, einige seiner Finger waren amputiert. Und an seiner Brille war eine Kupfermaske befestigt«, berichtete Anna, »sie hat seine Nase, sein Kinn und seine Wangen bis zu den Ohren bedeckt, der Mund war frei. Was für eine Perversion, ausgerechnet einen Versehrten bei der Suche nach Deserteuren einzusetzen.«

Der Mann hatte ihr seinen Namen genannt, und sie teilte ihn Carl mit, er versuchte ungerührt zu wirken und fragte wie beiläufig: »Hat er mit dir gesprochen?«

»Er weiß, dass du am Leben bist, hat er gesagt, ich habe die Autotür geöffnet und ihm nahegelegt, er möge sich zum Teufel scheren.«

Carl sah seine Mutter verblüfft an, als sein Vater fragte, ob er den Mann kenne, verneinte er.

Im Juli wagte sich Carl zum ersten Mal ins Dorf, um die Messe zu besuchen, er drückte den Hut tief ins vollbärtige Gesicht, ging leicht gebeugt und hinkte, zwei Wochen zuvor hatte sein Vater dem Bürgermeister von einem deutschböhmischen Soldaten aus Prag erzählt, der von der Südfront auf dem Weg nach Hause bei ihnen gestrandet war. Der Mann wolle nicht in seine Heimat zurück, er halte nichts von einem eigenen tschechoslowakischen Staat, so Albert.

»Sein Name ist Tomáš Daněk. Wir haben ihn mit hohem Fieber vor unserer Tür gefunden. Er hat keine Familie und möchte vorläufig bei uns bleiben, ehrlich gesagt sind wir froh darüber, wir können jede Hilfe gebrauchen.«