Kapitel 23
Menschen machen Fehler (dem stimmen Sie sicher zu). Epidemiologen sind Menschen (dem sollten Sie nach Lektüre dieses Buches auch zustimmen). Also machen auch wir Epidemiologen Fehler (Schluck – bitte sagen Sie das nicht unseren Ehefrauen weiter).
Wir ziehen uns in diesem Kapitel an der eigenen Nase und bringen uns die »gute Praxis« der Epidemiologie in Erinnerung. Lesen Sie bitte weiter, auch wenn Sie selbst kein Epidemiologe sind: Die Fehler anderer sind immer spannend. Außerdem nutzen Sie vielleicht Publikationen epidemiologischer Studien während des Studiums oder bei Ihrer Arbeit. Dann sollten Sie in der Lage sein, den Autoren kritische Fragen zu stellen und typischen Fehlern auf die Spur zu kommen. Dabei helfen Ihnen unsere zehn Tipps.
Manchmal hängt der Epidemiologie ein schlechter Ruf an. Da hat wieder einmal ein Epidemiologe in einer Studie einen neuen Risikofaktor in Ihrem täglichen Essen identifiziert, der vorgeblich dramatische Auswirkungen auf die Gesundheit hat. Fette Schlagzeilen in allen Zeitungen drängen Sie daraufhin, Ihre Diät komplett umzustellen, da Sie sonst unweigerlich an Krebs sterben. Ein halbes Jahr lang ernähren Sie sich nur noch von rohen Gurken. Dann stellt sich heraus, dass die Schlussfolgerungen der Studie irgendwie fehlerhaft waren. Eine ganz neue Studie zeigt nämlich: Eine ausgewogene Ernährung, zu der gelegentlich auch einmal ein Steak gehören darf, schadet Ihrer Gesundheit nicht. Was werden Sie dem Autor der ersten Studie sagen, wenn Sie ihm begegnen? (Uns fällt unweigerlich das Wort »Gurke« ein.)
Der große englische Epidemiologe Sir Richard Doll redete seinen Kollegen mit folgenden Worten ins Gewissen: »Wenn Sie etwas herausfinden, das unerwartet und von großer gesellschaftlicher Bedeutung ist, müssen Sie wirklich sicher sein, dass Sie Recht haben, bevor Sie damit an die Öffentlichkeit gehen.«
Die nächsten fünf Tipps helfen Ihnen zu beurteilen, ob eine Studie methodisch solide ist. Vier weitere Tipps betreffen Probleme bei der Kommunikation der Ergebnisse.
Jede epidemiologische Studie muss eine klare und wissenschaftlich überprüfbare Fragestellung haben. Eine Frage wie »Ist elektromagnetische Strahlung schädlich?« ist zu unpräzise, um sie bearbeiten zu können. Es bleibt unklar, wer durch welche Form von elektromagnetischer Strahlung was für Schäden davontragen soll. Besser ist: »Erkranken langjährige Vielnutzer von Mobiltelefonen häufiger an Hirntumoren als Wenignutzer?« Aus einer Forschungsfrage und dem erläuternden Text müssen Sie Folgendes erkennen können:
Wenn die Geburtstagstorte zu klein ist, gehen Ihre Gäste hungrig nach Hause. Kaufen Sie eine zu große Torte, bleibt Ihnen kein Geld mehr für den Kaffee, und Ihre Gäste sind auch nicht glücklich. Die geeignete Tortengröße will also gut geplant sein.
Bei epidemiologischen Studien ist das nicht anders. Nehmen Sie an, eine Studie soll klären, ob Pökelfleisch ein Risikofaktor für Magenkrebs ist. Wenn die Studie eine zu kleine Zahl von Teilnehmern hat, finden Sie vielleicht einen solchen Zusammenhang nicht, obwohl er in Wirklichkeit besteht. Dann hat die Studie niemandem geholfen. Ist die Studie aber viel größer als erforderlich, verbrauchen Sie mehr Forschungsgelder als notwendig. Und die fehlen dann an einer anderen Stelle.
