Der Vater entschied sich gegen Eugen, es war Carl, der ihn auf seine Geschäftsreise nach Wien begleiten durfte. Am Karsamstag wollten sie zurück sein, ihren zwölften Geburtstag würden sie getrennt verbringen.
Eugen wusste, dass es die Mutter gewesen war, die den Vater gebeten hatte, dieses Mal Carl mitzunehmen, denn er hatte im letzten Sommer dabei sein dürfen. Der Vater hatte sie beide mitnehmen wollen, doch Carl war aus freien Stücken zu Hause geblieben. Aus diesem Grund empfand er es ungerecht, von der Reise ausgeschlossen zu werden. Eugen bettelte den Vater an, ihn ebenfalls mitzunehmen.
»Ich brauche dich zu Hause«, antwortete er. »Du musst deine Mutter unterstützen, so gut du kannst. Ich verlasse mich auf dich.«
Josephine lag mit einer schweren Bauchgrippe im Bett, und die Mutter war mit dem zwei Wochen alten Baby beschäftigt. Endlich war die ersehnte Tochter gekommen, sie war auf Wunsch des Vaters nach der Kaiserin benannt worden. Die Mutter brauchte einen von den Zwillingen im Haus, damit er sich mit Gustav beschäftigte, da sie sich außerdem liebevoll um Hedwig kümmerte. Seit drei Tagen lagen zwei kleine Mädchen im Stubenwagen, Hedwig hatte ihrer Tochter die Namen ihrer Mutter und ihrer Großmutter gegeben: Luzia Rosa.
Die Geburten waren bei beiden Frauen ohne Komplikationen verlaufen, Carl, Eugen und Gustav waren in diesen Stunden bei Josephine und Vinzenz einquartiert worden. Eugen hatte seinen Vater noch nie so erleichtert gesehen wie nach Hedwigs Niederkunft, er sank schwer auf einen Stuhl, als er zu seiner Schwester sagte: »Sie hat ein gesundes Mädchen bekommen. Es ist alles gutgegangen, schnell und ohne Probleme. Nach der schwierigen Schwangerschaft habe ich das gar nicht erwartet.«
Mit Josephine gingen die Buben hinüber, der Stubenwagen stand in der Küche, das Baby lag neben seiner Schwester, weil Hedwig schlafen wollte. Es kam Eugen eigenartig vor, dass sie ihr Kind nicht bei sich haben wollte, Elisabeth war immer dort, wo die Mutter war, sie ließ sie nicht aus den Augen. Die Hebamme sagte zu Josephine, dass sie noch nie eine Wöchnerin erlebt habe, die während der gesamten Wehen geweint habe. Er dachte daran, wie Hedwig zur Mutter gesagte hatte: »Wenn ich kein Kind erwartet hätte, wäre ich mit Emil ertrunken, wir wären gemeinsam gestorben. Und es wäre besser gewesen.«
Der Vater hatte nach Elisabeths Geburt die — offenbar wichtige — Geschäftsreise verschoben. Es gab Schwierigkeiten in Wien, die Adam Hanáček nicht alleine lösen konnte. Ein Lieferant, dem bereits eine hohe Anzahlung geleistet worden war, hatte nicht geliefert — der Mann war unauffindbar —, und ein anderer hatte schlechte Qualität geliefert und wollte trotzdem den vollen Kaufpreis, er drohte, vor Gericht zu gehen. Der Vater wollte überstürzt aufbrechen, wartete dann die zweite Geburt ab, war jedoch die ganze Zeit angespannt.
Eugen wollte sich gar nicht vorstellen, welch aufregende Dinge Carl in Wien sehen und erleben würde, wohingegen er sich um langweiligen Frauenkram kümmern musste. Bestimmt würden sie, nachdem der Vater alles erledigt hatte, in den Tiergarten Schönbrunn gehen oder ins Naturhistorische Museum, sich vielleicht sogar einen Schwank im Theater ansehen. Er wollte nichts mehr als mitfahren, für ein paar Tage der weinenden Hedwig, der Mutter, die nur um sie herumscharwenzelte, den schreienden Säuglingen, der niedergeschlagenen Stimmung entkommen. Zweimal noch versuchte er den Vater umzustimmen, beim zweiten Mal schlug er vor, Tante Katharine zu bitten, in der Zeit der Mutter auszuhelfen, der Vater reagierte ungehalten.
