Eugen war sieben, als Hedwig in die Hofmühle kam.
Sie war nicht allein, ihr Vater war bei ihr, er war der Cousin ersten Grades seines Vaters und seiner Tante Josephine, von dessen Existenz sie nichts gewusst hatten, weshalb bei der Ankunft der beiden eine gewisse Aufregung herrschte. An den Mann hatte Eugen bald kaum noch Erinnerungen, er starb nach wenigen Wochen. Wie ein schmuddliger Tattergreis war er ihm vorgekommen, ein bisschen grauste ihm. Auch wenn er gebadet hatte, strömte seine Haut einen säuerlichen Geruch aus, sein Atem war noch schrecklicher, er roch nach Fäulnis. Eugen wollte gar nicht neben ihm sitzen oder mit ihm reden, weil ihm übel davon wurde.
Hedwig hingegen roch immer gut, ihre Haut nach Flieder oder Rose, je nachdem, welches Wasser sie benutzte, ihre Kleidung nach Lavendel, ihre Haare nach Zimt, ihr Atem nach Milchreis. Wie sie das mit dem Zimtgeruch hinbekam, zeigte sie Carl und ihm in ihrem Zimmer, Carl schaute ehrfürchtig, Eugen demonstrativ gelangweilt zu. Sie beugte sich nach vor, schüttelte kräftig ihre Haare und schlang sie, während sie sich aufrichtete, mit beiden Händen zusammen. In den losen Dutt und auch in den Rest steckte sie behutsam mehrere Zimtstangen, darüber setzte sie eine Leinenhaube und einen festen Turban aus blaugrünem glänzenden Samt. Sie wussten, dass er aus dem Theater stammte, in dem ihre Mutter gearbeitet hatte.
»So schlafe ich«, sagte sie.
»Du siehst aus wie Aladdin«, sagte Carl.
Sie führte ihnen einen orientalischen Tanz vor, indem sie Arme und Hände verrenkte und mit dem Bauch wackelte, und Carl kicherte. Am Morgen darauf schlichen sie in ihr Zimmer, sie nahm die Kopfbedeckungen ab, entfernte die Zimtstangen, und sie durften an ihrem Haar riechen.
Nach dem Tod ihres Vaters blieb Hedwig bei der Familie, sie half dem Dienstmädchen im Haushalt und passte auf Gustav auf, er war erst wenige Monate alt und weinte viel, die Mutter war mit ihm überfordert, wie sie überhaupt mit allem überfordert war. Der Vater hätte es bevorzugt, Hedwig im Bureau des Kaufhauses anzustellen — er schätzte ihre rasche Auffassungsgabe —, und Eugen spürte, dass das auch ihr lieber gewesen wäre. Aber sie tat von Anfang an der Mutter gut, die im Dorf keine Freundinnen hatte, sich einsam fühlte, an Migräne litt und ständig niedergeschlagen war. Hedwig brachte Lebhaftigkeit ins Haus, ihre gute Laune war ansteckend und riss sogar die Mutter mit. Für Eugen war sie anfangs nur eine weitere Angestellte, damit die Mutter sich nicht viel mit ihnen abgeben musste und mit der der Vater sein schlechtes Gewissen beruhigte, weil er selten zu Hause war. An den Nachmittagen waren Carl und er für gewöhnlich auf sich alleine gestellt, aber wann immer sie Zeit hatte, verbrachte sie die junge Frau mit ihnen, wobei ihr immer etwas Neues, Verrücktes einfiel. Sie war in einem Theater, unter Schauspielern, groß geworden und kannte Geschichten, Aufführungen, Rollen, am liebsten waren ihr die Komödien von Shakespeare. Sie verkleidete, schminkte sich und auch Carl und Eugen, und wenn sie vom dazugehörigen Stück erzählte — oder es ihnen vorlas — und zwischendurch einzelne Szenen spielte, lauschten die zwei gebannt.
Allmählich mochte Eugen sie sehr, und er begann sie heimlich zu beobachten. Sie war nicht nur das schönste Mädchen, das er kannte, sondern auch das außergewöhnlichste, und er kannte viele, da im Kaufhaus ein ständiges Kommen und Gehen herrschte. Sie verkörperte Eigenschaften, die ihn beeindruckten, und interessant wäre für ihn — viele Jahre später — gewesen, ob es lediglich kindliche Verklärung gewesen war oder er sie immer noch so sehen würde: atemberaubend in jeder Hinsicht. Die Vorhänge in der Badestube präparierte er so, dass man sie nicht ganz zuziehen konnte, sondern ein winziger Spalt in der Mitte zwischen den beiden Bahnen blieb. Er kletterte auf einen Stuhl und band jeweils die oberste Kante an der Vorhangstange fest. Wenn Hedwig am Freitagabend badete, schlich er aus dem Haus, um einen Blick durch genau diesen Spalt zu werfen. Dafür wollte er den richtigen Zeitpunkt erwischen, nämlich den, in dem sie sich auszog und in die Wanne stieg. Er stand vor dem Fenster und sah ihr zu, sein Herz klopfte dabei so heftig, dass er Angst hatte, sie könnte es durch die Scheibe hören. Einmal erwischte ihn Carl dabei, er war ihm nachgeschlichen, Eugen musste ihm versprechen, eine Woche lang die Hausaufgaben für ihn zu machen, ansonsten hätte er ihn an die Eltern verraten. Carl blieb neben ihm stehen, spähte selbst hinein, wurde dabei glühend rot, und Eugen musste lauthals lachen.
Ein Jahr und drei Monate darauf kam Emil in die Hofmühle, die Umstände seiner Ankunft waren noch aufregender. Nicht nur Hedwig war tagelang angespannt und atmete erleichtert auf, als der junge Mann vor dem Haus auftauchte, sondern auch der Vater. Erst viel später wurde Eugen das volle Ausmaß von dessen Handeln bewusst. Niemand hätte einen verwahrlosten — und womöglich verrohten — Mann aufgenommen und dadurch die Feindschaft mit dem größten Bauer in der Umgebung riskiert, nur weil ein verliebtes Mädchen, das man erst ein Jahr lang kannte, sich das einbildete. Es passte zu seinem Vater, er konnte Leid nicht mitansehen und schon gar nicht, wenn es in seiner Umgebung geschah. Vielleicht beeindruckte ihn auch Hedwigs übermäßige Liebe, weil er sich selbst im Innersten nach einer solchen sehnte.
Emil sah zerlumpt aus und war verletzt, sein Gesicht war blutverschmiert, der Arzt musste seinetwegen kommen. Er sah aus, als hätte er einen schweren Kampf hinter sich, und alleine das erregte Eugens Neugier. Die Mutter war verärgert, dass ihre Einwände ignoriert worden waren, und er spürte, dass sie Hedwig nicht teilen wollte. Carl und ihm ging es ähnlich, aber was Eugen betraf, änderte sich das schnell, Emil faszinierte ihn. Er hatte Gespräche der Erwachsenen belauscht und wusste ungefähr, was der junge Mann mitgemacht hatte, und er begann sich alles Mögliche bildhaft vorzustellen. Emil musste den ganzen Tag schuften, wurde in der Nacht im Stall angekettet, bekam nur ein altes Stück Brot zu essen, der Bauer ging mit der Peitsche auf ihn los, die Halbbrüder stellten äußerst grausame Dinge mit ihm an. Seine überbordende Fantasie ließ ihn manchmal nicht schlafen, so sehr beschäftigte ihn die Lebensgeschichte des jungen Mannes. Emil hatte nicht nur durchgehalten, sondern sich körperliche Stärke angeeignet, um sich von den bösen Menschen zu befreien. In Eugens Augen war er ein Held, wie Herkules, er bewunderte ihn und schloss ihn ins Herz.
Anfangs war Emil unsicher, er brachte kaum ein Wort heraus und wurde rot, wenn jemand mit ihm sprach. Hedwig wollte ihm diese Unsicherheit nehmen, bei den Mahlzeiten — wenn er sich sichtlich unwohl fühlte und unbeholfen am Tisch saß — nickte sie ihm immer wieder aufmunternd zu, sie antwortete sogar für ihn, wenn ihm eine Frage gestellt wurde.
»Lass Emil für sich reden«, lachte der Vater, und die Zwillinge machten sich einen Spaß daraus, sich ebenfalls gegenseitig grinsend zuzunicken.
Sie strahlte so viel Liebe aus, dass das ganze Haus davon erfüllt schien. Obwohl sie ihre Arbeit nicht im Geringsten vernachlässigte, gab es für sie nur noch den jungen Mann, den sie wachsam mit ihren Augen verfolgte, um stets im Vorhinein seine Bedürfnisse zu erahnen und ihm bestimmte Situationen zu erleichtern. Eine unglaubliche Herzenswärme und Zuneigung stülpte sie über ihn, und er richtete sich daran auf.
Niemand in der Familie konnte sich dem Zauber, der von Emil und Hedwig und ihrer Liebe ausging, entziehen, es war, als würde das Glück, das die beiden ausstrahlten, auf alle abfärben. Hedwig war ohne Emil nicht vorstellbar, und Eugen konnte sich bald seine Familie nicht mehr ohne das junge Paar vorstellen. Die bedrückende Stimmung, die bei ihnen geherrscht hatte, war verschwunden, die Mutter summte sogar oft vor sich hin, der Vater war wieder öfter zu Hause. Wie ein Schwamm saugte Emil alles auf, was Vinzenz ihm in der Mühle beibrachte, was er sah und hörte. Abwechselnd übten die Eltern das Lesen mit ihm, der Vater dozierte über Physik, Geschichte, Geografie, die Mutter brachte ihm das Tanzen bei. Er war ihr Projekt, durch das sie zusammenfanden.
Der Samstagabend, an dem sie alle durch das Wohnzimmer hopsten, Walzer und Polka tanzten, blieb Eugen besonders in Erinnerung. Der Vater lud einen Geigenspieler ein, es floss eine Menge Alkohol, und schließlich wurde nur noch gelacht und gewitzelt, während sie die Tanzschritte nachmachten, die entweder Hedwig oder die Mutter vorzeigten. Eugen sah zum ersten Mal die Eltern miteinander tanzen, während er sie herumwirbelte, flüsterte der Vater der Mutter etwas ins Ohr, und sie konnte nicht aufhören zu lachen, daneben übte Emil mit Hedwig, und Carl forderte Tante Josephine auf. Sie alle waren bei einer Hochzeit eingeladen, ein Angestellter seines Vaters heiratete — einer der Männer, der mit seinem Gespann und Fuhrwerk Auslieferungsdienste besorgte —, und deshalb wollte Emil tanzen lernen. Beim Fest tanzte er schließlich mit allen Frauen, die anwesend waren, wobei er dem Alter nach vorging, er ging von Tisch zu Tisch und fragte jede einzelne höflich nach ihrem Namen und wie alt sie war — die Frauen waren höchst erstaunt —, um dann die Älteste als Erste zum Tanz zu holen. Sie war über siebzig, eine gebückt gehende Frau, die sich zuerst zierte, aber, von allen angefeuert, am Ende doch aufstand und mit Emil einen Walzer tanzte, zum Schluss applaudierten die Leute, und Emil verneigte sich theatralisch. Alle Frauen hatten an diesem Abend eine große Freude mit ihm.
Aber das war erst im Frühling, als Emil bereits ein Dreivierteljahr bei den Brugger wohnte, vorher — und auch danach — gab es unzählige andere Abende, an die Eugen gerne dachte und die er später noch lieber vergessen hätte.
Oft las ihnen Hedwig Komödien von Shakespeare vor, wobei sie mehr schauspielerte als las, und einmal, sie hörten wieder Die Komödie der Irrungen, weil Carl und er das Stück so mochten — es ging um zwei Zwillingspaare, die verwechselt wurden —, forderte sie spontan Emil auf, ein paar der Rollen zu übernehmen, um sein Lesen zu verbessern. Nach einigem Zögern ließ er sich darauf ein. Er las stockend, begann aber bald eine ähnlich übertriebene Mimik und Gestik wie Hedwig zu machen, die meistens nicht zum Gelesenen passte, sodass Carl und Eugen vor Lachen fast platzten. Gustav warf sich auf den Boden und lachte mit ihnen, obwohl er nicht wusste, worum es ging. Als die Eltern sich dazusetzten, fragte der Vater augenzwinkernd, ob die Handlung des Schecksbier-Stückes nicht anders verliefe, ob nicht Hedwig auf einem Balkon stehen und Emil zu ihr rauflamentieren müsse, wie unsterblich verliebt er sei. Er habe davon einmal in der Zeitung gelesen, sagte er, es heiße Romil und Hedulia oder so ähnlich. Daraufhin fing die Mutter zu lachen an, Hedwig wurde rot, und Emil sagte, das Stück sei ihm nicht bekannt, woraufhin die Mutter noch mehr lachten musste.
Zu Weihnachten — Emil war seit drei Monaten im Haus — hielt Hedwig eine kleine Rede, bei der sie zu weinen begann, sie bedankte sich bei den Eltern, dass sie vor eineinhalb Jahren wie ein Familienmitglied aufgenommen worden war.
»Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie wohl ich mich bei euch fühle. Ich danke Gott jeden Tag dafür, dass er mich zu euch geführt hat. Na ja, und meinem Vater, in der Sache hatte er ausnahmsweise den richtigen Riecher. Ich wüsste nicht, was sonst aus mir geworden wäre«, sagte sie und schaute zu Emil hinüber, der hinzufügte: »Und ich danke euch auch von Herzen, dass ihr mir eine Arbeitsstelle und ein Heim gegeben habt.«
Hedwig, unter Tränen, umarmte Eugens Eltern, Josephine und Vinzenz, Emil schüttelte verlegen Hände, Gustav jammerte, er wolle auch umarmt werden. Angesichts der Gefühlsduselei rollten Carl und er die Augen, aber dann ließen sie sich auch gern von Hedwig umarmen und küssen.
Im Juni 1893 heirateten die beiden, Hedwig war zwanzig, Emil nicht ganz zweiundzwanzig, die Eltern hielten sie zwar für zu jung, brachten aber Verständnis auf. Wofür sie Verständnis aufbrachten — Eugen hatte ein Gespräch belauscht —, wollten sie ihm nicht sagen. Er wusste ohnehin, womit er es zu tun hatte, er hatte Hedwig und Emil nicht nur einmal beim Küssen beobachtet, es hatte ausgesehen, als würden sie sich gegenseitig auffressen wollen, Hedwig schob Emil schließlich weg und flüsterte: »Zuerst wird geheiratet.«
Der Vater war Emils Trauzeuge, die Mutter Hedwigs, nur die drei Kinder und Josephine und Vinzenz waren in der Kirche, Emil hatte sich gegen eine Einladung der Familie Eder entschieden. Die Eltern überraschten das Brautpaar mit einem Festessen im Garten, auch drei Musiker waren anwesend, Vaters Angestellte, seine Schwester Katharine und vier ihrer Kinder samt Familien waren da, um mitzufeiern, sie bildeten ein Spalier, als die Neuvermählten den Garten betraten. In der Nacht konnten sie Gustav plötzlich nicht mehr finden, bis ihn Emil unter der Trauerweide entdeckte, wo er eingeschlafen war.
Nach der Hochzeit zog Hedwig aus dem Zimmer neben Carl und Eugen aus und in Emils Kammer im alten Trakt ein. Es sei ihr lieber so, sagte sie, vermutlich wollte sie nicht, dass sie und ihr frisch angetrauter Ehemann unter ständiger Beobachtung standen. Ein Fotograf kam und machte Bilder von den beiden, auch von ihnen allen vor dem Haus und eines vom Vater vor dem Kaufhaus. Der Vater hatte ihn aus diesem Grund in die Hofmühle bestellt, für gewöhnlich musste ein Brautpaar in das Studio des Fotografen kommen. Für die Fotos schlüpften Hedwig und Emil noch einmal in ihre Hochzeitskleidung. Hedwigs Kleid — es war ein aufwendig genähtes, enzianblaues Taftkleid mit Puffärmeln, das ihren dunklen Teint zur Geltung brachte — hatte Anna geschneidert, der Vater war mit Emil nach Linz gefahren, um einen Anzug in Auftrag zu geben. Emil wollte nicht, dass so viel Geld für ihn ausgegeben wurde, doch der Vater bestand darauf.
»Einen guten Anzug wirst du ein Leben lang brauchen«, sagte er.
Eugen stellte sich immer vor, dass Emil in seinem guten Anzug auf dem Meeresgrund lag, obwohl es nicht sehr wahrscheinlich war, dass er ihn auf dem Schiff angezogen hatte. Als er die Hofmühle im Jänner 1895 verließ, packte Emil den guten Anzug in seinen Koffer und trug den schlechten — es war ein alter von Eugens Vater — am Körper. Das blaue Hochzeitskleid bewahrten die Eltern nach Hedwigs Tod in einer großen Truhe auf dem Dachboden auf. Zwanzig Jahre später holte es Anna hervor, um es Luzia zu zeigen, die auf Carls Einladung hin in die Hofmühle gekommen war, um Fotos von ihren Eltern zu sehen, und wieder fünf Jahre später trat sie damit vor den Traualtar, ohne Puffärmel, die waren nicht mehr in Mode.
Die beiden jungen Leute wollten nach Amerika auswandern. Als Eugen das zum ersten Mal hörte, war er elf, er stellte Emil wütend zur Rede, als dieser es bestätigte und ihn beruhigend an der Schulter nahm, riss er sich los, versteckte sich im Keller und heulte Rotz und Wasser. Er konnte und wollte sich ein Leben ohne seinen Freund nicht vorstellen, Emil war ihm neben Carl der liebste Mensch. Kaum kamen sie aus der Schule, liefen sie zu ihm, um ihm entweder in der Mühle, in der Säge, im Kaufhaus oder im Lager zu helfen. Eugen hatte dabei mehr Ausdauer, er war lieber mit Emil zusammen als im Haus bei den Frauen, Carl verließ sie meistens nach einer Weile. Emil behandelte ihn wie einen Erwachsenen, und sie hatten bei der Arbeit ihren Spaß, Eugen mochte nicht für die Schule lernen oder lesen, wie es die Mutter von ihm verlangte, auf Gustav aufpassen oder Tante Josephine im Garten helfen. Er war — zum Leidwesen der Eltern — ein schlechter Schüler und fühlte sich bei der Arbeit wohler als in der Schule und bei den Hausaufgaben.
Der Vater bot Emil an, später die Mühle zu pachten, aber das war Hedwig nicht genug, es war offensichtlich, dass sie die treibende Kraft war. Sie wollte nicht ihr Leben lang in einer alten Kammer hausen und abhängig sein, sie wollte ihr Nest bauen, ein Heim gestalten, ihre eigene Küche haben, nicht ständig umringt von anderen Menschen sein. Das erfuhren wir von Emil, Hedwig sprach nicht viel darüber, sie befürchtete, dass die Eltern sie undankbar fanden.
»Ihr eigenes Heim gestalten«, sagte Vinzenz und seufzte, »früher wären Leute wie die zwei zufrieden gewesen, wenn es ihnen so gut gegangen wäre, wie es den beiden geht. Nicht nur zufrieden, sie hätten ihr Glück nicht fassen können! Sie haben eine große Kammer, er bekommt einen großzügigen Lohn, sie essen dreimal am Tag nicht nur gut, sondern üppig. Früher konnten solche nicht einmal heiraten!«
»Und es ist gut, dass es nicht mehr so ist«, sagte der Vater.
Vinzenz und er diskutierten oft über derartige Dinge. Darüber, dass sich Dienstboten bestimmte Rechte erkämpften, dass sie lieber in die Stadt zogen, um in einer Fabrik zu arbeiten, aber dafür heiraten konnten, dass ein Knecht, der eisern seinen Lohn gespart hatte, in der Lage war, einen kleinen Hof zu pachten.
»Da stimme ich dir zu. Aber Zufriedenheit ist auch wichtig. Je besser es den Leuten geht, umso mehr wollen sie haben. Die Welt steht Kopf, wenn die Leute nicht mehr wissen, wo ihr Platz ist.«
Der Vater schrieb einem ehemaligen Kameraden aus der Marinezeit, der nach Milwaukee ausgewandert war und dort eine Mühle übernommen hatte, und fragte ihn, ob er eine Stelle für Emil hätte. Kurze Zeit darauf wussten Hedwig und Anna, dass sie beide ein Kind erwarteten, der errechnete Geburtstermin kurz vor der Osterzeit unterschied sich nur um drei Tage. Die beiden Frauen behaupteten, es wäre Zufall, Eugen konnte das — als Erwachsener — nicht glauben und nur Vermutungen anstellen: Hedwig erzählte Anna unter Tränen, dass das Ding gerissen war, woraufhin seine Mutter beschloss, ebenfalls ein weiteres Kind haben zu wollen, der Wunsch nach einer Tochter war bei ihr immer noch groß. Vielleicht hoffte sie dadurch, das junge Paar in der Heimat halten zu können, oder sie glaubte, die beruhigende Vorstellung von einer gemeinsamen Mutterschaft — und von einem zweiten Kind im gleichen Alter wie das eigene — würde Hedwig überzeugen, in der Hofmühle zu bleiben.
Sie ließ sich nicht überzeugen. Hedwig war nicht glücklich über die ungeplante Schwangerschaft, weil die lange Reise nach Amerika, der Aufenthalt in Ellis Island, der Anfang im fremden Land dadurch beschwerlicher für sie sein würden, aber sie beharrte darauf, sie wollte nichts als auswandern. Viele sagten später, Hedwig sei abenteuerlustig gewesen und habe Emil in ihrem Überschwang mitgerissen. Und dass die Gehässigkeiten seines Halbbruders Friedrich, die er jedes Mal, wenn man aufeinandertraf, von sich gab, den letzten Ausschlag gegeben hätten. Die Erinnerungen an seine schlimme Kindheit habe er endlich ganz hinter sich lassen wollen. Das stimmte sicherlich alles, aber Eugen wusste, dass es einen weiteren Grund gab, warum Hedwig Emil zum Auswandern drängte.
Sie wollte ihre kleine Familie für sich haben, sie wollte ihren Mann für sich alleine haben. Sie hatte keinen Anlass, eifersüchtig zu sein, und war es trotzdem. Emil liebte Hedwig, aber er brauchte sie nicht mehr — so wie es im ersten Jahr gewesen war —, um sich wie ein Mensch zu fühlen, sich seiner sicher zu sein, er war nicht mehr abhängig von ihr. Seine Entwicklung, die Eugens Vater so große Freude bereitete, schien ihr Angst zu machen. Mit Argusaugen beobachtete sie Emil, wenn sie am Sonntag mit Leuten zusammentrafen und mit ihnen plauderten, wenn sie nach der Messe zum Frühschoppen gingen, wenn sie gemeinsam im Kaufhaus arbeiteten und Kunden bedienten. Emil hatte etwas an sich, das die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich zog, sie unterhielten sich gern mit ihm, und es gab Frauen, die mit ihm schäkerten.
»Er ist nicht nur ein Sanguiniker, er hat obendrein Charisma«, hörte er einmal den Vater zur Mutter sagen.
»Und Charme«, erwiderte die Mutter.
Hedwig tat alles, um ihre Eifersucht zu verbergen, aber diejenigen, die sie gut kannten, bekamen sie trotzdem mit, die Eltern, Josephine, Vinzenz, und auch Eugen bemerkte sie, weil er viel mit ihr und Emil zusammen war. Hedwig wurde still, sie zog sich in sich zurück, er sah, wie sie sich quälte, sich das Leben schwermachte und darunter litt. In Amerika wäre Emil wieder mehr auf sie angewiesen gewesen, sie konnte leidlich Englisch sprechen, er würde in einer Mühle arbeiten, in der es nur Männer gab, nicht in einem Kaufhaus, in dem sich eine Menge Frauen tummelten, die ihm schöne Augen machten, und sie wäre mit ihm allein in einer Wohnung, ohne Anna Brugger. Sie war sogar — und vor allem — eifersüchtig auf die Hausherrin, die sich hervorragend mit Emil verstand und einen zwanglosen Umgang mit ihm pflegte, als wäre er ihr jüngerer Bruder. In manchen Situationen verstand auch Eugen das Verhalten seiner Mutter nicht, es verwirrte ihn, und er fragte sich, warum sie sich nicht mehr zurückhielt.
Während die Schwangerschaft seiner Mutter leichter verlief als die ersten zwei, verlangte sie Hedwig alles ab, ihre Zweifel, Launen, Verstimmungen verstärkten sich. Sie litt unter starker Übelkeit und Schwindel, war schwach und musste nach einer Blutung tagelang liegen, der Arzt riet ihr, die Fahrt nach Amerika um ein Jahr zu verschieben. Der erwartete Brief aus Milwaukee traf Anfang Jänner 1895 ein, Joseph Zeman hatte eine gute Stelle für Emil, dieser sollte so rasch wie möglich abreisen, er sagte auch Unterstützung bezüglich einer vorübergehenden Unterkunft zu. Neugierig verfolgte Eugen die Gespräche der Erwachsenen, die alle Für und Wider abwogen.
»Ich glaube nicht, dass du dir diese einmalige Gelegenheit entgehen lassen solltest«, sagte Albert schließlich. »Es ist von Vorteil, jemanden in der neuen Heimat zu haben, der einem Arbeit und Unterkunft gibt.«
An einem Tag bestärkte ihn Hedwig: »Es ist wirklich das Beste, wenn du alleine fährst. Ich komme im Herbst mit dem Kind nach, dann hast du für uns schon eine passende Wohnung gefunden.«
Am anderen Tag bettelte sie ihn regelrecht an, bei ihr zu bleiben und gemeinsam mit ihr nach der Geburt des Kindes die Reise anzutreten, es flossen Tränen.
»Das kann ich doch nicht machen«, sagte Emil. »Albert bittet um eine Stelle für mich, und dann bekomme ich eine und soll sie wieder absagen? Es wäre mir unangenehm, beiden gegenüber.«
Er entschied sich, alleine zu fahren.
Am 18. Jänner verließ er sie. Der Vater brachte ihn nach Wegscheid, wo er den Zug nach Bremen bestieg. Vorher hatte Aufregung im Haus geherrscht, gleichzeitig war die Stimmung gedrückt gewesen. Emil war mit dem Vater nach Linz gefahren, sie hatten in einer Agentur eine Fahrkarte des Norddeutschen Lloyd gekauft, beim Bürgermeister mussten die benötigten Ausreisepapiere beantragt werden. Die Frage, was man am besten für eine so lange Reise einpackte, beschäftigte sie alle. Zum ersten Mal seit mehr als drei Jahren ging Emil zum Ederhof, er verabschiedete sich von seinem Vater und seinem Bruder, der Besuch dauerte nur wenige Minuten, man behandelte ihn abweisend. Hedwig sollte im August oder September nachkommen, wenn es warm war und das Kind bereits einige Monate alt, die Eltern überlegten, wer sie begleiten könnte, um sie mit dem Baby zu unterstützen.
»Ich fahr mit«, sagte Eugen.
Seine Eltern lachten, und Hedwig umarmte ihn: »Dich würd ich auf der Stelle mitnehmen, Eugen.«
Er war unendlich traurig.
Sie wussten nicht, welches Schiff Emil bestiegen hatte, weshalb sie erst Tage später von seinem Tod erfuhren. Am Morgen des 30. Jänner ging es Hedwig sehr schlecht, sie war völlig außer sich, sie sagte, sie sei mitten in der Nacht aufgewacht und habe gespürt, dass irgendetwas Schreckliches vorgefallen war.
»Ich glaube, Emil ist etwas zugestoßen«, weinte sie beim Frühstück.
»Dem Himmel sei Dank, dass sich nicht alle Frauen so hysterisch aufführen, wenn sie ein Kind erwarten«, flüsterte der Vater der Mutter zu.
Am 5. Februar las Albert in der Zeitung vom Untergang der Elbe am frühen Morgen des 30. Jänner. Seine Befürchtung, dass Emil auf dem Schiff gewesen war, behielt er für sich, am selben Tag suchte er den Agenten in Linz auf. Er bestand darauf, dass dieser nach Bremen telegrafierte, um in Erfahrung zu bringen, ob ein gewisser Emil Wagner aus Putzleinsdorf unter den Passagieren der Elbe gewesen war. Am Tag darauf kam er aus Linz zurück und teilte zuerst der Mutter und dann Carl und Eugen mit, dass Emil bei einem Schiffsunglück ums Leben gekommen war, anschließend sagte er es Hedwig, dabei waren sie allein in ihrem Zimmer. Eugen konnte erst viel später — ein Jahr vor seiner Auswanderung — mit seinem Vater darüber reden, Albert erzählte ihm, dass es das Schwerste gewesen war, was er in seinem Leben hatte meistern müssen.