Vier Fälle von Harnblasenkrebs unter Arbeitern einer Gummifabrik! Wenn Sie diese Überschrift in der Zeitung lesen und selbst in einer solchen Fabrik arbeiten, machen Sie sich Sorgen und haben schlaflose Nächte. Zu Recht? Sollten Sie den Job kündigen?
Es kommt ganz darauf an. Wenn es sich um eine kleine Fabrik mit nur wenigen Arbeitern handelt, die innerhalb des gleichen kurzen Zeitraums erkrankten, besteht in der Tat Anlass zu großer Sorge. Treten die Fälle aber in einem Unternehmen mit mehreren Zehntausend Mitarbeitern im Verlauf von vielen Jahrzehnten der Produktion auf, muss Ihnen das vielleicht nicht den Schlaf rauben.
Sie sollten zunächst eine Inzidenzrate berechnen (Zahl der Neuerkrankungen an Blasenkrebs pro 1.000 Arbeiter und Jahr). Das kennen Sie aus Kapitel 5. Dann vergleichen Sie die Inzidenzrate in der Bevölkerungsgruppe der Chemiearbeiter mit der Inzidenzrate in einer nicht exponierten Bevölkerungsgruppe (welche Gruppe geeignet ist, erfahren Sie im nächsten Tipp). Vielleicht besteht gar kein Unterschied. Dann war der Arbeitsschutz ausreichend, die Krebsfälle haben vermutlich andere Ursachen.
Wenn Sie uns nach dem vorangehenden Tipp unsauberes epidemiologisches Denken vorhalten, dann haben Sie Recht. Ein Vergleich zwischen einer exponierten und einer nicht exponierten Gruppe beispielsweise in einer Kohortenstudie führt nur dann zu aussagekräftigen Ergebnissen, wenn Sie die Vergleichsgruppe in geeigneter Weise ausgewählt haben.
Wenn Sie Gesundheitsrisiken von Arbeitern einer Gummifabrik untersuchen wollen, ist die Gesamtbevölkerung keine geeignete Vergleichsgruppe: Arbeiter sind im Durchschnitt gesünder (sonst hätten sie den Job gar nicht bekommen). So würden Sie die tatsächliche Gesundheitsbelastung der Arbeiter unterschätzen. Besser geeignet sind Personen, die in der gleichen Fabrik, aber an weniger exponierten Arbeitsplätzen arbeiten.
»Männer kriegen dünnes Haar« und »Männer kriegen ‘nen Herzinfarkt«, so singt Herbert Grönemeyer. Und tatsächlich: Männer mit Glatze haben ein höheres Herzinfarktrisiko als ihre Geschlechtsgenossen mit vollem Haupthaar. Ist Glatzenbildung also ein Risikofaktor für Herzinfarkt?
Nein. Die verdächtigte Exposition »Glatzenbildung« nimmt mit dem Alter zu. Im Alter steigt aber auch das Risiko des Outcomes »Herzinfarkt«. Das Alter ist der eigentliche Risikofaktor für Herzinfarkt, nicht die Glatzenbildung. Das lässt sich daran erkennen, dass mit zunehmendem Alter auch das Herzinfarktrisiko von Männern ohne Glatze steigt. Alter ist hier ein »Confounder«, also eine Störgröße, die einen Zusammenhang zwischen Glatze und Herzinfarkt vorgaukelt, der nicht wirklich besteht. Ein solches Vorgaukeln nennen die Epidemiologen »Confounding«.
Versetzen Sie sich in die Rolle eines überarbeiteten Epidemiologen: Sie haben über viele Jahre eine Studie zu Ihrem Lieblingsthema durchgeführt. Nun liegen endlich die Ergebnisse vor, und dann zeigt sich: nichts. Vielleicht haben Sie mit einer Kohortenstudie erforscht, ob Biertrinker ein geringeres Schlaganfallrisiko haben als Abstinenzler. Oder Sie haben in einer Interventionsstudie die Wirksamkeit von Anti-Rauch-Postern in Diskotheken auf den Zigarettenkonsum Jugendlicher untersucht. Ergebnis beider Studien: kein Effekt. Bier schützt so wenig vor Schlaganfall wie Poster vor dem Rauchen. Große Enttäuschung!
