Kurz nach Neujahr fuhr Elisabeth nach Wien. Sie wollte wieder als Krankenschwester arbeiten, auf dem Land, im Elternhaus, kam sie sich nutzlos vor. Albert und Anna ließen sie ungern ziehen, sie hatten Angst vor den Gefahren, die eine Großstadt — in der tausende Menschen hungerten und froren — für eine alleinstehende junge Frau darstellten. Albert machte Anstalten, es ihr zu verbieten, doch sie setzte ihren Willen durch. Eugen entschied sich, sie zu begleiten.

In Wien war sie entsetzt über das Elend, das sie sah, sie erkannte ihre geliebte Stadt kaum wieder. Unzählige bettelnde Kriegsversehrte waren auf den Straßen unterwegs, Obdachlose lungerten an den Straßenrändern herum, vor den Lebensmittelgeschäften standen reihenweise Menschen an, die Straßen waren verdreckt, viele Läden mit Brettern zugenagelt, eine bedrohliche und verzweifelte Anspannung war überall spürbar.

»Dass die Sorge der Eltern unberechtigt ist, können wir wohl nicht behaupten«, konstatierte Eugen lapidar auf dem Weg vom Bahnhof zur Wohnung. Sie merkte, dass er ebenfalls zu zweifeln begann, ob ihre Entscheidung richtig war. Sie hingegen stellte fest, dass sie sich freier als in ihrem Heimatdorf fühlte.

Die Wohnung, in der seit Jahren niemand mehr gewesen war, war zwar verstaubt und eiskalt, aber nicht zerstört, nichts fehlte. Ihr Vater hatte im Sommer 1915 die Eingangstür mit Ketten und Schlössern versehen, um unliebsame Eindringlinge fernzuhalten. Sie ging durch die Räume, entfernte die weißen Tücher von den Möbeln, atmete tief durch und dachte: endlich zu Hause.

Eugen half ihr, die Räume auf Vordermann zu bringen, sich einzurichten, einige Vorräte an Lebensmitteln sowie Brennholz und Kohle für die Zimmeröfen zu beschaffen, an den Abenden unterhielten sie sich stundenlang. Er zeigte sich interessiert an ihrem Leben, wollte so viel wie möglich von ihr wissen. Sie erzählte von ihrer Arbeit im Lazarett in Asiago und vom Arzt, unter dem sie gearbeitet hatte, sie hatte Glück mit ihm gehabt, er hatte sie geschätzt und ihr vieles beigebracht, einmal ließ er sie — unter seiner Anleitung — die Amputation einer Hand durchführen, da sie bereits oft zugeschaut hatte, konnte sie den Ablauf auswendig im Schlaf hersagen.

»Die Hand ist ein gefrorener Klumpen zertrümmerter Knochen gewesen, an dem nur noch ein letzter violetter Finger gehangen ist. Sie ist nur noch vom Eis zusammengehalten worden und hat im OP buchstäblich zu schmelzen begonnen.«

Sie band den Unterarm mit einer Aderpresse ab, schnitt die Haut ein, legte den Knochen frei, indem sie die Muskelfasern beiseiteschob, und sägte dann mit einer einzigen raschen Bewegung den Knochen durch — Eugen verzog das Gesicht —, band die Muskelfasern an ihren Enden ab und schlang sie zusammen, ehe sie die überlappende Haut vernähte.

»Der Arzt hat mir geraten, nach dem Krieg Medizin zu studieren«, sagte sie.

»Gibt es einen Soldaten, der dir besonders in Erinnerung geblieben ist?«, fragte Eugen.

Der Erste ist immer der Schlimmste, hatte die leitende Krankenschwester im Lazarett in der Nähe der polnischen Stadt Przemyśl zu ihr gesagt. Der junge Antal geisterte ihr immer noch im Kopf herum. Der ungarische Kavallerist geriet bei einem Sturz unter sein Pferd und konnte sich nicht befreien, es dauerte zwei Tage, bis er von einem Spähtrupp gefunden wurde. Er hatte mitansehen müssen, wie das Tier qualvoll gestorben war, während er ebenfalls den Tod vor Augen hatte, er war schwach, ausgekühlt und völlig dehydriert. Sein Bein musste oberhalb des Knies amputiert werden, sein Handgelenk wurde geschient, anfangs sah es aus, als würde die Wunde gut verheilen, doch dann setzte Wundbrand mit einer solchen Heftigkeit ein, dass schnell erneut operiert werden musste. Als ihm Elisabeth mitteilte, dass der Oberschenkel unterhalb der Leistengegend abgenommen werden musste, sagte er in seinem brüchigen Deutsch: »Sagen Sie Arzt schönen Gruß von mir, er soll Stängel dran lassen, ist bestes Stück an mir«, woraufhin sie rot anlief. Zwei Tage danach starb er, die letzten Stunden saß sie neben seinem Bett, streichelte seine Arme, sein Gesicht und redete beruhigend auf ihn ein.

Sie zündete sich eine Zigarette an und merkte, dass ihre Hände zitterten.

»Und wer war dieser Quasimodo mit dem Namen Tomáš Daněk, dessen Identität Carl angenommen hat?«

Elisabeth lachte.

»Er war kein Quasimodo, Carl übertreibt es lediglich ein bisschen, damit niemand im Dorf auf die Idee kommt, irgendetwas anzuzweifeln. Tomáš war ein Gefreiter im Infanterieregiment Nr. 28, sogar ein gutaussehender. Arbeiter aus Prag, zwei Jahre jünger als Carl und du, Mutter Österreicherin, Vater Böhme, beide schon tot. Er war das ledige Kind einer verwitweten Kleinbäuerin im nördlichen Mühlviertel, in der Nähe zum Bezirk Krumau, der Vater hat ihn nach ihrem Tod zu sich nach Prag geholt. Tomáš hat bei den Ringhoffer-Werken gearbeitet, er wollte Geld sparen und später ins Mühlviertel zurückgehen und einen kleinen Hof kaufen. Als er genug Geld beisammenhatte, ist der Krieg ausgebrochen. An der Piave hat er auch gegen Böhmen gekämpft, einige revolutionäre Truppen haben schon im ersten Kriegsjahr die Seiten gewechselt. Das war für ihn besonders schlimm. Ein Schrapnell hat ihn am oberen Rücken erwischt, er ist nach zwei Wochen gestorben.«

»Und du hast seine Papiere entwendet?«

Sie nickte. »Mutter ist im letzten Juni nach Trient gefahren, wir haben uns dort getroffen. Sie wollte, dass ich ihr Papiere eines gefallenen Soldaten aushändige. Das Ganze war Luzias Idee, ich hätte keine bessere haben können. Carl ist es in seinem Versteck ganz und gar nicht mehr gut gegangen, er sollte zumindest die Messe besuchen können.«

»Darum ist es ihr gegangen?«, fragte Eugen kopfschüttelnd.

»Ihm ist es darum gegangen. Sie wollte, dass er das Haus verlassen kann und dabei nicht ständig Gefahr läuft, dass ihn jemand verpfeift, und dass er nicht mehr ständig in Angst leben muss. Niemand hat gewusst, wie lange der Krieg noch dauern wird. Und mit dem Bürgermeister war nicht zu spaßen, er hat Deserteure unverzüglich den Divisionsgerichten gemeldet. Ich habe gut überlegt, welche Papiere ich entnehme. Es musste ein Soldat sein, der keine Familie hatte, weshalb Totenschein und Benachrichtigung nicht abgeschickt worden waren. Ich bin in der Kartei alle durchgegangen, die im letzten Jahr gestorben sind, es wären einige in Frage gekommen. Ich habe mich für Tomáš Daněk entschieden, er hat zu Carl gepasst, vom Alter, von der Statur, vom Aussehen, außerdem habe ich ihn gemocht. Ich habe den Totenschein verschwinden lassen und stattdessen einen Entlassungsschein ausgestellt, den habe ich zusammen mit dem Legitimationsblatt Mutter gegeben. Der Bürgermeister war zufrieden damit, sein einziger Kommentar lautete: In fünf Jahren kann Tomáš Daněk um den Heimatschein ansuchen.«

Einmal führte Eugen sie aus, sie aßen in einem Restaurant, das Essen kostete ein Vermögen.

»Bist du reich?«, fragte Elisabeth unverblümt.

»Man könnte sagen, weil die Dinge derzeit so stehen, wie sie stehen, bin ich hier ein gemachter Mann.«

»Und in den Staaten?«

»Dort bin ich zwar auch kein armer Schlucker, aber es gibt noch ganz andere Kaliber.«

Er bestand darauf, dass sie eine oder zwei Mitbewohnerinnen suchte und er bei der Wahl ein Wort mitzureden hatte, Elisabeth stöhnte und sagte: »Eine reicht.«

Sie fand sofort eine Stelle im Allgemeinen Krankenhaus. Dass sie zu Beginn des Krieges nur eine Ausbildung zur Hilfsschwester gemacht hatte, wurde geflissentlich übersehen, ihre Erfahrung zählte, Krankenschwestern wurden händeringend gesucht, laufend kamen kranke Soldaten von den Fronten und aus der Kriegsgefangenschaft zurück. Einen Arzt, den sie aus dem Lazarett in Asiago kannte, fragte sie, ob er eine Mitbewohnerin für sie wüsste, und er legte ihr seine entfernte Cousine aus dem Burgenland ans Herz. Die junge Frau war Lehrerin in einem Mädchengymnasium und lebte bei einer alten Dame in Untermiete, bei der sie sich nicht wohlfühlte, sie hatte kein eigenes Zimmer und musste mit der Vermieterin in einem Bett schlafen. Elisabeth fand sie auf Anhieb sympathisch, auch Eugen war angetan von ihr, sie stammte aus einer Arbeiterfamilie, war begeistert von der Wohnung und konnte ihr Glück kaum fassen, sie vereinbarten, dass sie zur Monatsmitte einziehen sollte.

»Zufrieden?«, fragte Elisabeth ihren Bruder, als sie wieder zu zweit waren.

»Noch nicht ganz.« Aus seiner Reisetasche holte er seine Smith & Wesson und überreichte sie ihr, er fühle sich sicherer, wenn sie eine Waffe bei sich habe, sagte er und zeigte ihr, wie die Pistole geladen, wie sie gehalten wurde, und wie man zielte.

»Morgen suchen wir ein verlassenes Grundstück und üben.«

»Ich kann schießen«, sagte sie, zielte auf ein gesticktes Bild an der Wand, und ehe Eugen protestieren konnte, drückte sie ab, das Glas zerbrach, die Kugel blieb in der Mitte der Stickerei stecken.

»Das hat mir nie gefallen«, sagte sie und erzählte, dass in einem Lazarett in Ostgalizien ein paar verwundete Soldaten, die sich auf dem Weg der Besserung befanden, den Krankenschwestern das Schießen beigebracht hatten. Als Nachbarn auftauchten, um nachzusehen, was passiert war, brauchten sie eine Weile, um sie davon zu überzeugen, dass sich der Schuss aus Versehen gelöst hatte und obendrein nichts Schlimmes passiert war.

Am Abend, bevor Eugen abreiste, saßen sie bis weit nach Mitternacht zusammen.

»Ich mag dich, Bruderherz«, sagte sie. »Warum bist du so früh weggegangen? Du warst nicht einmal zwanzig.«

»Ich war zwanzig.«

»Ich hätte dich gebraucht.«

»Du hast mich als Kind nicht gebraucht. Du hattest Mutter, ihr wart völlig fixiert aufeinander.«

»Warst du eifersüchtig?«, lachte sie.

»Gustav war es. In den ersten Jahren sogar sehr. Deshalb ist er ständig Carl und mir nachgelaufen.«

»Carl hat mir einmal gesagt, du bist gegangen, weil du dich mit Mutter nicht verstanden hast. Du hast nicht mit ihr geredet, und sie hat unter deiner Kälte gelitten. Kaum warst du weg, ist es ihr bessergegangen. Was hast du ihr vorgeworfen?«

»Carl hat recht, wir sind nicht gut miteinander ausgekommen. Aber das war nicht der Grund. Mir war alles zu eng. Und Mutter ist es bessergegangen, weil Vater diese Wohnung für sie gekauft hat, nicht weil ich weggegangen bin.«

Zum Schluss gab er ihr ein Bündel Dollarnoten: »Für den Fall, dass du mit deinem Gehalt nicht auskommst, wechselst du ein paar Scheine auf der Bank.«

»Ab heute bist du mein Lieblingsbruder«, sagte sie und küsste ihn laut schmatzend auf die Wange.

Sie begleitete ihn zum Bahnhof. »Versprich mir, dass du mich oft besuchst, solange du in der Heimat bist«, sagte sie und umarmte ihn fest, sie wartete auf dem Bahnsteig, bis der Zug abgefahren war.

Als sie die Treppen hochstieg, sah sie einen Mann neben der Wohnungstür sitzen, er stand umständlich auf, sie brauchte eine Weile, bis sie erkannte, dass es Georg Tichy war und dass ihm der linke Arm fehlte.

Im Zug hing Eugen seinen Gedanken nach. Am ersten Abend war er durch die hohen Räume der Wohnung gewandert, die ausgesprochen geschmackvollen Möbel hatten ihm gefallen. Sein Vater musste ein Vermögen ausgegeben haben, um seiner Frau dieses Zweitdomizil zu ermöglichen, im Gegenzug war er bei ihr und seinen jüngeren Kindern Gast gewesen, die Liebe zwischen seinen Eltern hatte er nie verstanden.

