KAPITEL 2

Der Sänger lag auf dem Rücken, das linke Bein in einem Winkel verdreht, der nicht gesund aussah. Hatte er genau wie Annemie zu dieser frühen Morgenstunde schon einmal die Bühne in Augenschein nehmen wollen und war dann gestürzt? Annemie berührte den reglosen Mann zaghaft an der Schulter.

»Herr Juwel?« Sie schüttelte ihn leicht.

Nichts.

»Hallo?« Sie nahm seine Hand, strich und klopfte sie kräftig. Mit dem Ärmel der Strickjacke blieb sie am eingerissenen Daumennagel des Toten hängen und zog sich ein paar Fäden aus dem Gewebe. Das durfte doch nicht wahr sein. Annemie wusste nicht, worüber sie sich mehr aufregte. Da hatte sie zum ersten Mal Gelegenheit, ihn live zu sehen, und auf einmal war er tot. Immerhin würde sich der Schaden an der Jacke wieder reparieren lassen. »Herr Juwel, können Sie mich hören?« Sie tätschelte seine Wange.

Wieder kam keine Reaktion. Seine Haut fühlte sich eiskalt an. Annemie hielt ihm wie zuvor Werner einen Finger unter die Nase. Außer der frischen Morgenbrise spürte sie nichts. Peter Juwel war tot. Entsetzt richtete sie sich auf und schaute sich um. Niemand zu sehen. Was konnte sie tun?

Die Polizei. Sie musste die Polizei informieren. Annemie griff in die Tasche ihrer Strickjacke und stöhnte leise auf, als sie darin nur Leere vorfand. Ihr Mobiltelefon lag auf dem Nachttisch neben ihrem Bett in der Pension. Sie hatte vergessen, es mitzunehmen.

»Ich bin es eben nicht gewohnt«, erklärte sie dem toten Peter Juwel im Tonfall einer Entschuldigung. »Wissen Sie, Maike hat mir schon sehr oft gesagt, wie wichtig es ist, sein Handy immer dabeizuhaben. Vor allem in Notfällen wie jetzt. Aber ich denke nie daran. Früher hatten wir so was ja auch nicht und sind klargekommen, oder nicht?«

Peter Juwel gab, wie zu erwarten gewesen war, keine Antwort. Annemie zögerte. Was sollte sie tun? Hier ausharren und Totenwache halten, bis der nächste Spaziergänger, die erste Joggerin des Tages oder eine Hundebesitzerin beim frühmorgendlichen Gassigang vorbeikam? Womöglich würden die dann denken, sie hätte etwas mit dem Tod des Sängers zu tun. Und wenn es so war? Was – der Gedanke kam ihr mit Schrecken –, wenn Peter Juwel doch noch nicht tot war, sondern ihm noch geholfen werden könnte? Sie war Konditorin, keine Ärztin. Dann wäre sie, Annemie Engel, schuld an seinem Tod.

Ein weiteres Mal beugte sie sich zu ihm hinunter, lauschte, fühlte, rüttelte. Es half nichts. Ein Arzt musste her. Und die Polizei.

Annemie ging, so schnell sie konnte, in Richtung der Häuser. Als sie das erste erreicht hatte, klingelte sie Sturm. Die Leute würden die Polizei und den Notruf informieren, und sie könnte dann wieder zurück zum Strand und bei Peter Juwel ausharren, bis Hilfe kam.

Im Haus blieb alles still und dunkel. Entweder waren die Leute nicht zu Hause, oder sie schliefen mit diesem Knetgummizeug in den Ohren, denn die Klingel war nicht zu überhören. Annemie wartete noch einige Sekunden, dann lief sie weiter zum nächsten Haus. Doch auch hier reagierte niemand. Die Erklärung dafür entdeckte sie beim dritten erfolglosen Versuch. Ein Schild pries diese Häuser als Luxus-Feriendomizile an, sie waren noch nicht bewohnt. Annemie fragte sich, warum man in einem Ferienhaus einen Videoraum und Fitnessgeräte brauchte, wenn man die schönste Natur und viel Platz für Bewegung direkt vor der Haustür hatte. Vielleicht war sie nicht die Einzige, die so dachte, und deshalb standen die Häuser trotz des Sonderangebots, dessen Preis Annemie im Übrigen noch immer sehr beachtlich fand, leer. Nein. Es war das Beste, wenn sie sich direkt an die Polizei wandte. Was brachte es denn, hier von Haustür zu Haustür zu laufen, wenn niemand öffnete. Je weiter sie sich dabei von der Kurgartenbühne entfernte, umso länger würde sie für den Rückweg brauchen. Die Polizeistation befand sich am Marktplatz, und dort würde sie nun ohne weitere Umwege hingehen.