»Schluss jetzt, Eugen«, sagte er laut und schaute ihn mit einem derart zornigen Blick an, dass Eugen unwillkürlich zurückzuckte, er war solche Blicke von ihm nicht gewohnt. »Wir wollen niemanden mit unseren Problemen belästigen.«
Eugen wusste, worauf er anspielte. Albert wollte nicht noch mehr Öl ins Feuer gießen, die Leute zerrissen sich ohnehin genug das Maul, seitdem im Februar bekannt geworden war, dass die Elbe gesunken war und mit ihr Eders Sohn. Carl und er packten gerade Sachen für die Kunden ein und halfen, sie auf die Fuhrwerke zu laden, als der alte Eder ins Kaufhaus schlurfte, es war an einem Samstag, und es herrschte voller Betrieb.
»Das hat er natürlich abgewartet«, sagte die Mutter bitter.
Er warf Albert Brugger lautstark vor, er sei schuld am Tod seines Sohnes, er habe ihn zum Auswandern überredet, weil er ein Handelsgeschäft in Amerika eröffnen wolle, dafür habe er Emil vor Ort gebraucht.
»Du hast ihn für deine Zwecke benutzt, Brugger, du geldgieriger Hund, er ist wegen dir gestorben!«
Eugen musste sich konzentrieren, um alles zu verstehen, was Eder sagte, der wegen seiner herabhängenden Gesichtshälfte sehr undeutlich sprach.
Daraufhin hielt sich im Dorf hartnäckig das Gerücht, Brugger & Partner plane, einen Handelsstützpunkt in New York zu eröffnen, um Waren aus Amerika einzuführen, und Emil Wagner wäre das Opfer der ehrgeizigen Pläne vom Hofmüller geworden.
»Versprich mir, dass du dich gut um Gustav kümmerst«, ermahnte ihn der Vater noch einmal am Abend vor der Abreise. »Tu alles, was dir die Mutter aufträgt. Verbreite ein bisschen gute Laune im Haus, das kann nicht schaden. Und euren Geburtstag feiern wir am Ostersonntag nach.«
Er durfte also den Hofnarren für die Frauen geben, während Carl in Wien seinen Spaß hatte! Enttäuscht und wütend verzog er sich in ihr Zimmer, seit Emils Tod schlief auch Gustav bei Carl und ihm, in dessen Zimmer wohnte jetzt Hedwig. Nach Emils Tod hatten die Eltern verlangt, dass sie wieder in den neuen Trakt zog, sie wollten sie in der Nähe wissen.
Gustav wartete auf ihn und streckte ihm zwei Pferde und zwei Ritter entgegen.
»Spielen«, forderte er ihn auf.
Widerwillig setzte er sich neben Gustav auf den Teppich, nahm die hölzernen Figuren und setzte das Schauspiel fort, das er am Tag zuvor begonnen hatte: Kaiser Maximilian war auf seinem kraftvollen Schimmel Maphima — der Name setzte sich zusammen aus Maria, Philipp und Margarete — in die Schlacht geritten, gegen seinen Erzfeind, den französischen König Karl VIII. Nun endlich stand er ihm allein auf dem Schlachtfeld gegenüber, die beiden lieferten sich einen erbitterten Schwertkampf, den schließlich Kaiser Maximilian zu seinen Gunsten entscheiden konnte. Gustav johlte vor Vergnügen, sprang auf und ab und klatschte begeistert in die Hände.
Eugen täuschte Kopfschmerzen vor und trug Carl auf, den Eltern mitzuteilen, dass er beim gemeinsamen Abendessen nicht dabei sein konnte. Er fühlte sich außerstande, am Tisch zu sitzen und so zu tun, als wäre alles in Ordnung, er wusste, seine Wut würde innerlich hochkriechen. Womöglich müsste er Tränen zurückhalten, würde dabei wie ein schmollendes Kleinkind wirken, und der Vater würde ihn schimpfen. Seitlich auf dem Bett liegend lauschte er den Schritten der Menschen, dem Knarren der Türen und Bodendielen, das tat er immer, wenn er nicht schlafen konnte. Aufgrund der Geräusche konnte er erraten, wer welchen Raum verließ oder betrat, ein paar Mal hatten Carl und er einen Wettbewerb daraus gemacht, den immer er gewann, sodass Carl schnell die Lust an diesem Spiel verlor. Eugen hoffte inständig auf die schweren Schritte des Vaters. Er stellte sich vor, dass die Tür geöffnet wurde, sein Vater eintrat, sich auf das Bett setzte und ihm mitteilte, die Mutter hätte eine andere Lösung gefunden oder würde es alleine schaffen und er dürfe doch mitkommen. Niemand kam, und nach einer Weile schlief er mit knurrendem Magen ein.
Nachdem Carl leise aus dem Zimmer geschlichen war, stieg Eugen aus dem Bett, ging zum Fenster, schob den Vorhang zur Seite und schaute hinaus. Der Himmel war wolkenlos blau, und die Sonne schien strahlend, Carls Ausflug nach Wien würde auch noch von herrlichem Wetter gekrönt sein, er hatte also letzte Nacht vergeblich um strömenden Regen und eisigen Wind gebetet. Die Stute war bereits eingespannt, Vinzenz saß wartend auf dem Fuhrwerk, er sollte die beiden zum Bahnhof nach Neufelden bringen. Carl, die Haare streng zur Seite gekämmt, kam aus dem Haus, hinter ihm der Vater, er kletterte am Wagen hoch und streckte ihm lächelnd die Hand hin, um ihn hochzuziehen, Eugen ließ wütend den Vorhang los und kroch wieder unter die Bettdecke. Gustav rüttelte ihn wach.
»Du sollst mir beim Anziehen helfen und mit mir frühstücken«, sagte er. »Hat Mutter gesagt.«
Am Frühstückstisch fand er Hedwig vor, sie war zum ersten Mal seit der Entbindung auf den Beinen, die letzten Tage hatte sie im Bett verbracht, schlafend, weinend, sich abmühend, dem Säugling die Brust zu geben. Die Mutter hatte ihr das Essen ans Bett gebracht, selbst der Vater hatte das übertrieben gefunden. Offensichtlich zeigte die Standpauke der Hebamme Wirkung, sie war am Vortag bei Hedwig gewesen und hatte ihr geraten, zumindest ein paar Stunden am Tag aufzustehen.
»Wenn die Milch einschießt, fühlt sich jede Wöchnerin bedrückt, das nützt nichts, da musst du durch, Mädchen«, sagte sie.
Hedwig trug nichts als ein weißes Nachthemd und einen Schlafmantel, die dichten dunklen Haare fielen ihr über den Rücken, mit langsamen, trägen Bewegungen nahm sie ihre Tasse und trank. Eugen schmierte für Gustav Brote und beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Am Anfang hatte ihn Hedwigs Trauer in seinen Bann gezogen, so ist das also, wenn ein Mann geliebt wird und stirbt, hatte er gedacht, allmählich aber war Zorn dazugekommen. Emil ist es bei uns gut gegangen, euch ist es bei uns gut gegangen, warum zum Teufel hast du unbedingt auswandern wollen?, dachte er. Und jetzt, nach beinahe drei Monaten, wollte er sie nicht mehr sehen und hören müssen. Seit dem Tag im Februar, an dem Hedwig in ihrem Zimmer ohnmächtig geworden war, drehte sich alles um ihren Schmerz, er hielt das Haus gefangen, machte jedem das Atmen schwer.
Gustav lief ihm ständig hinterher, er war weinerlich, fühlte sich schlapp, Eugen mühte sich ab, ihn zu beschäftigen, bereits nach wenigen Stunden war er gereizt. Hedwig hatte offenbar beschlossen, der Aufforderung der Hebamme nachzukommen, sie blieb auf den Beinen, zog sich nur am Nachmittag in ihr Zimmer zurück, um ein bisschen zu schlafen, um Gustav kümmerte sie sich dennoch nicht eine Minute lang. Am Abend klagte der Kleine über Bauchschmerzen, Eugen brauchte lange, um ihn zum Einschlafen zu bringen.
Am nächsten Tag spazierte er gleich nach dem Frühstück mit seinem Bruder ins Dorf und kaufte im Krämerladen Süßes. Der Postbote kam ihnen entgegen und händigte ihm Briefe für den Vater aus, er plauderte mit ihnen und fuhr Gustav ein Stück auf dem Rad auf und ab, bevor sie in die Hofmühle zurückgingen. Bei jeder Gelegenheit scheuchte sie die Mutter mit irgendwelchen Aufforderungen in einen anderen Raum oder ins Freie. Eugen wollte, dass sie sich um Gustav kümmerte, dass Hedwig wieder die Alte war, er wurde zunehmend wütender. War es nicht die heilige Pflicht der Mutter, sich um ihre Kinder zu kümmern? Und Hedwigs Pflicht war es, sie dabei zu unterstützen, denn der Vater bezahlte ihr monatlich zu diesem Zweck einen Lohn, und wie der Vater zu sagen pflegte, wuchs das Geld nicht auf den Bäumen. Sie war eine Diebin. Im Grunde bestahl sie den Vater, denn sie erfüllte ihre Aufgabe nicht, im Gegenteil: Sie war zu einer Aufgabe geworden.
Am Abend — Gustav schlief bereits — schlich er im Haus herum, aus dem Wohnzimmer hörte er die Stimmen der Frauen, wie so oft in den letzten Wochen redete Anna leise und beschwichtigend auf Hedwig ein. Er ging ins Arbeitszimmer des Vaters — das war den Kindern verboten —, setzte sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch und schaute die Briefe durch, die ihm der Postbote gegeben hatte. Einer war an Hedwig adressiert, er hob ihn erstaunt hoch, er fühlte sich dick an, sie hatte noch nie einen Brief erhalten, seitdem sie in der Hofmühle wohnte. Vielleicht war er von Verwandten von Hedwig in Wien, vielleicht hatten diese von ihrem Elend gehört und boten ihre Hilfe an, vielleicht konnte sie gar zu ihnen ziehen.
Eugen las den Absender, er kam nicht aus Wien, sondern von einem Fotoatelier in Bremen. Hat Hedwig ausgerechnet in der Stadt, in der Emil seine letzten Tage verbracht hat, Verwandte, fragte er sich, eigenartig, dass sie nie davon erzählt hat. Er drehte das dicke Kuvert hin und her, nahm den Brieföffner, schlitzte es auf und zog zwei beschriebene Blatt Papier und zwei Fotografien heraus. Er erschrak heftig, eines war ein Porträt von Emil, das zweite Bild zeigte ihn mit drei fremden Menschen: Emil stand zwischen einer Frau, die den Arm um seine Schulter gelegt hatte, und einem jungen Burschen, auf der anderen Seite der Frau stand ein Mann. Auf dem Papier war eindeutig Emils Handschrift zu erkennen, ihm wurde schwindlig, sein Herz klopfte, und er brauchte eine Weile, um sich zu beruhigen. War Emil gar nicht auf der Elbe gewesen, sondern in Bremen geblieben, arbeitete er dort für einen Fotografen? Eugen schloss das Arbeitszimmer von innen ab, um nicht von der Mutter überrascht zu werden. Auf dem Papier stand links geschrieben: »Meine liebste Hedwig!« und rechts das Datum: 28. Jänner 1895, demnach war der Brief bereits älter als zwei Monate.
Emils Brief zu lesen stellte keine Schwierigkeit dar, die Handschrift war leserlich, sie wirkte wie die eines Schülers. Er erzählte von der Zugfahrt und dass er Leute aus Bayern kennengelernt habe, mit denen er seine Zeit in Bremen verbrachte, sie hießen Hubert, Maria und Franz und waren lustige Leute, sie hatten, weil sie betrunken gewesen waren, ein gemeinsames Foto gemacht, der Fotograf würde es ihr zukommen lassen. Ich hoffe, Du bist nicht böse deswegen. Es war nicht kostspielig. Er schrieb von der Gesundenuntersuchung und einer verrückten Frau, die dabei gewesen war, sie war die Witwe eines Arztes. Das ist eine eigenartige Geschichte. Ich werde sie Dir ausführlich erzählen, wenn wir uns wiedersehen. Die Frau hat zu mir gesagt: Finden Sie Ihr Glück und behalten Sie es. Sie sagt das zu allen. Ihr Mann hat früher die Untersuchungen für die Reederei durchgeführt. Ein paar Männer, die kein Zeugnis von ihm bekommen haben, haben den Arzt umgebracht. Sie hat dabei zuschauen müssen. Deshalb ist sie verrückt geworden. Jetzt läuft sie mit einem Blumenkranz im Haar herum und schaut durch einen hindurch. Ihr Mann hat allen Auswanderern beim Abschied dasselbe gewünscht. Ein Drittel wird nämlich sehr unglücklich in der neuen Heimat und kommt in die alte zurück. So ist es mir hier gesagt worden. Stell Dir vor, ein Drittel! Meine liebe, liebe Hedwig. Wir haben unser Glück schon vor drei Jahren in der Hofmühle gefunden. Weil Du mich gefunden hast auf der Bachwiese. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was sonst mit mir geworden wäre. Wir werden es in Amerika nicht verlieren. Weil wir fleißig sein werden und uns nicht unterkriegen lassen. Und weil Du mir das Liebste auf der Welt bist.
Der Brief endete mit den Zeilen: Heute ist mein letzter Abend hier. Ich bin aufgeregt. Morgen zeitig früh bringt uns die Bahn von Bremen bis Bremerhaven, wo ich zu Mittag das Schiff besteige. Die Elbe läuft am Nachmittag aus. Ich freue mich sehr auf unser gemeinsames Leben in Milwaukee. Sei nicht traurig, die Zeit bis zum Sommer geht schnell vorbei. Grüß die Brugger recht herzlich von mir, gib den Buben einen Kuss von mir und Eugen zwei. Dein Dich liebender Ehemann Emil, pass gut auf Dich und unser Kind auf. Du wirst sehen, ich habe Recht, und es wird ein Mädchen.
Eugen stand auf, setzte sich mit dem Brief und den Fotografien in der Hand in den großen Fauteuil und rollte sich dort ein, er schluchzte und fühlte sich hundeelend. Später schreckte er hoch, weil ihm eiskalt war — das Arbeitszimmer wurde natürlich nicht geheizt, wenn der Vater abwesend war —, er musste eingeschlafen sein. Er stand auf und versteckte das Kuvert mitsamt seinem Inhalt in einem dicken Buch, das im Regal stand. Er alleine konnte darüber entscheiden, was er mit Emils Gruß aus dem Jenseits machte, ob er ihn Hedwig sofort aushändigte oder zuerst mit dem Vater darüber redete. Aber dann verwarf er den Gedanken wieder, der Vater hatte ihn nicht nach Wien mitgenommen, dafür würde er ihn nicht in sein Geheimnis einweihen. Es gab eine dritte Möglichkeit: Er konnte alles für sich behalten. Der Gedanke gab ihm ein kleines bisschen das Gefühl, mächtig zu sein.
In der Nacht wurde er von Gustav geweckt, er stand neben seinem Bett, ein eigentümlicher Geruch ging von ihm aus, er zündete die Lampe auf dem Nachttisch an. Gustavs Pyjamahose war braun verfärbt und nass, offensichtlich hatte er sich bei Josephine angesteckt und sich eine Bauchgrippe eingefangen, er stank erbärmlich, Eugen konnte nicht anders, als sich die Nase zuzuhalten. Er lief zum Schlafzimmer der Eltern, das Bett war leer, er suchte die Mutter in der Küche, im Wohnzimmer, im Nähzimmer, er klopfte an Hedwigs Zimmertür und öffnete sie. Im Zimmer war es warm, fast stickig, die Mutter lag neben Hedwig im großen Bett, sie waren seitlich zueinander gewandt und schliefen. Beide trugen sie nur ein Hemd, darunter konnte er die großen Brüste erkennen, er sah ihre nackten Arme und Beine, die Hand der Mutter auf Hedwigs Hüfte, zwischen ihnen die zwei Mädchen. Der Anblick widerte ihn an.
Er verließ das Zimmer und schloss leise die Tür. Er zog Gustav die Hose aus und zog ihm — ohne ihn zu waschen — eine neue an, wickelte ihn in eine Wolldecke und legte ihn in Carls Bett, es ekelte ihn schrecklich dabei, zum Glück schlief Gustav sofort wieder ein. Das ganze Zimmer roch übel, er wälzte sich herum und stand erneut auf. Er ging ins Arbeitszimmer, sperrte von innen ab und holte das Kuvert aus dem Buch, er betrachtete die Fotos und las den Brief wieder und wieder durch. Finden Sie Ihr Glück und behalten Sie es. Die Frau, die neben Emil stand, hatte also Maria geheißen und war eine lustige Person gewesen, sie war mollig, hatte blonde Haare, die sich am Stirnansatz kräuselten, sie lächelte kokett in die Kamera, den Kopf hatte sie zu Emil geneigt, es sah aus, als wären die beiden ein Paar. Er stellte sich Emil vor, wie er im Gasthof in seinem Zimmer saß und den Brief schrieb, wie er vor Aufregung nicht schlafen konnte. Gib den Buben einen Kuss von mir und Eugen zwei.
In den Schubladen suchte er nach einer Schere. Er schnitt rechts den Mann und links den Burschen weg, sodass nur noch Emil und die Frau namens Maria auf dem Bild zu sehen waren. Aus der Küche holte er eine ovale Suppenschüssel, auf der Rückseite des Fotos fuhr er mithilfe der Schüssel die Form mit einem Bleistift nach und schnitt das Ganze vorsichtig aus. Am Ende lag ein perfekt ovales Foto vor ihm, dessen Rand er mit schmutzigen Fingern und Asche abwetzte, damit er nicht frisch geschnitten aussah, den Rest versteckte er in der Bibel im obersten Regal, er wusste, sein Vater würde sie nicht hervorziehen und lesen. Mit verschnörkelten Blockbuchstaben schrieb er auf die Rückseite des Fotos: Emil und Maria, Milwaukee, März 1895.
Eugen blieb im Armsessel des Arbeitszimmers sitzen, das Foto lag auf dem Schreibtisch, die Tür stand einen Spalt offen. Gegen Morgen, es dämmerte bereits, ging die Mutter in ihr Zimmer. Nach einer Weile hörte er Hedwig die Treppen herunterkommen, sie suchte die Toilette auf und trank in der Küche ein Glas Wasser, er rief nach ihr, sie schob die Tür auf und schaute herein.
»Was tust du da, Eugen?«, fragte sie und kam herein. »Warum bist du nicht im Bett?«
Er jammerte, dass er nicht hatte schlafen können, weil Gustav und sein Bett ziemlich stanken, weshalb er ins Arbeitszimmer ausgewichen war. Als sie am Schreibtisch vorbeikam, fiel ihr Blick auf das Foto, sie blieb ruckartig stehen und hob es hoch. Er stand auf und sagte, sie dürfe das nicht sehen, der Vater habe es erst vor wenigen Tagen bekommen und in seinem Arbeitszimmer versteckt, damit sie es nicht zu Gesicht bekomme.
»Ich hätte es wieder in die Schublade zurücklegen sollen. Der Vater wollte dir alles sagen, wenn es dir bessergeht.«
Sie sagte nichts, schaute das Bild mit großen Augen an, drehte es um, las, drehte es wieder um. Emil habe es aus Milwaukee geschickt, mehr wisse er auch nicht, er sei nicht auf der Elbe gewesen, weil er mit einem Mann den Platz getauscht habe. Er riss ihr das Foto aus der Hand und verließ das Arbeitszimmer, in der Tür drehte er sich um und sagte hart: »Du hättest ihm nicht so auf die Nerven gehen sollen.«
Er lief in sein Zimmer, sein Herz klopfte heftig, und sein Magen rumorte. Die Uhr zeigte fünf, Gustav schlief noch, und er kroch ins Bett, das Foto versteckte er unter der Matratze, ein paar Minuten darauf hörte er Hedwig in ihr Zimmer gehen und leise die Tür schließen, er war todmüde und schlief ein.
Die Mutter fand Hedwig drei Stunden später auf dem Dachboden. Sie hatte die Wäscheleine, die sich aufgerollt in einem Leinensack befand, verwendet, die Leine hing von Mai bis Oktober im Garten und wurde über den Winter auf dem Dachboden verstaut. Sie hatte das eine Ende zweimal über den Balken geschlungen und das andere um einen stehenden Sparren gebunden. Sie war auf einen Stuhl gestiegen, hatte das freie Ende genommen und die Schlinge geknotet, diese über ihren Kopf gezogen und den Stuhl weggestoßen. Der Fall war zu kurz gewesen, um sich das Genick zu brechen, ihre Zehen baumelten nur wenige Zentimeter über dem Boden, sie hatte sich stranguliert, ihr Gesicht war blau verfärbt, und die Zunge hing aus dem Mund.
Die Einzige, der Eugen je davon erzählte, war Caitlin, ein langer Winterabend und ein Glas Whisky zu viel hatten ihn dazu verleitet, das war im Jänner 1915, die Sache war bereits zwanzig Jahre her.
»Holy shit«, sagte sie, und er war froh, dass sie nicht rührselig reagierte, indem sie ihn in den Arm nahm und versuchte, ihn zu trösten. Sie fragte, was danach passiert war, und er vertraute ihr auch das an.
Er wachte mit Bauchschmerzen auf und mit dem Wissen, seinen Streich schnell rückgängig machen zu müssen. Hedwig hatte sicherlich genug gelitten, er musste ihr sofort alles gestehen, ihr Emils Brief und die Reste des Fotos aushändigen. Er wollte sich die Reaktion der Mutter und vor allem seines Vaters nicht ausmalen, wenn sie ihnen die Geschichte erzählte. Zu der Angst vor einer Strafe kam der Gedanke, dass er es zu weit getrieben und etwas Schreckliches getan hatte. Gustav lag nicht mehr in Carls Bett, das Haus schien leer zu sein — die beiden Babys brüllten im Schlafzimmer der Eltern —, er fand ihn schließlich in der Badestube, wo er von einer aufgelösten Josephine gewaschen wurde. Sein kleiner Bruder wirkte verschreckt, und seine Tante beschwor ihn eindringlich, nicht auf den Dachboden zu gehen, er hetzte die Treppen hoch und kletterte die schmale Stiege hinauf. Der Arzt und Vinzenz waren gerade dabei, das Seil durchzuschneiden, seine Mutter stand weinend daneben. Er wankte schließlich in sein Zimmer, holte das Foto unter der Matratze hervor, steckte es in den Küchenherd und warf ein brennendes Streichholz hinterher, das Kuvert mit dem Rest verbrannte er erst Monate später.
Der Vater und Carl kamen in der Nacht nach Hause, die Mutter hatte an Adam Hanáček telegrafiert. Eugen wurde krank, den zwölften Geburtstag verbrachte er entweder im Bett oder auf der Toilette. Am Anfang war es eine Magengrippe wie bei Josephine und Gustav, aber er erholte sich nicht, bekam hohes Fieber und weigerte sich zu essen, man musste ihm das Essen — kräftigende Suppen, Apfelkompott und Haferschleim — beinahe mit Gewalt einlöffeln. Er selbst hatte kaum Erinnerung an diese Wochen, es war Carl, der ihm davon später erzählte, auch davon, dass er immer wieder den Satz Finden Sie Ihr Glück und behalten Sie es gemurmelt habe. Zwei Monate lang war er zu Hause, der Lehrer weigerte sich, ihm ein Zeugnis auszuhändigen, er verlangte, dass er das Schuljahr wiederholte, obwohl die Eltern darum baten, ihn aufsteigen zu lassen — sie würden in den Ferien mit dem Buben alles nachholen, versicherten sie —, aber der Mann war ein Sturkopf. Nach dem Sommer besuchte Eugen also eine andere Klasse als sein Zwillingsbruder, und sie verbrachten den Großteil des Tages getrennt. Er entfremdete sich von Carl — obwohl dieser sich um ihn bemühte —, er verhielt sich abweisend, und das blieb so bis zu seiner Auswanderung acht Jahre darauf.
Der Vater machte der Mutter Vorwürfe, sie habe nicht gut genug auf Hedwig aufgepasst, es war das erste Mal, dass sie ihn schreien hörten, lange Zeit sprachen die Eltern nicht miteinander.
Ein Mann aus der Stadt tauchte auf — ein Halbbruder Emils, der in der Politik tätig war —, er teilte mit, dass ein Adoptionsverfahren in die Wege geleitet worden war. Die Ehe seines Bruders Friedrich und dessen Frau Veronika war kinderlos, und auch der alte Eder wollte unbedingt, dass seine Enkeltochter auf dem Ederhof aufwachse. Die Eltern wehrten sich dagegen, vor Gericht argumentierten sie, dass sie die einzigen Verwandten der Kindesmutter waren und sich Emils Familie nie um diesen geschert hatte, am wenigsten sein Vater. Sie verloren den Prozess, der monatelang dauerte. Hedwigs Selbstmord spielte dabei eine Rolle, Leute im Dorf sagten aus, sie sei in der Familie nicht gut behandelt worden, warum sonst habe man die junge Frau derart vom Dorfleben abgeschottet? Friedrich Eder und auch andere sagten aus, der Eder habe die Vaterschaft von Emil anerkennen, Kontakt mit ihm haben wollen, und der Brugger habe Emil das ausgeredet, der junge Mann sei überhaupt sehr unter dem Einfluss vom Hofmüller gestanden.
Eugen hätte die Mutter gerne gefragt, warum sie mit Emil nicht anders umgegangen war, denn dass sie mit ihm geflirtet hatte, wurde ihm, je älter er wurde, bewusst. Auch andere Dinge begriff er erst nach und nach. Dass Hedwigs Zustand nach der Geburt und ihre Trauer, ihre Eifersucht eine große Rolle gespielt hatten, jede andere Frau hätte ihm in der Situation eine Ohrfeige gegeben und nach der Wahrheit verlangt. Aber das half ihm nicht viel. Er konnte sich auch nicht lange rechtfertigen damit, dass er übermüdet und kränklich gewesen war, er war ein verwöhnter Bengel gewesen, der es nicht ertragen hatte, dass sich nicht alles um ihn drehte. Hedwig war nicht ganz zweiundzwanzig gewesen, irgendwann hätte sie sich von ihrer Trauer erholt, sie hätte einen neuen Mann gefunden, weitere Kinder gehabt, vielleicht wäre sie ausgewandert, Luzia Rosa hätte eine Mutter gehabt.
Vieles hätte er gern vergessen, Hedwigs Blick, als sie im Arbeitszimmer das Foto in Händen hielt und sich dann ihm zuwandte, die zwei brüllenden Säuglinge im Elternschlafzimmer, als er durch das leere Haus ging und ihn eine furchtbare Ahnung beschlich, Annas rotes verquollenes Gesicht, als sie ihm mit den Händen bedeutete stehenzubleiben, neben ihr Hedwigs baumelnde Beine.