»Es waren ständig eine Menge Leute da, Gustavs Kommilitonen, meine Freundinnen, deren Mütter. Zu Mutter sind Bekannte gekommen, für die sie genäht hat, und Vater, wenn er in Wien war, hat seine Geschäftspartner eingeladen. An den Abenden, an denen die Hanáčeks und Hofmanns da waren, ist es immer hoch hergegangen, sogar Carl ist dann aufgetaut. Regelmäßig sind die Nachbarn gekommen und haben sich beschwert, weil wir so laut waren«, hatte Elisabeth erzählt, und ihm war eingefallen, dass Gustav bei seinem Besuch in den Staaten Ähnliches über gesellige Abende im Kreis der Familie und Freunde berichtet hatte.

Er stellte sich seine Brüder, seine kleine Schwester, die Eltern vor, wie sie mit ihren Freunden tranken und lachten, und für einen kurzen Augenblick war er neidisch, diese offenbar unbeschwerten Jahre nicht miterlebt zu haben.

Bevor er ausgewandert war, hatte er sich seiner Familie nicht sonderlich nahe gefühlt, seltene Augenblicke mit Carl und Gustav ausgenommen. Die Verantwortung des Einzelnen gegenüber der Familie, von der sein Vater ständig sprach — und nicht nur der Vater, auch der Pfarrer, der Lehrer und alle älteren Leute, die er kannte —, spürte er nicht, und er wollte sie auch nicht übernehmen. Er konnte dieses Gedöns, das um die Familie gemacht wurde, nicht nachvollziehen. Seiner Meinung nach diente es lediglich dazu, starken Einfluss auf die jungen Menschen zu nehmen, sie zu bremsen, zu knechten. Nur ein Mensch, der sich seiner Familienbande entledigt, ist vollkommen frei, dachte er.

Und heute, mehr als fünfzehn Jahre später, verging er vor Sorge um seine Schwester. Sie, die er als Achtjährige zum letzten Mal gesehen hatte und deshalb kaum kannte, hatte ihn vom ersten Tag an für sich eingenommen, er wollte nichts mehr, als dass es ihr gut ging, und das wünschte er sich auch für Carl und für die Eltern. Der Gedanke an das, was sie durchgemacht hatten, spielte sicherlich eine Rolle, auch das Wissen, dass die Situation in der Heimat für weitere Jahre eine schwierige sein würde. Aber es war nicht nur das, er hätte nicht sagen können, was genau es war, vermutlich war er ein anderer geworden.

In den wenigen Tagen seit seiner Ankunft war ihm Hilflosigkeit an allen Ecken und Enden entgegengeschlagen — mit Ausnahme seiner resoluten Schwester erschien ihm seine Familie wie gelähmt —, gleichzeitig spürte er heftige Zuneigung, eine fatale Mischung. Sein Bruder war rastlos, sehnte sich nach einem normalen Leben, er führte Selbstgespräche, konnte in der Nacht nicht schlafen, weil ihn furchtbare Albträume quälten. Er suchte Eugens Nähe, wann immer es ging, liebte es, wenn dieser von seinem Leben in den Staaten erzählte, wohingegen er selbst nicht gern vom Krieg — aber umso lieber von seinen Kameraden — redete, manchmal zeigte sich in seinem Blick so viel Verzweiflung und Ausweglosigkeit, dass Eugen meinte, eine Spur Irrsinn zu erkennen. Seinem Vater war einerseits die Freude, dass seine zwei ältesten Söhne ihn wieder umgaben, täglich ins Gesicht geschrieben, andererseits war er fassungslos über den Untergang der Monarchie, für ihn war unbegreiflich, dass ein neues Zeitalter anbrechen sollte — das seinem Land obendrein von anderen Staaten aufgezwungen worden war —, er fiel nicht gerne zur Last, weshalb er sich wenig schonte, wenn Eugen ihn ansah, bereute er, so lange nicht zu Besuch gekommen zu sein. Seine Mutter war den ganzen Tag auf den Beinen und arbeitete, nie kam ein jammerndes Wort über ihre Lippen, sie war mit allen freundlich und fürsorglich, pflegte ihren Mann mit Hingabe, über sie staunte er am meisten. Seine Schwester rauchte wie ein Schlot, ihr Gesichtsausdruck war in manchen Augenblicken abgeklärter als der einer Vierzigjährigen und machte ihn traurig, sie nahm kein Blatt vor den Mund, war impertinent und charmant zugleich, wickelte die Eltern um den Finger und auch ihn. Sie alle erschienen ihm bedürftig, sie waren verloren ohne ihn. Real commitment is the only thing you can’t buy, hatte er einmal gelesen, wo, wusste er nicht mehr, nur der Satz war ihm in Erinnerung geblieben.