Immerhin brannte in den Fenstern der Polizeiwache Licht, als Annemie etwas außer Atem dort ankam. Sie hatte sich sehr beeilt, war fast gelaufen.

»Guten Morgen«, sagte sie, schnappte nach Luft und legte die Hände auf die hohe Theke, die sie von dem diensthabenden Beamten trennte. Sie hatte Mühe, darüber hinwegzuschauen. »Mein Name ist Annemie Engel, und ich habe etwas zu melden.«

Der Beamte schaute sie an, rollte mit dem Schreibtischstuhl ein Stück zurück und gähnte. Dann stand er auf und kam zu Annemie.

»So mitten in der Nacht? Was haben wir denn?«

»Was wir haben, kann ich Ihnen nicht sagen, denn ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht.« Annemie musterte den jungen Mann. »Außer dass Sie eine Mütze Schlaf vertragen könnten, ist Ihnen so auf den ersten Blick nichts anzusehen. Was mich betrifft, ich persönlich habe auch nichts. Das kann man von dem Herrn, um den es geht, allerdings nicht sagen.«

»Und um welchen Herrn geht es?«

»Um Peter Juwel.«

»Was ist mit ihm?«

»Er ist tot.«

Jetzt kam doch etwas Bewegung in den Polizisten. Annemie sah förmlich, wie diese Mitteilung ihn in Spannung versetzte.

»Bitte genauer: Wer ist dieser Peter Juwel, in welchem Verhältnis stehen Sie zu ihm, wann ist er verstorben, und wo ist er jetzt?« Die Fragen prasselten auf Annemie ein.

»Sie kennen Peter Juwel nicht?« Für Annemie unvorstellbar.

»Nein. Tut mir leid.«

»Der Schlagerstar. Er gibt heute Abend …« Sie verstummte und korrigierte sich: »Er sollte heute Abend ein Konzert auf der Kurgartenbühne geben. Ich habe Karten, wissen Sie?«

»In welchem Verhältnis stehen Sie zu dem Toten?«

»Wie meinen Sie das?«

»Sind Sie mit ihm verheiratet? Ist er Ihr Partner?«

»Nein. Natürlich nicht.«

»Woher wissen Sie dann, dass er tot ist?«

»Ich habe seine Leiche gefunden. Auf ebenjener Kurgartenbühne, auf der er heute eigentlich auftreten sollte.«

»Sie haben seine Leiche gefunden? Jetzt gerade? Was machen Sie denn um diese Uhrzeit am Kurhaus?«

Annemie holte tief Luft und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Selbst wenn man bedachte, dass sechs Uhr in der Früh für die meisten jungen Menschen eine unchristliche Zeit darstellte und sein Kopf nach einer langen Nachtwache sicherlich nicht mehr richtig arbeiten konnte, hätte sie bei einer solchen Meldung doch etwas mehr Aktivität erwartet. »Wollen Sie jetzt wirklich mit mir diskutieren, warum ich einen Strandspaziergang mache, oder wollen Sie mich dorthin begleiten, damit ich es Ihnen zeigen kann?«

Der junge Polizist wandte sich ab. »Harry? Hol mal den Wagen. Einer muss mit raus.«

In einem Türrahmen, den Annemie bisher nicht bemerkt hatte, erschien eine gleichfalls junge, wenn auch nicht ganz so müde wirkende Polizistin. Sie musterte Annemie über die Theke hinweg, nickte und zog einen Schlüsselbund aus ihrer Uniformhose. »Kommen Sie bitte. Sie müssen mir zeigen, wo Sie die Leiche gefunden haben.«

»Aber er war ganz sicher dort.« Annemie zeigte auf die Stelle am Fuß der Treppe. »Da hat er gelegen. Das linke Bein ganz verdreht. Ich bin zu ihm gegangen. Habe ihn an der Schulter gefasst. Ihn gerüttelt. Ihn angesprochen. Ich habe ihm sogar den Finger unter die Nase gehalten und nichts mehr gespürt.«

Annemie war vollkommen aufgelöst. Sie hatte sich das doch nicht eingebildet! Peter Juwel hatte dort mit verdrehten Gliedmaßen gelegen und keinen Mucks mehr von sich gegeben. Aber es war nicht zu leugnen: Jetzt lag er dort nicht mehr. Nicht die kleinste Spur von ihm.

»Frau Engel …«

Der Ton der Polizistin gefiel Annemie nicht. Er hatte so etwas Salbungsvolles. So eine vorgeschobene Güte und Geduld, wie man sie kleinen Kindern entgegenbrachte. Oder alten Leuten, die nicht mehr ganz richtig im Kopf waren.

»Reden Sie nicht so mit mir. Ich weiß, was ich gesehen habe.«

»Vielleicht hatten Sie ja nur einen schlechten Traum?«

»Ich träume nicht. Niemals.«

»Oder Sie haben es sich nur eingebildet?«

»Ich bilde mir auch nichts ein.«

»Manchmal denkt man, man hätte etwas gesehen, und dann war es doch nicht so.«

»Halten Sie mich für senil?«

Die Polizistin schwieg.

»Hören Sie. Ich bin weder senil noch verrückt. Peter Juwel lag hier auf diesen Stufen, vollkommen leblos.«

»Vielleicht ist er ja wirklich gestürzt und war für einen Moment bewusstlos. Sie haben ihn gefunden, und als Sie losgezogen sind, um uns zu informieren, ist er wieder wach geworden und nach Hause gegangen.«

»Dann sollten wir schnellstmöglich dorthin fahren und nachsehen, wie es ihm geht. So eine tiefe Bewusstlosigkeit kann Folgen haben. Von dem Bein ganz zu schweigen.« Annemie machte sich auf den Weg. Nach wenigen Schritten stoppte sie, weil sie bemerkte, dass die Polizistin ihr nicht folgte. »Was ist? Wir müssen uns beeilen.«

Die Polizistin verschränkte die Arme vor der Brust, blieb aber, wo sie war. »Frau …«, sie suchte kurz nach Annemies Namen, »Engel«, ergänzte sie zögerlich, bevor sie wieder eine Pause machte.

Annemie schwieg, obwohl sie innerlich brodelte. Wie konnte diese junge Frau da so tun, als wäre nichts geschehen?

»Frau Engel«, setzte die Polizistin erneut an. Sie sprach langsam und laut. »Wir werden jetzt nicht gemeinsam zu Herrn Juwel fahren, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass er sonderlich begeistert wäre, um diese Uhrzeit aus dem Bett geholt zu werden.« Sie machte einen Schritt auf Annemie zu und streckte ihr in einer Geste den Arm entgegen, die wie eine Mischung aus Abführen und Unterhaken wirkte. Annemie ignorierte sie.

»Was ist mit den Krankenhäusern? Es wird doch sicherlich Krankenhäuser geben?«

»Natürlich, die St.-Ansgar-Klinik und das Städtische Krankenhaus. Aber auch dort werden wir nicht gemeinsam hinfahren. Jedenfalls nicht, um Peter Juwel zu suchen, Frau Engel.«

Annemie schnaubte und marschierte weiter. Wenn diese Polizistin nichts unternehmen wollte, blieb ihr nichts anderes übrig, als die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Ihr erster Spaziergang gestern mit Werner hatte sie bis zur Strandpromenade geführt. Dort stand das erste Haus am Platz. Ein historisches Gründerzeithaus mit sehr viel Eleganz. Die Zimmer nach vorne hinaus mit direktem Meerblick. In Annemies Augen die einzig würdige Bleibe für einen Star wie Peter Juwel. Und falls er dort nicht war – so groß war Bad Nordersielergroden nun auch wieder nicht, als dass sie die Krankenhäuser nicht finden würde.

»Frau Engel?«

Die Polizistin klang ein wenig irritiert, aber das kümmerte Annemie nicht. Unbeirrt setzte sie ihren Weg fort.

»Frau Engel.«

Jetzt schlich sich so etwas wie Strenge in den Tonfall. Annemie drehte sich nicht um. Wenn die Polizistin sie schon für eine alte und senile Frau hielt, konnte sie sich auch so verhalten.

»Frau Engel!«

Jetzt klang es, als hielte sie bereits die Waffe im Anschlag. Womöglich packte sie nun auch noch das Attribut schwerhörig oder stur auf die Liste. Oder beides. Annemie beschloss, sie in dem Glauben zu lassen. Hinter ihr schien sich die Polizistin in Bewegung zu setzen. Annemie hörte ihre Schritte immer näher kommen und ein weiteres »Frau Engel«, bevor sie sich unvermittelt festgehalten fühlte. Gezwungenermaßen blieb sie stehen.

»Ich bringe Sie jetzt zu Ihrer Pension, Frau Engel. Kommen Sie bitte mit«, sagte die junge Frau mit einer polizeilichen Strenge, die keinen Widerspruch mehr duldete. Sie deutete auf den Polizeiwagen, mit dem sie hierhergekommen waren. Der nächste Satz klang versöhnlicher. »Ruhen Sie sich noch ein wenig aus. Danach sieht die Sache sicherlich schon wieder ganz anders aus.«

»Du hast was getan?« Werner Assenmacher zog ein großes weißes Taschentuch aus der Hosentasche seines Schlafanzugs und tupfte sich damit über die Stirn.

Annemie hatte es nach ihrer Rückkehr in die Pension nicht mehr ausgehalten und Werner geweckt, um ihm ihre Erlebnisse zu berichten, obwohl es erst kurz nach sieben Uhr gewesen war. Dabei hatte es sie ausnahmsweise nicht gestört, dass er noch nicht angezogen war. Bei jeder anderen Gelegenheit hätte sie selbstverständlich vor der Tür gewartet, bis er den gestreiften Pyjama aus- und ein ordentliches Hemd samt Hose angezogen hätte. Aber ihre Aufregung war nach wie vor zu groß gewesen, um so lange auszuharren. So saßen sie nun in Werners Zimmer, Annemie in einem kleinen Sessel unter dem Fenster und Werner auf seinem Bett. Er hatte ihren Worten stumm bis zu der Stelle gelauscht, an der die Polizistin sie persönlich bis zur Haustür begleitet hatte.

»Ich habe ihr ein Trinkgeld gegeben.«

Werner starrte sie an, kniff kurz die Augen zusammen und betupfte erneut sein Gesicht. »Das meine ich nicht.« Das Tuch verschwand wieder in der Hosentasche. »Ich meine den toten Peter Juwel. Du hast seine Leiche gefunden?«

»Ja. Oder auch nein. Ich dachte, ich hätte seine Leiche gefunden. Als wir wieder dort ankamen, war von ihr jedoch nichts mehr zu entdecken.«

»Bist du dir da sicher?«

»Ja, natürlich bin ich mir sicher. Zuerst war sie da, dann, als ich die Stelle der Polizistin zeigte, nicht mehr.«

»Das meine ich nicht.« Werner griff wieder nach dem Tuch, behielt es aber nur in der Hand.

»Was meinst du dann?« Annemie wurde langsam ungeduldig. Wenn Werner nie das meinte, was sie aus seinen Worten heraushörte, würden sie beide ein Problem bekommen.

»Vielleicht hatte die Polizistin ja recht.« Werner rutschte auf seinem Bett hin und her. Beiläufig strich er die Bettdecke glatt.

»Womit?«

»Schau, Annemie. Nur weil du in Niedelsingen einen Mord aufgeklärt hast, bedeutet das nicht, dass nun auf einmal Leichen deinen Weg pflastern.«

»Was willst du damit sagen, Werner?« Annemie stand von dem Sessel auf. Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe von einem Meter einundsechzig auf, straffte sich und betrachtete ihren Begleiter empört wie einen Hefeteig, der trotz aller Sorgfalt nicht aufgehen wollte.

»Vermutlich gibt es eine ganz einfache Erklärung, Annemie.«

»Bläst du jetzt in das gleiche Horn wie die Polizei, Werner? Hältst du mich auch für eine senile alte Frau?« Annemie konnte es nicht glauben.

»Nein. Aber Haralds Tod hat dir zugesetzt. Unsere Phantasie spielt uns manchmal einen Streich und …«

»Ich habe keine Phantasie, Werner. Niemals.« Annemie knöpfte den obersten Knopf ihrer Strickjacke zu, ging zur Tür und verließ grußlos den Raum. In ihrem Zimmer zog sie die Jacke aus und hängte sie ordentlich auf einen Kleiderbügel. Kurz zögerte sie. Sollte sie zurückgehen? So ein unvermittelter Abgang war nicht besonders höflich. Aber Werner war auch nicht besonders höflich, wenn er ihren Worten keinen Glauben schenkte.

Unter ihrem Fenster stand der Zwilling des Sessels aus Werners Zimmer. Sie setzte sich darauf und schaute nach draußen. Was, wenn die Polizei und Werner doch recht hatten und das alles entsprang nur ihrer Einbildung? Die Sache mit ihrem Bruder Harald war nicht spurlos an ihr vorübergegangen, da hatte Werner durchaus ins Schwarze getroffen. In stillen Momenten trauerte sie um ihn. Vor allem aber bedauerte sie von Herzen die vielen verschenkten Jahre, in denen sie wegen einer Reihe von Missverständnissen und einem unnötigen Streit nicht miteinander gesprochen hatten. Wenn man sich so lange wie sie von den Menschen ferngehalten hatte, wurde man vielleicht wirklich etwas seltsam und bildete sich Tote ein, wo keine waren.

Annemie starrte auf die katerlosen Kopfkissen und hatte zum zweiten Mal an diesem Tag Heimweh.