Was nun? Ergebnisse in die Schublade und neues Thema bearbeiten? Bitte nicht!
Wichtig ist, dass die Herausgeber wissenschaftlicher Zeitschriften mitziehen. Die sind aber mehr an Artikeln interessiert, die zeigen, dass eine Exposition zu einer Krankheit führt oder vor ihr schützt – Aufmerksamkeitswert und Leserinteresse sind dann höher.
Epidemiologen lernen während ihrer Ausbildung, mit Zahlen und Daten umzugehen und mögliche Fehlerquellen zu bedenken. Sie lernen auch, sich wissenschaftlich korrekt auszudrücken – nur so wird ihre Doktorarbeit angenommen und ihr Artikel publiziert. Die wenigsten Epidemiologen lernen Wissenschaftskommunikation. So kommunizieren sie in der Öffentlichkeit wissenschaftlich korrekt, aber in Fachsprache oder mit Zahlen, die für Laien nur schwer nachvollziehbar sind.
Besonders offensichtlich ist das beim Relativen Risiko. Eine epidemiologische Studie zeigt: Kinder unter fünf Jahren, die innerhalb eines Radius von fünf Kilometern um ein deutsches Kernkraftwerk leben, haben ein doppelt so hohes Risiko, an Leukämie zu erkranken wie anderswo lebende Kinder. Wir sind selbst Eltern und können nachvollziehen, dass diese Information einer Risikoverdoppelung alarmierend klingt. Wenn Sie sich ein umfassendes Bild machen wollen, benötigen Sie aber noch weitere Informationen:
Mit Laien gut kommunizieren zu können reicht leider nicht aus. Epidemiologen haben es ja zunächst mit den Medien zu tun. Wissenschaftsjournalisten sind meist bereit und in der Lage, differenzierte Erklärungen nachzuvollziehen. Sie verstehen den Fachmann vielleicht sogar, der auf »Epidemiologisch« zu ihnen spricht.
Für brisante Themen interessiert sich aber auch die Boulevardpresse. Deren Journalisten sind oft auf der Jagd nach der guten Schlagzeile. So wird aus einer vorsichtig formulierten Stellungnahme schnell eine knackige Aussage ähnlich der, die wir Ihnen zu Beginn dieses Kapitels vorgestellt haben.
Wie sagt das Sprichwort so treffend: »Der Wegweiser muss den Weg nicht gehen, den er anzeigt«. Auch viele Epidemiologen handeln frei nach diesem Motto. Anstatt ihrer eigenen Gesundheitsbotschaft zu folgen und aufzuhören, rauchen sie mit Genuss weiter. Zur Finanzierung dieses Vergnügens peilen sie den Jackpot im Zahlenlotto an. Wenn sie aber in ein Flugzeug einsteigen, beschleicht sie ein mulmiges Gefühl.
Die Zahlen zu allgemeinen Lebensrisiken zeigen ein ganz anderes Bild. Das Risiko, im Verlaufe der nächsten zehn Jahre vorzeitig an einer der folgenden Ursachen zu sterben, liegt ungefähr so hoch:
Zum Vergleich: Wenn Sie ein Feld auf dem Lottoschein ausfüllen, stehen Ihre Chancen auf sechs Richtige plus Superzahl bei ungefähr 1:140 Millionen. Und wenn Sie Pech haben, müssen Sie den Jackpot auch noch mit anderen Spielern teilen.
Warum gehen wir so wenig rational mit Risiken um? Mit dieser Frage befassen sich Risikoforscher. Sie haben herausgefunden, dass wir Menschen
Das nehmen wir uns zu Herzen und ziehen zum Ende dieses Kapitels einen Schluss, von dem wir fest überzeugt sind, dass er nicht vorschnell ist: