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Der Herr der Pfirsichblüteninsel

Bewaffnet und noch dazu von ungewöhnlicher Aufmachung, waren die Sechs Sonderlinge Kapitän Zhang sofort verdächtig erschienen. Ob das die von Gutsherr Lu gefürchteten Feinde waren, die er auf dem Tai-See abfangen sollte? Als ihr Boot auf dem See aufkreuzte, winkten Zhang und seine Männer sie daher freundlich heran. Die sechs waren ihrer Heimat so viele Jahre fern gewesen, dass sie nichts von der gegenwärtigen Lage rund um den Tai wussten. Nach langer Reise trennten sie nur noch wenige Tagesreisen von Lin’an, und sie freuten sich, Vertretern der Welt des Jianghu zu begegnen. Ohne ihre Identität preiszugeben, wechselte Zhu Cong ein paar Worte im Dialekt des Südens mit dem Kapitän und nahm seine Einladung in den Wanderwolkenpalast an. Der Gedanke, möglicherweise den Feind höchstpersönlich in das Anwesen zu bringen, behagte Kapitän Zhang gar nicht, aber er gehorchte dem Befehl des Gutsherrn.

»Erster Meister, Zweiter Meister, Dritter Meister, Vierter Meister, Sechster Meister, Siebte Meisterin!« Freudestrahlend sprang Guo Jing von seinem Platz auf, ging auf die Knie und machte Kotaus.

Guo Jings Reaktion auf das Erscheinen der sechs seltsamen Gestalten in der Empfangshalle zerstreute Gutsherr Lus schlimmste Befürchtungen. Doch bevor er nach den Namen seiner Gäste fragen konnte, fuhr der Dickwanst mit der Reitpeitsche Guo Jing an: »Ist die kleine Hexe etwa auch hier?«

»Nicht jetzt, Bruder!«, zischte Han Xiaoying dem Reiterkönig zu. Ihre scharfen Augen hatten längst bemerkt, dass es sich bei dem jungen Mann neben Guo Jing um niemand anderen als Huang Rong in Männerkleidung handelte.

Nein, diese Frau klingt gar nicht wie Mei Chaofeng, dachte Gutsherr Lu erleichtert. Höflich legte er die Hände ineinander und verneigte sich, während Guo Jing seine Meister mit Namen vorstellte. »Bitte vergebt mir, dass ich mich nicht erhebe, meine Beine gehorchen mir nicht mehr. Ich habe schon viel von den sieben Helden gehört und bewundere Eure Großtaten. Leider hatte ich noch nie das Vergnügen. Umso mehr beglückt es mich, Euch heute hier willkommen zu heißen.« Er wies die Diener an, einen Tisch für die Neuankömmlinge zu decken.

Qiu Qianren saß unterdessen mit herablassender Miene auf seinem Ehrenplatz und widmete sich, unbeeindruckt vom Erscheinen der Sonderlinge, ausgiebig dem Essen. Lediglich bei der Nennung ihrer Namen zuckte kurz ein spöttisches Lächeln über sein Gesicht.

»Und wer ist jener Herr dort?« Reiterkönig Han Baoju konnte sich immer noch nicht beherrschen.

»Einer der größten lebenden Meister des Kung-Fu. Sein Ruf eilt ihm im ganzen Jianghu voraus.«

»Doch nicht etwa Huang Yaoshi, der Herr der Pfirsichblüteninsel?«, fragte Han Xiaoying.

»Der Neunfingrige Bettler Hong Qigong?«, fragte Han Baoju.

Gutsherr Lu schüttelte den Kopf. »Dieser Herr ist der berühmte Wasserwanderer mit der Eisenfaust.«

»Qiu Qianren!«, rief Ke Zhen’e verblüfft. Ihm als dem Ältesten der Sonderlinge war der Name noch ein Begriff.

Qiu Qianren nahm diese Reaktion mit sichtlicher Genugtuung auf. Er unterbrach kurz das Essen, warf den Kopf zurück und lachte schallend.

Ein zweiter Tisch war gedeckt und die Sechs Sonderlinge nahmen ihrer Rangfolge gemäß daran Platz. Guo Jing warf Huang Rong einen fragenden Blick zu. Sie schüttelte lächelnd den Kopf und er setzte sich ohne sie zu seinen Meistern.

»Ich hätte nicht gedacht, dass Bruder Guo sich auf die Kampfkunst versteht und noch dazu ein Schüler namhafter Meister ist«, sagte Gutsherr Lu, nachdem alle versorgt waren.

Guo Jing sprang sofort wieder auf die Füße. »Bitte vergebt mir meine Zurückhaltung. Ich bin völlig untalentiert und habe kaum etwas von der großen Kunst meiner Lehrer zu meistern gelernt. Mein Kung-Fu ist nicht der Rede wert.«

Die Sechs Sonderlinge versöhnte das bescheidene Auftreten noch ein klein wenig mehr mit ihrem braven Schüler. Im Grunde hatten sie Guo Jing seine Aufmüpfigkeit längst verziehen.

»Man hört, dass die sechs Helden sich im Jianghu einen Namen gemacht haben.« Unvermittelt ließ sich nun auch Qiu Qianren zu einem Wort an die Sonderlinge herab. »Es wäre sicher ein Gewinn für mein Unterfangen, Euch sechs auf meiner Seite zu wissen.«

»Meister Qiu wollte uns eben von einer wichtigen Mission berichten, die ihn in den Süden geführt hat«, erklärte Gutsherr Lu.

»Wir alle, die wir der Welt der Kampfkünste angehören, stehen für Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit ein, um das Volk vor Not und Bedrängnis zu bewahren«, hob Qiu Qianren an. »Die Armee des großen Jin-Reichs steht kurz davor, in den Süden einzumarschieren. Krieg scheint unvermeidlich, und unzählige Menschenleben stehen auf dem Spiel. Dürfen wir das zulassen? Wir alle kennen das Sprichwort: Wer sich dem Willen des Himmels beugt, dem wird es wohlergehen, wer sich ihm widersetzt, muss sterben. Meine Mission hier im Süden ist, die Helden der Kampfkunst zu einen, um zu verhindern, dass das Song-Kaiserhaus die Bedrohung für das Volk missachtet. Der Hof muss verstehen, in welcher ausweglosen Lage sich der Süden befindet. Es liegt auf der Hand, dass es für alle das Beste wäre, sich den Jin zu ergeben und damit die sinnlosen Verluste und die Demütigung auf dem Schlachtfeld zu verhindern. Wenn uns das gelingt, wird uns der tiefe Dank des einfachen Volks sicher sein, ganz zu schweigen vom Ruhm und der Ehre, die es uns eintragen wird. Unser Streben nach Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit wird damit kein leeres Wort mehr sein.«

Schlagartig hatten die Sechs Sonderlinge die Gesichtsfarbe gewechselt. Quan Jinfa zupfte vorsorglich die beiden aufbrausenden Han-Geschwister am Ärmel und sah sie, mit einem Seitenblick auf Gutsherr Lu, scharf an. Wartet ab, was unser Gastgeber zu sagen hat!

»Mag sein, dass ich Räuber und Piraten in meinem Haus beherberge, aber ich weiß, auf welcher Seite ich stehe.« Gutsherr Lu verbarg sein Entsetzen über den verräterischen Vorschlag des Meisters hinter einem Lächeln und wählte jedes Wort mit Bedacht. »Sollte die Jin-Armee es wagen, in den Süden einzufallen und meine Landsleute zu meucheln, werde ich selbstverständlich an der Seite sämtlicher Meister des Jianghu bis zum Letzten gegen sie kämpfen.« Er machte eine kurze Pause. »Ich nehme an, Meister Qiu wollte mit seinen Worten unsere Loyalität auf die Probe stellen.«

»Wie könnt Ihr nur so kurzsichtig sein, Bruder Lu!«, rief Qiu Qianren. »Was soll Gutes dabei herauskommen, wenn man den Song-Kaiser gegen die Jin unterstützt? Dann droht uns das gleiche Schicksal wie General Yue Fei – ein einsamer und trauriger Tod in der Sturmwindpagode!«

Jetzt konnte Gutsherr Lu seinen Zorn nicht mehr bezähmen. »Jeden Augenblick werden meine Feinde hier eintreffen. Ich hatte gehofft, Meister Qiu um seine Hilfe bitten zu können. Doch nun, wo ich sehe, wie unversöhnlich unsere Prinzipien sind, würde ich mir eher die Kehle durchschneiden und mein Blut über den Boden spritzen sehen, als …« Er legte förmlich die Hände ineinander, verneigte sich und wies zur Tür. »Bitte.«

Die Sechs Sonderlinge, Guo Jing und Huang Rong bewunderten Gutsherrn Lu für seine deutliche Antwort.

Wortlos lächelnd hob Qiu Qianren seinen Weinbecher und klemmte den oberen Rand zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand. Dann ließ er den Becher auf der linken Handfläche kreisen, nahm mit einem Ruck die rechte Hand weg und schlug mit der Handkante gegen den Rand. Klirrend fiel ein feiner Ring aus Porzellan auf den Tisch. Er stellte das Trinkgefäß neben den abgeschlagenen oberen Rand. Die Enden waren sauber und glatt.

Porzellan zerschlagen konnte jeder, mit bloßen Händen einen so exakten Rand abzutrennen zeugte indessen von unglaublichen Fähigkeiten.

»Schamloser Angeber! Ich habe die Faxen satt!«, platzte es aus Han Baoju heraus, während Gutsherr Lu noch überlegte, wie er reagieren sollte. Der Reiterkönig baute sich herausfordernd vor Qiu Qianren auf. »Stell dich dem Kampf, Verräter!«

»Nichts lieber als das. Eine vortreffliche Gelegenheit, das wahre Können der berühmten Sonderlinge auf die Probe zu stellen. Alle sechs gleichzeitig, bitte!«

»Die sechs Helden des Südens sind es gewohnt, Seite an Seite zu kämpfen, einer für alle, alle für einen, egal ob gegen einen Gegner oder tausend«, warf Gutsherr Lu rasch ein, besorgt, dass Han Baoju darauf bestehen würde, allein gegen den weitaus überlegenen Meister anzutreten.

Zhu Cong verstand den Wink. »Es soll uns sechs eine Ehre sein, uns gemeinsam mit einem wahren Großmeister zu messen«. Mit einem Ruck erhoben sich auch die übrigen vier von ihren Plätzen.

Qiu Qianren nahm seinen Stuhl und stellte ihn in einiger Entfernung von den Tischen in die Mitte der Empfangshalle. Dann setzte er sich darauf und schlug die Beine übereinander. »Gerne spiele ich im Sitzen ein wenig mit Euch«, sagte er ungerührt.

Die Sechs Sonderlinge zogen hörbar die Luft ein. Was für eine Provokation! Verfügte dieser Kerl wirklich über ein so überragendes Kung-Fu, dass er sich diese dreiste Arroganz erlauben konnte?

»Lasst mich anstelle meiner Meister gegen Euch antreten!« Guo Jing stellte sich zwischen den Qiu Qianren und die Sonderlinge. Nachdem er Zeuge von Qiu Qianrens ungewöhnlichen Fähigkeiten geworden war, war er sich sicher, dass seine Meister nicht gegen ihn bestehen konnten. Es war seine Pflicht als ihr Schüler, Schaden von ihnen abzuwenden – selbst wenn es sein Leben kostete.

»Haha«, lachte Qiu Qianren. »Haben sich deine Eltern die Mühe gemacht, dich aufzuziehen, damit du so leichtfertig dein Leben wegwirfst, Junge?«

»Aus dem Weg, Guo Jing!«, riefen die Sechs Sonderlinge wie aus einem Mund. Aus Angst, dass sie ihn doch noch zurückhalten könnten, fackelte Guo Jing nicht lange. Er beugte das linke Knie und ließ die rechte Hand kreisen. Die Reue des stolzen Drachen.

Er hatte diese Form wieder und wieder geübt und seit dem Tag, an dem der Bettlerfürst ihm den Schlag zum ersten Mal gezeigt hatte, gewaltige Fortschritte gemacht. Ganz, wie er es gelernt hatte, legte er gegen einen mächtigen Gegner bewusst nur ein Drittel seiner inneren Kraft in den Schlag, um genug in Reserve zu behalten.

Qiu Qianren schätzte das Kung-Fu der Sonderlinge ihrem Auftreten nach als bestenfalls mittelmäßig ein. Also ging er davon aus, dass von ihrem Schüler noch weniger zu befürchten war. Niemals hätte er von diesem unbedarften Jungen einen so mächtigen Schlag erwartet. Im letzten Augenblick schoss er von seinem Stuhl hoch.

Mit einem lauten Krachen zersplitterte der rote Sandelholzstuhl zu einem Haufen Brennholz.

Qiu Qianren landete wieder auf den Füßen. Durch den Schrecken hatte er kurz seine herablassende Haltung eingebüßt, und ein Anflug von Panik war über sein Gesicht gehuscht. Doch schon hatte er sich wieder gefasst. »Unverschämter Bengel!«

Guo Jing wagte nicht, erneut als Erster zuzuschlagen. Einen Älteren anzugreifen gehörte sich nicht, schon gar nicht einen Großmeister. »Gewährt mir die Gunst, von Euch zu lernen, Meister«, sagte er demütig.

»Sei nicht so zimperlich mit diesem widerwärtigen alten Knacker, Jing!« Huang Rong versuchte besorgt, Qiu Qianren abzulenken.

Widerlicher alter Knacker? Noch nie hatte jemand gewagt, ihm, Qiu Qianren, eine solche Beleidigung ins Gesicht zu schreien. Außer sich vor Wut wollte er sich auf Guo Jing stürzen; dann besann er sich auf seinen Rang. Es ging nicht an, auf einen Novizen wie auf einen ernsthaften Gegner loszugehen. Er täuschte den Schlag mit der Rechten, zu dem er angesetzt hatte, nur an und vollführte mit der Linken die Brauenstreiferhand. Guo Jing wich zur Seite aus. Schnell ließ der Meister den verfehlten Angriff wie eine Finte aussehen, zog die Hand zurück und verwandelte die Attacke in einen Schnapphaken. Dann schlug er noch einmal mit der Brauenstreiferhand zu, drehte sich im Sprung um die eigene Achse, landete in der Kniebeuge und ließ dabei die Rechte als Schmetterhand niedergehen.

»Was soll daran Besonderes sein? Das kennt doch jedes Kind!«, rief Huang Rong. »Die Gans verlässt den Schwarm ist das, aus der Reihe der Sechs gekreuzten Arme

Qiu Qianren hatte Jahrzehnte gebraucht, um genau diesen Kampfkunststil zu perfektionieren und hatte die ursprünglich Fünf gekreuzten Arme zu sechs erweitert. Die einzelnen Formen hatten nichts Außergewöhnliches; erstaunlich war vor allem die Art, wie er die Kraft der beiden Arme koordinierte. Während er mit einer Hand zuschlug, lenkte er zusätzlich die Kraft der herumwirbelnden freien Hand in den Hieb. Auf diese Weise waren seine Hände in einem unvorhersehbaren energetischen Kreislauf miteinander verbunden und zogen jeweils Kraft aus der anderen Hand, ohne dass der Gegner einschätzen konnte, welche gerade die gefährlichere war.

Eine so ausgeklügelte Koordination zwischen beiden Körperhälften war Guo Jing noch nicht begegnet. Sein Selbstvertrauen wankte. Er dachte an Hong Qigongs Lehrsätze über die Bedeutung von »Stolz« und »Reue«. Unschlüssig, ob er einen weiteren Angriff wagen sollte, wich er zurück.

Der Junge kann zwar mit einem Schlag einen Stuhl zerschmettern, mehr als brutale Kraft hat er nicht aufzubieten. Das ist kein ernst zu nehmendes Kung-Fu, sagte sich Qiu Qianren mit Genugtuung. Er legte in schneller Folge mit Handteilerhieb, Yin-reizender Stoß und Den Berg auf dem Tigerrücken erklimmen nach, ein Schlag feuriger als der andere.

Huang Rong, die um Guo Jing fürchtete, trat dichter an die Kämpfenden heran, um ihm im Notfall beizustehen. Als Guo Jing mit einer Seitwärtsbewegung erneut vor einem Tritt des Gegners auswich, sah er Huang Rongs besorgtes Gesicht und war kurz abgelenkt.

Qiu Qianren nutzte den Augenblick der Unachtsamkeit und schlug jetzt ernsthaft zu. Mit Die weiße Schlange spuckt die Zunge aus landete seine unerbittliche Faust mitten auf Guo Jings Brust.

Die Zuschauer schrien vor Entsetzen auf. Ein solcher Schlag von einem derart mächtigen Gegner war tödlich!

Als die Faust auf ihn zugeschossen kam, war Guo Jing vor Schreck alle Farbe aus dem Gesicht gewichen. Jetzt ist es aus mit mir, schoss es ihm durch den Kopf. Aber seltsamerweise spürte er keinen Schmerz, was ihn vollends verwirrte. Wie benommen bewegte er seine Arme und Schultern. Nichts. »Alles in Ordnung, Jing?« Huang Rong war sofort zu ihm gerannt, um ihn zu stützen. Tränen liefen über ihr Gesicht. Der verdammte Widerling hat ihn bewusstlos geschlagen!, fluchte sie innerlich.

Zu ihrer Überraschung lächelte Guo Jing. »Mir geht es gut, sei unbesorgt. Das machen wir gleich noch mal.« Er warf sich in die Brust und stellte sich vor Qiu Qianren auf. »Held der Eisenfaust nennt Ihr Euch, richtig? Schlagt noch einmal zu.«

Schäumend vor Wut bündelte Qiu Qianren seine Kräfte und ließ noch einmal seine unbarmherzige Faust auf Guo Jing los. Sie zielte mitten auf sein Herz.

Guo Jing lachte so ausgelassen, wie es sonst gar nicht seine Art war. »Meister, Huang Rong … Das Kung-Fu dieses alten Angebers ist nicht mehr als gewöhnlich. Seine Schläge sehen gefährlich aus, aber er hätte nicht tatsächlich zuschlagen dürfen, denn damit hat er sich verraten.« Er trat vor Qiu Qianren und holte mit dem ausgestreckten linken Arm aus. »Jetzt bin ich dran!«

Als ob ich nicht wüsste, was das für ein Schlag wird!, dachte Qiu Qianren und verschränkte die Arme vor der Brust, fest mit einem Fausthieb rechnend. Er ahnte nicht, dass es sich bei dieser Form um die am schwersten zu durchschauende Kunst der achtzehn drachenbezwingenden Hände handelte: Die Drachen raufen sich im Feld.

Dieser Schlag war unmöglich vorherzusehen; linker Arm, rechte Faust oder umgekehrt, beides konnte eine Finte oder einen Angriff bedeuten; erwartete der Gegner den linken Arm, schoss die rechte Faust vor. Guo Jings Schlag prallte mit voller Wucht gegen Qiu Qianrens Schulter. Der weißbärtige Mann flog zur Tür hinaus wie ein Papierdrache, bei dem man die Schnur durchtrennt hat. Die Zuschauer rangen nach Luft.

Im Türrahmen fing ihn eine Frauengestalt im Flug auf, packte ihn am Kragen, stapfte mit großen Schritten in den Saal und schleuderte ihn zu Boden. Dann stand sie ruhig da, ihre versteinerte Miene halb hinter langem, wirrem Haar verborgen, den Kopf in den Nacken gelegt.

Mei Chaofeng.

Was den Anwesenden einen noch größeren Schrecken einjagte als der Auftritt von Eisenleiche Mei, war die Gestalt, die hinter ihr erschien.

Ein hochgewachsener, hagerer Mann in einer schwarzen Gelehrtenrobe schwebte in gewissem Abstand hinter Mei Chaofeng her. Sein bleiches Gesicht glich einer hölzernen Fratze; allein seine Augen bewegten sich wachsam in den Höhlen. Es war, als hätte man den Kopf einer Leiche auf den Körper eines Lebenden gepflanzt. Sein Anblick jagte allen Anwesenden eiskalte Schauer über den Rücken. Zitternd wandten sie ihren Blick von ihm ab.

Eben noch hatten alle amüsiert über Qiu Qianrens überraschende Demütigung durch Guo Jing gestaunt, doch die Neuankömmlinge hatten die Possen des zweifelhaften Meisters schlagartig nebensächlich gemacht. Mei Chaofeng war kaum wiederzuerkennen, aber Gutsherr Lu wusste sofort, wen er vor sich hatte. Eine Mischung aus Angst, Trauer und Wehmut überkam ihn.

»Meisterin!« Freudig war Wanyan Kang aufgesprungen und verneigte sich zur allgemeinen Verblüffung vor Mei Chaofeng.

»Schwester Mei Chaofeng, seit mehr als zehn Jahren haben wir uns nicht gesehen. Endlich hat uns das Schicksal wieder zusammengeführt.« Der Hausherr hatte seine Sprache wiedergefunden. »Wie geht es Bruder Chen Xuanfeng?«

Die Sechs Sonderlinge und Guo Jing sahen einander bestürzt an. Gutsherr Lu und Mei Chaofeng … Schüler desselben Meisters? Auch das noch. In eine schöne Falle sind wir da getappt, dachte Ke Zhen’e grimmig. Mei Chaofeng allein ist schon keine einfache Gegnerin, und jetzt haben wir es obendrein mit ihrem Kampfschulbruder zu tun!

Huang Rong sah ihre Vermutung bestätigt. Ich wusste es. Das Kung-Fu und das Wissen dieses Gutsherrn Lu, seine ganze Lebensart hat mich immerzu an meinen Vater erinnert. Natürlich ist er sein Schüler!

»Bist du es, mein jüngerer Bruder Lu Chengfeng?«, fragte Mei Chaofeng kühl.

»Ja, ich bin es. Wie ist es dir ergangen in all den Jahren, ältere Schwester?«

»Wie es mir ergangen ist? Du machst wohl Witze. Siehst du nicht, dass ich blind bin? Und dein Bruder Xuanfeng ist schon vor Jahren ermordet worden. Bist du jetzt zufrieden?«

»Wer hat unseren Bruder getötet? Ist sein Tod gerächt worden?« Lu Chengfeng war einerseits überrascht, dass jemand die Zwillingsmörder der dunklen Winde erfolgreich hatte angreifen können; andererseits war er froh zu hören, dass er es nur noch mit einer Feindin zu tun hatte, überdies einer blinden. Beim Gedanken an die alten Zeiten, als sie gemeinsam Schüler des Herrn der Pfirsichblüteninsel gewesen waren, stieß er einen tiefen Seufzer aus.

»Ich suche seine Mörder noch immer.«

»Bevor wir unsere offenen Rechnungen begleichen, will ich dir gern helfen, den Mörder unseres Kampfschulbruders zu finden.«

Mei Chaofeng schnaubte verächtlich.

»Wenn du Rache üben willst, nur zu – hier sind wir!« Han Baoju schlug auf den Tisch und wollte sich auf Mei Chaofeng stürzen. Quan Jinfa konnte ihn gerade noch zurückhalten.

»Du …!« Mei Chaofeng schnellte herum.

»Schluss mit diesem Gefasel von Rache!« Qiu Qianren hatte sich halbwegs von Guo Jings Schlag erholt, der ihm durch Mark und Bein gegangen war. »Weißt nicht einmal, wer den eigenen Meister auf dem Gewissen hat und spuckst große Töne! Eine schöne Heldin seid Ihr!«

Mit einem Ruck hatte Mei Chaofeng ihn am Handgelenk gepackt. Der Schmerz drang ihm bis in die Knochen. »Was hast du gerade gesagt?«

»Lass los!«

Sie drückte fester zu. »Was hast du eben gesagt?«

»Huang Yaoshi, der Herr der Pfirsichblüteninsel, wurde ermordet!«, rief er.

»Das ist nicht wahr!«, rief Lu Chengfeng entsetzt.

»Warum sollte ich lügen? Die sieben Jünger Wang Chonyangs, die Daoisten der Quanzhen-Schule, haben sich ihn geschnappt und umgebracht.«

Bei diesen Worten sanken Mei Chaofeng und Lu Chengfeng auf die Knie, schlugen die Köpfe auf den Boden und begannen, herzzerreißend zu schluchzen. Huang Rong wurde ohnmächtig und stürzte rücklings mitsamt ihrem Stuhl um.

Dass jemand den Ketzer des Ostens mit seinem unbezwingbaren Kung-Fu getötet haben sollte, war kaum zu glauben. Wenn jedoch alle sieben Schüler der Quanzhen-Schule ihn mit vereinten Kräften in die Zange genommen hatten …

Sofort war Guo Jing zu Huang Rong gestürzt und hatte sie in die Arme genommen. »Rong, wach auf! Bitte!« Ihr kreidebleiches Gesicht und ihr schwacher Atem machten ihm Angst. »Meister, helft ihr!«

Zhu Cong hielt seine Hand unter ihre Nase. »Keine Sorge, sie ist nur vor Kummer ohnmächtig geworden. Das geht vorbei. Davon stirbt man nicht.« Er massierte den Tempel der Qualen genannten Nervenpunkt in der Mitte ihrer Handflächen. Langsam kam wieder Leben in sie.

»Vater? Was ist mit ihm? Ich will zu meinem Vater!«

Trotz seines Schocks dämmerte es Lu Chengfeng. Aber natürlich! Sie ist seine Tochter! Wie sonst hätte sie auch vom Tau der neun Blüten wissen können?

Er hob sein tränenüberströmtes Gesicht. »Wir fordern diese elenden Daoisten zum Kampf, kleine Schwester! Was ist, Chaofeng … bist du dabei? Wenn nicht, dann stelle ich mich dir zuerst. Es ist alles deine Schuld! Du hast Unglück über unseren gütigen Meister gebracht!«

»Vater!« Lu Guanying kniete sich neben Lu Chengfeng und stützte ihn. »Beruhige dich. Du darfst nichts überstürzen.« Noch nie hatte er seinen Vater so verzweifelt gesehen.

Aber Lu Chengfeng beachtete seinen Sohn überhaupt nicht. »Warum hast du uns das angetan?«, fuhr er Mei Chaofeng an. »Schlimm genug, dass du nichtsnutziges Weibsstück mit Xuanfeng angebandelt hast, aber warum musstet ihr unserem Meister das Neun-Yin-Handbuch stehlen? Wusstest du, dass unser Meister uns allen die Beine gebrochen hat, weil wir dich verteidigt haben? Mir und jedem unserer Brüder! Von der Insel verbannt hat er uns! All die Jahre habe ich darauf gehofft, dass er mir eines Tages vergeben würde, mich trotz eurer Vergehen wieder aufnehmen würde, damit ich ihm die Güte vergelten könnte, mich unterrichtet zu haben. Und jetzt ist er nicht mehr. All meine Hoffnung ist dahin! Deinetwegen!«

»Sei still, du Waschlappen! Schon damals habe ich dich verflucht, weil du kein Rückgrat hast, und jetzt verfluche ich dich noch einmal! Ihr habt uns doch gejagt, bis in die Mongolei mussten wir vor euren Häschern fliehen. Ohne euch wäre Xuanfeng nicht dort umgekommen! Was soll das Gejammer von wegen Vergebung und das Geschwätz von alten Rechnungen? Jetzt gilt es, unseren Meister zu rächen und diese elenden Daoisten zu finden. Wenn du nicht gehen kannst, dann trage ich dich!« Mei Chaofengs Worte sprudelten aus ihr heraus wie ihre Tränen.

»Vater! Ich will meinen Vater zurück!«, wimmerte Huang Rong.

»Der Kerl soll uns erst einmal Genaueres sagen.« Zhu Cong trat auf Qiu Qianren zu und klopfte ihm freundlich den Staub vom Hemd. »Unser Schüler hat sich höchst respektlos verhalten. Darf ich Euch im Namen seiner Lehrer um Verzeihung bitten?«

»Meine Augen sind nicht mehr so gut, der Treffer zählt nicht. Machen wir weiter.«

Zhu Cong klopfte ihm auf die Schulter und schüttelte seine linke Hand. »Es ist offensichtlich, dass Euer Kung-Fu weit überlegen ist. Nicht nötig, das noch einmal unter Beweis zu stellen.«

Er ging zurück an den Tisch, setzte sich und hob lächelnd seinen Weinbecher. Dann klemmte er den Rand zwischen Daumen und Zeigefinger, ließ den Becher kreisen und schlug mit der Handkante gegen den Rand. Ein schmaler Ring aus Porzellan fiel klirrend auf den Tisch. Die Ränder waren sauber und glatt.

»Wirklich beeindruckend, Euer Kung-Fu!«, sagte Zhu Cong dann. »Verzeiht mir, dass ich diese große Kunst von Euch abgeschaut habe.« Er winkte Guo Jing zu sich. »Komm her, ich bringe es dir bei. Ihr erlaubt doch, Meister? Mein Junge, ich will dir zeigen, wie man die Leute hinters Licht führen kann.«

Alle Farbe wich aus Qiu Qianrens Gesicht.

Zhu Cong streifte einen Ring von seiner linken Hand und hielt ihn hoch. »Den habe ich mir soeben von Qiu Qianren geliehen. Komm, zieh ihn dir an.« Guo Jing streifte den Ring auf seinen Finger. »Jetzt klemmst du den Becher zwischen die Finger und achtest darauf, dass der Ring ihn etwas unterhalb des Randes berührt. Jetzt lass den Becher auf der Handfläche kreisen. Gut so.« Wieder fiel klirrend ein Porzellanring auf den Tisch. »Vielen Dank für den Ring, sogar mit einem Diamanten besetzt!«, rief Zhu Cong. »Mit so einem harten Stein lässt sich alles schneiden.«

Selbst Huang Rong musste durch ihren Tränenschleier hindurch lachen. Aber die Tränen versiegten nicht.

»Nicht weinen, junge Dame«, sagte Zhu Cong. »Unser werter Meister Qiu liebt es, andere für dumm zu verkaufen. Jedes seiner Worte stinkt wie ein Hundefurz.« Huang Rong horchte auf. »Die Kampfkunst deines werten Vaters ist unübertroffen, und die sieben Jünger der Quanzhen-Schule sind Meister mit hehren Grundsätzen. Wie kämen sie dazu, deinen Vater zu töten?«

»Diese verdammten Ochsenschnauzen haben von der Sache mit Zhou Botong erfahren!«, platzte es aus Huang Rong heraus.

»Wovon redest du?«

»Nichts … Das … tut nichts zur Sache.« Eigentlich hätte Huang Rongs scharfer Verstand sie davor warnen müssen, den Worten Qiu Qianrens leichtfertig Glauben zu schenken. Aber zum einen war da die große Sorge um ihren Vater, den sie lange Zeit nicht gesehen hatte, und zum anderen war zwischen Huang Yaoshi und Zhou Botong wirklich etwas Schwerwiegendes vorgefallen … es schien alles andere als abwegig, dass die Jünger der Quanzhen-Schule ihn sich vorgeknöpft hatten.

»Wie auch immer.« Zhu Cong dachte, dass die junge Frau einfach etwas durcheinander war. »Zurück zum stinkenden Geschwätz dieses verkommenen Alten, der so allerhand interessante Gegenstände mit sich herumträgt.« Er zog zwei Ziegelsteine, ein Päckchen getrocknetes Blutgras, Zunder und einen Feuerstein aus der Kutte und breitete sie vor sich aus. Huang Rong nahm einen der Ziegelsteine in die Hand und drückte leicht zu, woraufhin der Stein sofort zerbröselte. Erstaunt zerrieb sie einen der Krümel zwischen den Fingern. »Dieser Ziegelstein ist aus Mehl gebacken«, lachte sie. »Eben noch hat er uns vorgeführt, wie er ihn mit seinem großartigen inneren Kung-Fu zerdrückt!«

Qiu Qianren wurde jetzt ganz grün im Gesicht. Am liebsten wäre er im Erdboden versunken. Er hatte gehofft, mit der Lüge über Huang Yaoshis Tod von sich abzulenken und sich heimlich aus dem Staub machen zu können. Und jetzt hatte der dreckige Lumpengelehrte ihn bloßgestellt! Schnell lief er zur Tür.

Mei Chaofeng fing ihn mit einer Hand ab, packte ihn am Schlafittchen, holte weit aus und schleuderte ihn gegen die Wand. »Du hast eben behauptet, mein geliebter Meister sei tot. Sag die Wahrheit!« Qiu Qianren hielt sich wimmernd den schmerzenden Leib.

Huang Rong besah sich die anderen Gegenstände auf dem Tisch. Das Päckchen mit getrocknetem Blutgras war angesengt. »Könntet Ihr das anzünden, in Eurem Ärmel verbergen und dann den Rauch inhalieren und wieder ausstoßen, Meister?«, fragte sie Zhu Cong.

Eigentlich waren die Sonderlinge wegen ihres Vaters nicht gut auf Huang Rong zu sprechen, aber für den Augenblick hatten sie andere Sorgen. Außerdem fühlten sie sich mit ihr gegen diesen Scharlatan Qiu Qianren verbündet. Insgeheim freute es Zhu Cong ungemein, dass sie ihn mit Meister angeredet hatte. Ihr flinker Verstand und ihre Schlagfertigkeit waren ganz nach seinem Geschmack. Unverzüglich kam er ihrer Bitte nach und inhalierte feierlich.

Huang Rong klatschte in die Hände. »Haha, Guo Jing, sieh mal! So also sieht es mit dem legendären inneren Kung-Fu des widerlichen alten Knackers aus. Inneres Feuer, hahaha!«

Grinsend trat sie vor den am Boden liegenden Qiu Qianren. »Steh auf!« Sie reichte ihm die Hand, um ihm aufzuhelfen, dann lähmte sie mit einer Orchideenhand beiläufig seinen Weg der Götter unter dem fünften Rückenwirbel. »So, und jetzt sag mir, was mit meinem Vater ist! Behaupte noch einmal, dass er tot ist, und du bist selbst tot!« Schon berührte die Spitze ihrer Emei-Nadel seinen Bauch.

Ihre Verhörmethoden amüsierten den ganzen Saal. Nur Qiu Qianren nicht, der fast durchdrehte, so sehr schmerzte und juckte es. »Vielleicht ist er gar nicht so tot, so genau weiß man das nie.«

»Das klingt schon besser«, sagte Huang Rong zufrieden. »Dann will ich Gnade walten lassen.« Sie massierte sein Leeres Becken an der rechten Schulter, um ihn von seiner Lähmung zu erlösen.

Jetzt wissen wir aber immer noch nicht, ob er tot ist oder noch lebt, dachte Lu Chengfeng. »Ihr habt gesagt, mein Meister wurde von den sieben Daoisten der Quanzhen-Schule umgebracht. Habt Ihr den Kampf mit eigenen Augen gesehen oder nur davon gehört?«

»Ich habe davon gehört.«

»Von wem?«

Qiu Qianren brummte etwas Unverständliches. Dann sagte er: »Von Bettlerfürst Hong Qigong.«

»Wann war das?« Huang Rong war hellhörig geworden.

»Vor einem Monat?«

»Und wo?«

»Auf dem Gipfel des Berg Tai. Wir haben miteinander gekämpft, und er hat verloren. Dann hat er die Geschichte nebenbei erwähnt.«

»Soso!« Huang Rong packte ihn am Kragen und riss ihm ein Büschel seiner Barthaare aus. »Bettlerfürst Hong hat gegen dich widerlichen alten Knacker verloren, was du nicht sagst! Schwester Chaofeng, Bruder Chengfeng, hört nicht auf diesen … diesen …« Die Schimpfwörter, an die sie dachte, waren so übel, dass sie sie nicht über ihre zarten Lippen brachte.

»… diesen stinkenden Hundefurz«, ergänzte Zhu Cong.

Huang Rong grinste. »Vor einem Monat haben wir längere Zeit mit Bettlerfürst Hong verbracht, und zwar hier im Süden.« Sie winkte Guo Jing heran. »Ich finde, du solltest ihm noch eine der achtzehn drachenbezwingenden Hände zeigen.«

»Einverstanden!« Guo Jing stellte sich in Positur.

Qiu Qianren ergriff panisch die Flucht. Als er Mei Chaofeng in der Tür stehen sah, machte er kehrt und flitzte zurück in den Saal. Jetzt stellte sich ihm Lu Guanying in den Weg, aber der alte Mann schubste ihn zur Seite. Der Sohn des Hausherrn stolperte rückwärts. Ganz ohne Kung-Fu war der Möchtegern-Großmeister dann doch wieder nicht.

Huang Rong hielt ihn mit ausgebreiteten Armen auf. »Jetzt will ich aber noch wissen, wie du es angestellt hast, den Eisentrog zu tragen und auf dem Wasser zu gehen!«

»Das habe ich meiner einzigartigen Schwebekunst zu verdanken. Man nennt mich schließlich nicht umsonst den Wasserwandler mit der Eisenfaust!«

»Nach wie vor derselbe Prahlhans! Denkst du, wir fallen immer noch darauf herein?«

»Ich bin nicht mehr der Jüngste, und mein Kung-Fu hat nachgelassen, aber meine Schwebekunst kann sich immer noch sehen lassen.«

»Gut, draußen im Garten ist ein Karpfenteich. Dort kannst du uns zeigen, wie man auf dem Wasser geht.«

»Ein Teich? Wie soll ich …«

Etwas schoss wie ein Blitz durch die Halle und schloss sich eng um seine Fußgelenke. Schon baumelte Qiu Qianren kopfüber an Mei Chaofengs weißer Schlangenpeitsche. »Schluss mit dem Geschwätz!«, fauchte Mei Chaofeng und beförderte ihn mit einem Schwung zur Tür hinaus in den Karpfenteich. Huang Rong rannte hinaus und baute sich mit gezückter Emei-Nadel drohend über ihm auf. »Du zeigst uns jetzt, wie man auf dem Wasser geht, sonst mache ich dich vom Wasserwandler zum Wasserschlucker!«

Qiu Qianren versuchte, aus dem Teich zu hüpfen, hatte aber unversehens Huang Rongs Emei-Nadel vor sich und plumpste zurück ins Wasser. Patschnass und kläglich japsend streckte er den Kopf aus dem Wasser. »Der … der Eisentrog besteht … nur aus einer dünnen Eisenplatte. Die Öffnung ist verschlossen, sodass nur … wenig Wasser in die Mulde passt. Und das mit dem Fluss … Ich hatte zuvor Holzpflöcke in den Grund geschlagen, die bis eine Handbreit unter die Wasseroberfläche reichten … deshalb konntet ihr sie nicht sehen.«

Huang Rong schüttelte sich vor Lachen und ging zurück in den Saal, ohne sich weiter um ihn zu kümmern. Qiu Qianren kletterte aus dem Teich und machte sich aus dem Staub.

So viele gemeinsam vergossene Tränen und so viel geteiltes Gelächter hatten selbst Mei Chaofeng ihren Rachedurst geraubt. Eigentlich war sie im Wanderwolkenpalast aufgetaucht, um den Jin-Prinzen zu befreien und alles niederzumetzeln, was sich ihr in den Weg stellte. Jetzt aber war sie viel zu glücklich, ihren geliebten Meister am Leben zu wissen. Noch dazu hatte der vorwitzige Charme seiner Tochter bei der Entlarvung Qiu Qianrens selbst auf ihre allzeit finstere Fratze ein Lächeln gezaubert. Es war ihr unmöglich, ihr Herz weiter vor der Freude über das Wiedersehen mit ihrem jüngeren Kampfschulbruder zu verschließen. »Lu Chengfeng, lass meinen Schüler frei«, sagte sie schließlich ruhig, »und ich werde unsere alte Fehde unserem Meister zuliebe vergessen. Dass ich und mein Liebster vor dir bis in die Mongolei fliehen mussten und er … ach, das Schicksal hat es so gewollt.«

Die Arme, dachte Lu Chengfeng. Ihr Mann ist tot, sie ist blind und ganz allein auf der Welt. Meine Beine mögen mir nicht mehr gehorchen, aber immerhin habe ich Frau und Sohn, Wohlstand und Wohnung. Mein Leben ist hundertmal besser als ihres. Er seufzte. »Nimm deinen Schüler mit, Schwester Chaofeng«, sagte er dann. »Morgen werde ich die Reise zur Pfirsichblüteninsel antreten und nach unserem geliebten Meister sehen. Möchtest du mich begleiten?«

»Ist das dein Ernst?« Mei Chaofengs Stimme zitterte.

»Ja. Ich bin mir bewusst, dass es ein folgenschweres Vergehen ist, die Pfirsichblüteninsel gegen den Willen unseres gütigen Meisters zu betreten, aber die falschen Behauptungen dieses Scharlatans lassen mir keine Ruhe. Ich vermisse unseren Meister mehr denn je.«

»Lasst uns alle zusammen gehen«, sagte Huang Rong. »Ich werde bei meinem Vater ein gutes Wort für euch einlegen.«

Mei Chaofeng stand wie angewurzelt da. Wieder liefen Tränen über ihre Wangen. »Wie könnte ich es wagen, ihm noch einmal unter die Augen zu treten? Unmöglich. Unser gütiger Meister hat mich als Waise aus Mitleid bei sich aufgenommen, mich aufgezogen und unterrichtet. Und ich bösartiges Ungeheuer habe ihn betrogen. Ich bin nicht mehr wert als ein räudiger Köter … Immerzu denke ich an ihn, bete für seine Gesundheit und wünsche, er würde mich eigenhändig vernichten, wie ich es nicht anders verdient habe …«

Unvermittelt holte sie aus und verpasste sich selbst zwei schallende Ohrfeigen. »Alles, was ich noch will, ist den Tod meines Geliebten zu rächen, danach werde ich mich selbst töten. Her mit Euch, wenn Ihr es wagt, Sieben Sonderlinge des Südens! Heute will ich auf Leben und Tod mit Euch kämpfen.« Noch einmal ohrfeigte sie sich selbst, bis ihre Wangen brannten.

Ke Zhen’e trat auf sie zu und stampfte mit seinen Eisenstab auf. »Mei Chaofeng, du kannst mich nicht sehen, so wenig wie ich dich sehen kann«, begann er mit mächtiger und rauer Stimme. »Damals, bei jenem Kampf in der Mongolei, hat dein Mann sein Leben verloren, aber zuvor hat er uns unseren fünften Bruder Zhang Ahsheng geraubt.«

»Ach, deshalb sind es nur noch sechs …«, murmelte Mei Chaofeng.

»Wir haben Bruder Ma Yu versprochen, dein Leben zu verschonen und von Rache abzusehen. Aber heute bist du es, die uns herausfordert. Himmel und Erde sind weit, das Schicksal hat uns gleichwohl wieder zusammengeführt. Es scheint dem Himmel nicht zu gefallen, dass die Sieben Sonderlinge und Mei Chaofeng nebeneinander in dieser Welt existieren. Schreiten wir zum Kampf. Bitte fang an!«

»Nach Euch«, sagte Mei Chaofeng verächtlich. »Nach Euch allen sechs gemeinsam.«

Die übrigen fünf Sonderlinge hatten sich längst hinter ihrem Ersten Bruder postiert. Sie zogen die Waffen.

»Bitte überlasst Eurem Schüler den ersten Angriff.« Guo Jing verbeugte sich vor seinen Lehrern.

»Wartet! Hört mich erst an.« Lu Chengfeng wünschte, er hätte die Macht oder das Kung-Fu, um den drohenden Kampf abzuwenden. Trotzdem konnte er jetzt, wo sich auch noch Guo Jing in Gefahr brachte, nicht länger an sich halten. »Mag sein, dass zwischen meiner Schwester Mei Chaofeng und den Sieben Sonderlingen alte Feindschaft besteht, aber beide Seiten haben deshalb bereits einen schmerzlichen Verlust erlitten. Wenn ich daher vorschlagen dürfte, dass Ihr heute nur um Sieg oder Niederlage kämpft, ohne jemanden ernsthaft zu verletzen? Eine gegen sechs wäre allerdings ein höchst ungleicher Kampf. Wie wäre es, wenn du die Herausforderung des jungen Herrn annimmst, Schwester, und ihm zeigst, was du kannst?«

»Als ob ich gegen einen namenlosen Hanswurst kämpfen würde!«

»Ich war es, der Euren Ehemann getötet hat«, sagte Guo Jing. »Meine sechs Meister tragen keine Schuld an seinem Tod.«

»Dann rechne ich zuerst mit dir ab!« Mei Chaofeng hatte dem Gehör nach bereits ausgemacht, wo sich Guo Jing befand. Bei seinen Worten hatte sie sich wie eine Furie auf ihn gestürzt und wollte ihre fünf Finger in seine Schädeldecke bohren.

Guo Jing wich gerade noch rechtzeitig aus. »Ich war erst sechs Jahre alt, ein unwissendes Kind, es war ein Unfall. Aber ich will nicht weglaufen, sondern die Verantwortung für meine Tat übernehmen. Tötet mich, zieht mir bei lebendigem Leib die Haut ab. Das Einzige, worum ich bitte, ist, dass Ihr von heute an meine sechs Meister in Frieden lasst.«

»Du wirst nicht davonlaufen?«

»Nein.«

»Gut. Die Sonderlinge und ich, wir haben jeder schon einen Menschen verloren, der uns nahestand. Es ist mein verfluchtes Los und ihres und nicht mehr zu ändern. Lasst uns also unsere Fehde begraben. Kleiner, du kommst mit mir!«

»Schwester Chaofeng!« Das durfte Huang Rong nicht zulassen. »Er hat zwar gezeigt, was für ein tapferer Kerl er ist, aber trotzdem wirst du im ganzen Jianghu verlacht werden!«

»Wie meinst du das?«, fragte Mei Chaofeng.

»Er ist der einzige Schüler der Sieben Sonderlinge des Südens. Die Sonderlinge haben ihre Fähigkeiten in den vergangenen Jahren erheblich gesteigert, sie hätten dich im Handumdrehen erledigt. Aber sie bieten dir an, dich gehen zu lassen, ersparen dir den Gesichtsverlust. Und was machst du? Bleibst einfach unbelehrbar und spuckst große Töne!«

»Pah! Ich brauche die Gnade der Sechs Sonderlinge nicht. Nur zu, ihr Stümper, zeigt mir, wie sehr sich Euer Kung-Fu verbessert hat!«

»Sie haben es nicht nötig, sich mit dir zu messen. Du wirst nicht einmal gegen ihren Schüler bestehen.«

»Wenn ich den in drei Angriffen nicht erledigt habe, dann zerschmettere ich mir den Schädel an einer Säule und sterbe an Ort und Stelle, vor aller Augen!« Eisenleiche Mei hatte Guo Jings Kung-Fu nur vom Kampf im Palast des Königs Zhao in Erinnerung. Wie hätte sie ahnen können, dass er unter der Anleitung des Großmeisters Bettlerfürst Hong gewaltige Fortschritte gemacht hatte!

»Gut, wir alle werden Zeugen sein. Aber drei Angriffe sind nicht gerade viel. Sagen wir: zehn«, schlug Huang Rong vor.

»Es wäre mir eine Ehre, fünfzehn Formen von Meisterin Mei kennenlernen zu dürfen«, sagte Guo Jing, der verstand, was Huang Rong im Sinn hatte. Er vertraute darauf, die fünfzehn Drachenbezwingenden Hände gut genug zu beherrschen, um gegen Mei Chaofeng zu bestehen.

»Wir werden Bruder Chengfeng und deinen Begleiter bitten, mitzuzählen.«

»Meinen Begleiter? Ich bin allein hier.«

»Wer ist dann der Herr hinter dir?«

Wie der Blitz fuhr Mei Chaofeng herum und schlug dabei mit der Hand nach hinten, aber die Gestalt in der schwarzen Gelehrtenrobe war schneller. Lautlos wie ein Geist war er ihrer Hand ausgewichen.

Seit Mei Chaofeng im Süden angekommen war, hatte sie das seltsame Gefühl gehabt, beschattet zu werden. Wieder und wieder hatte sie den vermeintlichen Verfolger zu Rede stellen wollen, gerufen, um sich geschlagen, aber nie jemanden zu fassen bekommen oder auch nur das kleinste Geräusch gehört. Sie hatte schon geglaubt, ihr Verstand spiele ihr einen Streich und sie hätte Gespenster um sich. Doch dann, als sie in jener Nacht von Ouyang Kes Schlangenherde umzingelt worden war, hatte ein Unbekannter ihre Angreifer mit seinem Flötenspiel zermürbt und in die Flucht geschlagen. Auf Knien hatte sie ihren Dank in die Nacht gerufen. Ohne Antwort. Stundenlang hatte sie so ausgeharrt. Keine raschelnden Schritte, nicht der leiseste Ton war zu hören gewesen. Bei Huang Rongs Worten zuckte sie zusammen. »Wer bist du?«, fragte sie mit bebender Stimme. »Warum verfolgst du mich?«

Die Gestalt in der Gelehrtenrobe schwieg. Mei Chaofeng griff noch einmal an. Jeder ihrer Schläge ging ins Leere. Obwohl die Gestalt sich überhaupt nicht zu bewegen schien, war sie im Nu immer dort, wo Mei Chaofeng nicht war. Keiner der Anwesenden hatte je im Leben ein vergleichbares Kung-Fu gesehen. Es war nicht von dieser Welt.

Lu Chengfeng fand als Erster die Sprache wieder. »Verehrter Herr, wie nachlässig von mir, Euch noch nicht begrüßt zu haben. Ob ich Euch an unsere Tafel einladen dürfte?«

Die Gestalt drehte sich um und schwebte wortlos zur Tür hinaus.

»Wart Ihr der große Meister, der in jener Nacht auf der Flöte gespielt hat? Mei Chaofeng schuldet Euch für immer Dank«, versuchte es Mei Chaofeng noch einmal. Trotz ihres ausgezeichneten Gehörs hatte sie nicht bemerkt, dass der Angeredete nicht mehr im Saal war.

»Er ist weg, Schwester Chaofeng«, sagte Huang Rong.

»Weg? Ich habe nichts gehört!«

»Lauf ihm nach, und zeig, was du kannst, anstatt hier herumzuwüten!«

Mei Chaofengs eben noch verdutztes Gesicht verzerrte sich wieder zu einer wütenden Grimasse. »Angetreten, du Bürschchen namens Guo! Nimm das!« Sie riss die Arme hoch und zeigte ihre Krallen, die im Kerzenlicht geisterhaft grün schimmerten.

»Ich bin be…!« Noch bevor er ausgeredet hatte, ließ sie ihre rechte Hand kreisen, und die linke schoss wie eine Klaue auf Guo Jings Gesicht zu. Flink duckte er sich zur Seite weg und holte mit dem linken Arm aus. Mei Chaofeng hörte zwar den Luftzug, aber Die achtzehn drachenbezwingenden Hände waren nicht irgendein Schlag. Guo Jings Handkante knallte gegen ihre linke Schulter.

Der Schlag war so heftig, dass sie ein paar Schritte zurücktaumelte, aber im nächsten Augenblick hatte sie schon Guo Jings Handgelenk gepackt. Ihre Krallen gruben sich in drei vitale Nervenpunkte, den Inneren Durchgang, den Äußeren Durchgang und das Zusammentreffen der Lehren.

Ein betäubender Schmerz durchfuhr Guo Jings Arm. Seine Meister hatten ihm viel über Mei Chaofengs ungeheure Schnelligkeit und die Gefährlichkeit ihrer Neun-Yin-Todesklaue erzählt. Dementsprechend war er auf der Hut gewesen. Guo Jing wusste, dass er nicht schnell genug war, um ihren unvorhersehbaren Bewegungen zu entgehen, aber dass sie ihn sofort, nachdem sie einen derart heftigen Schlag eingesteckt hatte, angreifen würde, damit hatte er nicht gerechnet.

Immerhin hatte Guo Jing gemäß des Prinzips der Reue des stolzen Drachen noch Kraft in Reserve. Die gekrümmten Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand trafen ihre Brust. Das war nur die Hälfte der Form Meide den untätigen Drachen. Die linke Hand, die gleichzeitig einen Haken hätte landen sollen, steckte fest in Mei Chaofengs Klauen. Trotzdem – auch halb ausgeführt war achtzehn Drachenbezwingende Hände beachtliches Kung-Fu.

Mei Chaofeng hörte den Schlag kommen. Was war das? Eine Faust oder eine Handkante? Ein wenig verunsichert wich sie aus. Wieder traf Guo Jing ihre linke Schulter.

Obwohl er sie nicht voll erwischt hatte, trieb eine erstaunliche Kraft sie rückwärts. Instinktiv lockerte sie den Griff ihrer rechten Hand und ließ Guo Jing los.

Krachend flogen sie beide mit dem Rücken gegen eine Säule. Dachziegel, Mauersteine und Staub rieselten herab. Die Diener rannten schreiend aus dem Saal.

Die Sechs Sonderlinge sahen einander ungläubig an. Alle stellten sich die gleiche Frage: Woher hat Guo Jing plötzlich dieses überragende Kung-Fu? Han Baoju warf Huang Rong einen sauertöpfischen Blick zu. Er mutmaßte, dass Guo Jing diese außerordentliche Schlagtechnik von dieser kleinen Hexe haben musste. Das Kung-Fu der Pfirsichblüteninsel ist einfach unbezwingbar, dachte er.

Mei Chaofeng und Guo Jing gingen jetzt ohne Rücksicht aufeinander los. Seine hervorragende Schlagtechnik von fulminanter Heftigkeit traf auf ihre unbarmherzige Klaue von fantastischer Veränderlichkeit. Mei Chaofeng huschte vorwärts und rückwärts und ließ ihre Krallen aus ständig neuen Richtungen auf Guo Jing los. Er versuchte gar nicht erst, mit ihrer Wendigkeit mitzuhalten, schließlich kannte er die Kunst des Pfirsichblütenregens von Huang Rong; stattdessen hielt er sich an den Rat des Bettlerfürsten – bloß nicht von den variantenreichen Schlägen des Gegners beeindrucken lassen und einfach nur stur mit einer seiner fünfzehn Drachenbezwingenden Hände nach der anderen kontern.

Als er alle fünfzehn durchexerziert hatte, fing er einfach wieder von vorne an. Es klappte. Fünfundvierzig Angriffe später hatte Mei Chaofeng immer noch keinen entscheidenden Vorteil gewonnen. Ein triumphierendes Lächeln breitete sich auf Huang Rongs Gesicht aus. Die Sechs Sonderlinge waren sprachlos und Lu Chengfeng war vollkommen gebannt. Mei Chaofengs Kung-Fu ist inzwischen so brillant, dass ich keine zehn Schläge von ihr überstehen würde! Und woher hat dieser junge Guo bloß dieses profunde Wissen, diese ausgezeichnete Methodik? Ich habe sein Talent völlig verkannt. Ein Glück, dass ich mich mit ihm gutgestellt habe!

Im flackernden Kerzenlicht wirkte Mei Chaofengs Antlitz wieder so hübsch wie in ihren Mädchenjahren. Ihr ursprünglich dunkler Teint war in den langen Jahren, in denen sie das Tageslicht gescheut hatte, einer schimmernden Blässe gewichen und ihre Wangen glänzten in einem frischen Rot, als hätte sie Puderrouge aufgetragen. Lu Chengfeng erinnerte sich, welch bezaubernde, zartfühlende Schönheit sie in jungen Jahren gewesen war. Er selbst war damals zu jung gewesen, um romantische Gefühle für sie zu entwickeln, aber er hatte stets bewundernd zu ihr aufgesehen. Sie hatte sich um ihn gekümmert, als wäre sie eine leibliche große Schwester. Sicher, nachdem der Meister ihm ihretwegen die Beine gebrochen und ihn verbannt hatte, hatte er sie gehasst und die Zwillingsmörder der dunklen Winde gejagt. Doch jetzt, bei diesem unverhofften Wiedersehen, war sein Groll wie weggeblasen. Ihre anmutigen Bewegungen ließen ihn wehmütig daran zurückzudenken, wie sie früher zusammen gelernt und geübt hatten. Bedauerlich, dass sie jetzt vor seinen Augen mit solch grässlicher Wut kämpfte, erbarmungslos und ohne erkennbare Schule. Lu Chengfeng hoffte inständig, dass der Kampf im Guten enden würde.

Wanyan Kang sah dem Kampf mit Neid und Verdruss. War er diesem Wicht nicht vor wenigen Monaten noch überlegen gewesen? Und jetzt bestand Guo Jing sogar gegen seine Meisterin!

»Das waren jetzt bestimmt schon achtzig Angriffe, Schwester Chaofeng, willst du nicht endlich deine Niederlage eingestehen?«, rief Huang Rong.

Das war natürlich übertrieben, es waren vielleicht sechzig Angriffe gewesen, aber nach Mei Chaofengs Geschmack sechzig Angriffe zu viel. Nun habe ich mich jahrzehntelang abgeplagt, um mir das tödlichste Kung-Fu anzueignen und komme nicht gegen so einen Grünschnabel an? Das darf nicht sein!

Sie hieb und krallte, immer rasender, immer hitziger. Die Verblüffung über Guo Jings Standhaftigkeit ließen sie vergessen, dass hemmungslose Raserei selbst den erfahrensten Meister zu Fall bringen konnte. Neben ihren blinden Augen schwächte ihre blinde Wut ihr überlegenes Kung-Fu.

Dank seiner Stärke und seiner tapferen Sturheit war es Guo Jing bislang gelungen, Mei Chaofeng auf Abstand zu halten. Mittlerweile hatte er Bettlerfürst Hongs Drachenbezwingende Hände aber bereits vier Mal vollständig durchexerziert. Sie würden schon bald hundert Angriffe hinter sich gebracht haben.

Mei Chaofeng war sich jetzt sicher, das Muster seiner Bewegungsabfolgen durchschaut zu haben, und änderte die Taktik. Kein Nahkampf mehr. Sie wich ein paar Schritte zurück, was es Guo Jing erschwerte, richtig zu zielen. Seine mächtigen Schläge trafen ins Leere, wobei er sich sinnlos verausgabte. Die Drachenbezwingenden Hände waren kräftezehrend, und nach einer Weile begann die Wucht von Guo Jings Schlägen nachzulassen.

Das nutzte Mei Chaofeng zu ihrem Vorteil aus. Sie riss die ausstreckten Arme hoch und ließ sie wieder herunterschnellen, eine Kombination aus Neun-Yin-Todesklaue und Herzbrecherhand.

Huang Rong ahnte, dass Guo Jing nicht viel länger durchhalten würde. »Schon über hundert Angriffe, Schwester Chaofeng! Warum gestehst du nicht endlich deine Niederlage ein?«, rief sie.

Aber Mei Chaofeng hörte nicht auf sie. Noch schneller, noch unbarmherziger attackierte sie Guo Jing.

Einer plötzlichen Eingebung folgend rannte Huang Rong zu einer Säule. »Guo Jing, sieh her!«

Guo Jing setzte gerade zu Den großen Fluss durchwaten an, gefolgt von Die Wildgans geht an Land. Dann sah er Huang Rong um die Säule herumrennen und ihm Zeichen geben. Was macht sie da? Er begriff nicht, was sie wollte.

»Greif sie von hier aus an!«, zischte Huang Rong ihm zu.

Jetzt hatte er verstanden und sprang schnell hinter die nächstgelegene Säule. Mei Chaofeng folgte dem Klang seiner Schritte und griff erneut an. Guo Jing duckte sich weg. Ihre Finger gruben sich ins Holz. Mit dem nächsten Ausatmen schickte Guo Jing sofort den nächsten Faustschlag gegen sie.

Ihr blieb keine Zeit, um auszuweichen. Ihre Finger lösten sich aus der Säule, und die Wucht des Schlags schleuderte Mei Chaofeng rückwärts.

Blindwütig, ohne abzuwarten, bis Guo Jing wieder in Position stand, setzte Mei Chaofeng blitzschnell mit erhobenen Krallen zum nächsten Angriff an.

Sie erwischte Guo Jing, der nach dem letzten Schlag noch keinen festen Stand gefunden hatte, am Arm. Der Ärmel zerriss und seine Haut war zerkratzt, aber noch floss kein Blut. Der Schreck verlieh ihm neue Kraft für einen weiteren heftigen Faustschlag. Guo Jing glitt hinter die Säule.

Diesmal landete Mei Chaofengs linke Klaue im Holz.

Guo Jing sah von einem neuerlichen Angriff ab. »Mein Kung-Fu ist Eurem nicht ebenbürtig, Mei Chaofeng. Habt Erbarmen mit mir«, bat er.

Alle Anwesenden sahen Guo Jing jetzt, wo er mithilfe der Säule kämpfte, eindeutig im Vorteil. Sie zu diesem Zeitpunkt um ein Ende des Kampfs zu bitten, ersparte ihr den Gesichtsverlust, den eine Niederlage bedeutet hätte. Damit ist die Sache ein für alle Mal beigelegt, hoffte Lu Chengfeng.

»Ha! Wäre das ein gewöhnlicher Wettstreit der Kampfkunst, hätte ich schon nach drei verfehlten Angriffen meine Niederlage eingestanden. Aber mein Rachedurst ist größer!«, blaffte Mei Chaofeng zurück.

Drei Angriffe mit der rechten Hand, dann drei mit der linken Hand – alle trafen nur die Säule. Mei Chaofeng brüllte vor Zorn und schlug mit beiden Händen zu.

Laut krachend brach die Säule. Als die halbe Halle einstürzte, war Lu Guanying mit seinem Vater auf den Armen schon hinausgerannt. Alle Anwesenden hatten sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht – alle außer Kommandant Duan, der in der Kampfkunst nicht bewandert genug war, um das Unheil kommen zu sehen. Hysterisch kreischend lag er unter Staub und Geröll, beide Beine unter einem Dachbalken eingeklemmt. Wanyan Kang bahnte sich den Weg zurück durch die Trümmer, hievte den Balken beiseite und half dem Mann auf die Beine. Er hoffte, das Chaos für eine gemeinsame Flucht nutzen zu können und wollte gerade losrennen, als er einen kurzen Druck auf den unteren Rücken verspürte und sein ganzer Körper taub wurde. Wer es war, der ihn gelähmt hatte, konnte er nicht mehr feststellen.

Mei Chaofeng ließ sich vom allgemeinen Tumult nicht beirren. Sie erlauschte Guo Jings Schritte und stürzte sich erneut auf ihn. Das Duell ging weiter, als wäre nichts geschehen. Die in der mondlosen Nacht kaum erkennbaren Silhouetten der beiden Kontrahenten waren ein hin und her wogendes Knäuel aus Kampfgeschrei, das durch den Garten hallte, Händen, die durch die Dunkelheit schnitten und Tritten, die wie Sturmwind rauschten. Dazwischen das laute Knacken von Mei Chaofengs Gelenken.

Jetzt, wo er durch die Dunkelheit so blind war wie Mei Chaofeng, war Guo Jing im Nachteil und wich hilflos ihren Angriffen aus. Lange würde er sich nicht mehr halten können. Gerade noch rechtzeitig sah er Mei Chaofeng zum Tritt ausholen und riss sein Bein hoch, um zu kontern.

»Vorsicht!«, rief Lu Guanying. Mit derselben Bewegung hatte Wanyan Kang ihn hereingelegt. Guo Jings Gegentritt war kräftig genug, um Mei Chaofengs Knochen zu brechen, aber sie hatte sich flink weggedreht und erwartete sein Bein mit ihren Krallen. Im letzten Augenblick drosch er mit der inneren Kraft, die ihm noch blieb, auf ihr Handgelenk ein, doch es reichte nicht, um Mei Chaofeng daran zu hindern, Zeigefinger, Mittelfinger und Ringfinger in seinen Handrücken zu graben und das Fleisch ruckartig aufzureißen. Verzweifelt holte Guo Jing mit der Rechten aus. Sein Schlag ging ins Leere. Mit einem hämischen Lachen war Mei Chaofeng zurückgewichen.

Guo Jings linke Hand brannte wie Feuer. Drei rote Linien zogen sich über seinen Handrücken, dunkler als gewöhnliche Blutspuren. Jetzt erinnerte er sich wieder. Damals auf dem Felsen in der Mongolei – an die Haufen aus neun Totenschädeln, daran, wie seine Meister über die Neun-Yin-Todesklaue geredet hatten. Und über das tödliche Gift in Mei Chaofengs Krallen. Eben, als sie meinen Arm erwischt hat, ist kein Blut geflossen, aber jetzt …

»Huang Rong, sie hat mich vergiftet.«

Guo Jing griff mit zwei Faustschlägen auf einmal an. Er wollte leben. Jetzt galt es, Mei Chaofeng so schnell wie möglich zu überwältigen und zu zwingen, das Gegenmittel herauszurücken. Aber schon der heftige Luftzug seiner Schläge hatte Mei Chaofeng gewarnt, und jeder Angriff ging daneben.

Ke Zhen’e packte seinen Eisenstab und griff ein. Die übrigen Sonderlinge und Huang Rong schlossen sich an und umzingelten Mei Chaofeng. »Du hast längst verloren, Schwester Chaofeng, warum hörst du nicht auf? Her mit dem Gegenmittel!«

Keine Antwort. Mei Chaofeng war ganz auf Guo Jings wütende Fäuste konzentriert und ließ sich nicht ablenken. Weiter so, dachte sie. Je mehr Kraft du aufwendest, desto schneller wirkt das Gift. Mir ist es gleich, ob ich hier und jetzt sterbe, Hauptsache, ich habe Xuanfeng gerächt.

Guo Jing war schon ganz benommen. Auf seinem Gesicht lag ein verklärtes Lächeln, sein linker Arm hing schlaff herab, er wusste schon nicht mehr genau, warum er kämpfte und gegen wen. Huang Rong bemerkte seinen glasigen Blick. »Guo Jing, zieh dich zurück, schnell!«, rief sie und griff Mei Chaofeng nun selbst mit ihren Emei-Nadeln an.

Durch den Klang ihrer Stimme lichtete sich für einen Augenblick Guo Jings benebelter Verstand. Instinktiv setzte er zu einem Schlag an, Plötzlicher Aufstieg, die elfte Form der achtzehn drachenbezwingenden Hände. Doch sein linker Arm gehorchte nur langsam und träge. Mei Chaofeng wich gar nicht erst aus. Der Schlag traf ihre linke Schulter.

Mei Chaofeng fiel rücklings um.

Han Baoju, Nan Xiren, Quan Jinfa stürzten sich auf die am Boden liegende Eisenleiche, um sie festzuhalten. Aber ein kräftiger Stoß mit beiden Armen genügte ihr, um Reiterkönig Han und Marktheld Quan von sich zu schleudern. Dann holte sie mit ihren Krallen nach Holzfäller Nan aus, der sich flink duckte und über den Boden wegrollte. Schnell kam sie wieder auf die Beine, aber da traf sie Guo Jings nächster Schlag in den Rücken, und sie kippte vornüber.

Warum hatte sie ihn nicht gehört? Weder Mei Chaofeng noch ein anderer verstand so recht, wie Guo Jing es geschafft hatte, seine Kontrahentin in seinem Zustand gleich zweimal niederzustrecken.

Guo Jing sank auf die Knie. Vor seinen Augen verschwamm alles. Schnell griff Huang Rong ihm unter die Arme.

Als Mei Chaofeng Schritte hörte, schnellte sie hoch und schlug zu. Ein unfassbarer Schmerz fuhr in ihre Fingerspitzen. Der eiserne Igel! Mit einem Aufrechter Karpfen sprang sie zurück.

»Hier, fang!«

Mei Chaofeng wusste nicht, wessen Stimme das war, aber sie hörte, wie etwas auf sie zusauste. Was ist das für eine Waffe?, fragte sie sich und ließ zur Abwehr den rechten Arm hochschnellen. Etwas krachte dagegen und brach in Stücke. Dann folgte ein Geräusch, das sie noch weniger identifizieren konnte. Etwas Großes flog auf sie zu. Ihre Linke schoss vor, schlug auf den Gegenstand und traf auf eine harte, glatte Fläche. Da sie das Ding nicht zu packen bekam, trat sie es kurzerhand mit dem Fuß weg. Auf einmal zappelte etwas Kaltes, Glitschiges in ihrer Kleidung.

Kalter Schweiß perlte von Mei Chaofengs Stirn. Was ist das für ein Hexenwerk? Rasch fuhr sie mit einer Hand in ihre Brusttasche … Fische?

Sie erstarrte. Wo sind meine Sachen?

Zhu Cong war zu dem Schluss gekommen, dass sie das Gegenmittel bei sich trug. Er hatte sich etwas einfallen lassen müssen, um sie abzulenken, aber wenn es um Einfallsreichtum ging, machte dem klugen Meister Flinke Hand so leicht niemand etwas vor. Der Einsturz der Halle hatte ein Glas mit Goldfischen zerschmettert. Er hatte die Fische aufgelesen, zuerst einen Stuhl und dann einen schweren Tisch nach Mei Chaofeng geworfen, um sie abzulenken, und ihr schließlich geschickt die Fische in den Kragen gesteckt. Dann hatte er den Schreckmoment ausgenutzt, um den Inhalt ihrer Brusttasche zu entwenden. Nun hielt er Ke Zhen’e, der sich mit Giften besser auskannte, ein Fläschchen unter die Nase. »Ist das das Richtige?«

Ke Zhen’e schnupperte. »Ja, das ist zum Einnehmen und zum Auftragen.«

Mei Chaofeng hieb nach dem Sprecher und traf einen Metallstab. Ke Zhen’e hat also mein Gegenmittel! Ihr blieb keine Zeit, darüber nachzudenken, was gerade passiert war, denn nun wurde sie von drei Waffen gleichzeitig angegriffen: Han Baojus Goldener Drachenpeitsche, Quan Jinfas Schnellwaage und Nan Xirens Schulterstange. Während sie sich die drei mit einer Hand vom Leib hielt, zog sie mit der anderen die Weiße Schlangenpeitsche. Eine kalte Klinge schnitt in ihr Handgelenk: Han Xiaoyings Schwert.

Zhu Cong reichte Huang Rong die Medizin. »Gib ihm einen Teil zum Einnehmen, den Rest tu auf die Wunde.« An Guo Jing gewandt sagte er: »Hier, der gehört dir, denke ich.« Er drückte Guo Jing einen kleinen vergoldeten Dolch in die Hand, dann schlug er seinen Fächer auf und sprang den anderen im Kampf gegen Mei Chaofeng bei.

Auf diesen Kampf hatten sich die Sechs Sonderlinge und Mei Chaofeng mehr als eine Dekade lang vorbereitet. Beide Seiten hatten verbissen an ihren Fähigkeiten gearbeitet und waren auf der Höhe ihrer Kampfkunst.

Lu Chengfeng traute seinen Augen nicht. Schwester Chaofeng ist wendiger und unbarmherziger als je zuvor und auch die Sonderlinge machen ihrem Ruf alle Ehre, dachte er bewundernd. »Haltet ein!«, rief er. »Hört mich an!« Aber niemand beachtete ihn. Der Kampf hatte doch gerade erst richtig angefangen!

Es dauerte nicht lange, bis Guo Jings Verstand sich wieder aufhellte. Die Wirkung des Gifts ließ nach der Einnahme des Gegenmittels so schnell nach, wie sie eingesetzt hatte. Nur die Wunden auf der Hand brannten noch. Ihm war nicht bewusst, dass er seine Widerstandsfähigkeit dem Blut von Liang Ziwengs Halysotter zu verdanken hatte. Erst hatte es Ouyang Kes Schlangen von ihm ferngehalten, jetzt hatte es die Ausbreitung von Mei Chaofengs Gift in seinem Körper verlangsamt.

Mit frischer Kraft stürzte sich Guo Jing ins Kampfgetümmel. Er wartete den passenden Augenblick ab. Jetzt wusste er, wie er Mei Chaofengs Gehör überlisten konnte. Langsam, ohne hörbaren Luftzug, zielte er mit der Faust auf sie. Erst kurz bevor er sie berührte, legte er seine volle Kraft in den Hieb.

Hundert Li weit dröhnt der Donner. Der Schlag traf Mei Chaofeng unerwartet und mit solcher Wucht, dass sie sofort schwankte und umfiel. Guo Jing hielt Han Baoju und Nan Xiren von ihr ab. »Lasst sie leben, Meister!« Dann ging er zusammen mit den anderen sechs auf sicheren Abstand.

Mei Chaofeng stand auf und zog mit ihrer Schlangenpeitsche einen Bannkreis um sich. Gegen Guo Jings lautlose Angriffe war sie machtlos. »Betrüger!«, schrie sie.

»Wir werden Euch nichts tun, Mei Chaofeng. Geht!«, rief Guo Jing.

»Gebt mir das Handbuch zurück und ich werde unsere Feindschaft vergessen.« Sie holte die Peitsche ein. »Wenn ich es nicht zurückbekomme, werde ich niemals Ruhe finden. Ich bin blind und kann es nicht lesen. Ich will es meinem gütigen Meister zurückgeben, das ist alles, wonach ich trachte.«

Welch großes Unheil hat sie mit dem Wissen aus dieser Schrift angerichtet!, dachte Zhu Cong grimmig. Wie könnte ich es ihr zurückgeben? Doch im Grunde hatte sie recht. Was sollte eine blinde Frau mit einem Buch anfangen? Als er sie so niedergeschlagen und verloren dastehen sah, gab er sich einen Ruck. »Ist es das hier?«, fragte er und zog verschmitzt das zerfledderte Der wahre Weg der Neun Yin aus der Tasche und trat auf sie zu. »Bitte sehr.« Mei Chaofeng streckte hastig die Hand danach aus.

Plötzlich wirbelte etwas Schwarzes um Mei Chaofeng herum. Niemand hatte bemerkt, dass die geisterhafte Gestalt in der Gelehrtenrobe wiederaufgetaucht war. Sie packte Mei Chaofeng von hinten und trug sie und das Buch mit sich fort, ohne dass sie sich wehren konnte. Nur einen Wimpernschlag später war der hünenhafte Geist mit ihr im Wald außerhalb des Anwesens verschwunden. Starr vor Staunen sahen sich die anderen an. Niemand brachte ein Wort heraus. Nur das sanfte Geräusch der Wellen, die gegen das Ufer des Sees schlugen, war zu hören.

Der Mann hatte Mei Chaofeng nicht einfach an den Kleidern gepackt, sondern sie gleichzeitig an den Nervenpunkten am Rücken gelähmt. Mitten im Wald ließ er sie schließlich zu Boden fallen. »Als der elende alte Drecksack vorhin von meinem Tod geschwafelt hat, hast du auf einmal Rotz und Wasser geheult. War das nur gespielt, oder ist in deinem Herzen immer noch Platz für deinen Meister?«, fragte er.

»Meister!« Mei Chaofeng kroch auf Knien zu ihm, umschlang seine Fußknöchel und schluchzte. »Meister, Ihr lebt und seid wohlauf! Himmel und Erde sei Dank!«

»Dass du es noch wagst, mich Meister zu nennen!«, fuhr Huang Yaoshi sie zornig an.

»Meister, sagt nur ein einziges Wort zu mir, und dann schlagt mich tot. Wenn ich nur einmal wieder Eure Stimme hören darf, kann ich glücklich sterben. Wie sehr habe ich mich gegen Euch versündigt, Meister, gegen Euch und gegen die Frau Meisterin …« Sie streckte sich, legte ihre Hand in seine und ließ den Arm sachte hin und her schwingen, so wie sie es oft als junges Mädchen gemacht hatte, wenn sie ihren Meister um etwas bitten wollte. Er hatte ihr nie etwas abschlagen können.

Augenblicklich wurde Huang Yaoshi warm ums Herz. »Hm«, brummte er sanft.

Überglücklich schlug Mei Chaofeng die Stirn zu einem Kotau nach dem anderen auf und bot ihrem Meister mit ausgestreckten Armen seine Abschrift des Neun-Yin-Handbuchs dar. »Meister, stets habe ich dieses Buch bei mir getragen. Nun bin ich blind und kann es nicht mehr lesen. Von ganzem Herzen bitte ich Euch um Vergebung und gebe es Euch zurück.«

Huang Yaoshi nahm das zerfledderte Buch und steckte es ein. »Der wahre Weg der Neun Yin hat großes Unheil angerichtet«, sagte er dann, jedes Wort mit Bedacht setzend. »Die Kampfkünste, die in diesem zweiten Band der Schrift niedergelegt sind, kann man nur in Zusammenhang mit dem Inhalt des ersten Bands wirklich verstehen. Sie ohne Erläuterungen meistern zu wollen, ist vergebene Mühe und kostet unnötig Kraft. Das konntet ihr nicht wissen, du und Xuanfeng. Ohne den ersten Band ist nichts davon von Wert. Was habt ihr euch gequält, die Neun-Yin-Todesklaue, die Herzbrecherhand, die Weiße Schlangenpeitsche beherrschen zu lernen – nichts davon ist von echtem Nutzen. Denkst du, Xuanfeng hätte sonst durch die Hand eines kleinen Jungen sterben können?«

Sie schlug fortgesetzt die Stirn auf. »Ja, Meister, ja, Ihr habt recht.«

»Sobald du diesen Schüler des alten Bettlerfürsten besiegt hast, wirst du dich aus der Welt des Jianghu zurückziehen. Niemand soll dir wegen deiner blinden Augen übel mitspielen. Mögest du friedlich mit deinem kleinen Bruder Lu Chengfeng auf seinem Anwesen leben.«

Ihr Meister war ihr noch immer zugetan und sorgte sich um sie! Von ihren Gefühlen überwältigt, begann Mei Chaofeng hemmungslos zu schluchzen. »Meister!«, rief sie immer wieder und hängte sich an den Zipfel seiner Gelehrtenrobe. »Meister!«

»Lass uns zurückgehen«, sagte Huang Yaoshi, der fürchtete, allzu sentimental zu werden. Er gab ihr ein paar eindringliche Mahnungen mit auf den Weg, fasste sie unter den Armen und brachte sie zurück zum Wanderwolkenpalast.

Dort herrschte Ratlosigkeit. Alle hatten Mühe zu begreifen, was eigentlich geschehen war. Wie hatte der Mann in der schwarzen Robe Mei Chaofeng so einfach mit sich davontragen können?

Ke Zhen’e fasst sich als Erster. »Im Namen von uns allen bitte ich um Vergebung für den großen Schaden, den unser Schüler an Eurem prächtigen Anwesen angerichtet hat.«

»Aber ich bitte Euch«, entgegnete Lu Chengfeng. »Ohne Euer Erscheinen wäre heute furchtbares Unheil über uns alle hereingebrochen. Ich bin Euch zu endlosem Dank verpflichtet.«

»Gehen wir in die hintere Halle und kommen ein wenig zur Ruhe«, schlug Lu Guanying vor. »Schmerzen deine Wunden noch, Bruder Guo?«

»Ist schon wieder …« Bevor Guo Jing den Satz zu Ende gesprochen hatte, schwebte die geisterhafte Gestalt in der schwarzen Gelehrtenrobe wieder in den Garten. Sie trug Mei Chaofeng mit sich.

Mei Chaofeng legte die Handflächen zusammen und verbeugte sich vor Guo Jing. »Du hast mich mit den achtzehn drachenbezwingenden Händen geschlagen, die du von Bettlerfürst Hong gelernt hast, Junge. Da ich blind bin, konnte ich mich nicht wehren. Ich habe nicht mehr lange zu leben, und Sieg oder Niederlage interessieren mich nicht. Aber wie könnte ich zulassen, dass im Jianghu das Wort die Runde macht, ich hätte mich vom Schüler des alten Bettlers besiegen lassen und damit meinem Meister, dem Herrn der Pfirsichblüteninsel, Schande gemacht? Also her mit dir. Wir kämpfen noch einmal.«

»Ich war nie ein ebenbürtiger Gegner für Euch. Allein weil ich Eure Blindheit für mich ausgenutzt habe, bin ich mit dem Leben davongekommen. Ich habe meine Niederlage längst eingestanden.«

»Es sind achtzehn drachenbezwingende Hände, warum hast du nicht alle eingesetzt?«

»Weil ich zu dumm dafür bin …« Guo Jing sah, wie Huang Rong ihm wild gestikulierend zu verstehen geben wollte, dass er nicht alles verraten solle, aber er entschied sich, die Wahrheit zu sagen. »Fürst Hong hat mir nur fünfzehn Schläge beigebracht, denn ich bin nicht sein Schüler, und er ist nicht mein Meister.«

»Aha … du hast also nur fünfzehn Schläge gelernt und mich trotzdem bezwungen. Ist dieser alte Bettlerfürst wirklich so gut? Unmöglich, wir müssen noch einmal kämpfen.«

Die Runde horchte auf. Demnach ging es Mei Chaofeng nun nicht mehr um Rache, sondern darum, das Ansehen ihres Meisters zu verteidigen.

»Ich komme nicht einmal gegen Schwester Huang Rongs Kung-Fu an, obwohl sie noch so jung ist. Wie könnte ich dann gegen Euch bestehen? Ich habe großen Respekt vor der hohen Kampfkunst der Schule der Pfirsichblüteninsel.«

»Warum hörst du nicht endlich auf, Schwester Chaofeng? Wer auf der ganzen Welt könnte meinem Vater das Wasser reichen?«, mischte sich jetzt Huang Rong ein.

»Nein. Wir müssen noch einmal kämpfen!«

Mei Chaofeng schritt kurzerhand zur Tat, holte aus und ließ ihre Hand durch die Luft zischen. Guo Jing hatte keine Wahl. »Wenn das so ist, so will ich gern von Meisterin Mei lernen.«

»Kämpfe lautlos, wie eben«, verlangte Mei Chaofeng. Drohend blitzten ihre Krallen auf. »Wenn du Wind machst, bist du kein ebenbürtiger Gegner mehr.«

Guo Jing ging auf Abstand. »Nein, das geht nicht. Auch mein Erster Meister ist blind und mir wäre jeder zutiefst verhasst, der sich diesen Nachteil unehrenhaft zunutze machte. Wie könnte ich mich dann Euch gegenüber so verhalten? Eben war ich durch Euer Gift geschwächt. Es hat meine Bewegungen verlangsamt, nur deshalb habt Ihr mich nicht gehört. Es ging um Leben und Tod, und die lautlosen Schläge haben mich gerettet. Es ziemt sich nicht, in einem gerechten Wettkampf nicht mit offenen Waffen zu kämpfen. Ich kann Eurer Forderung nicht nachkommen.«

Dieser Bursche ist gar nicht so übel, dachte Mei Chaofeng, aber sie blieb bei ihrem harschen Ton. »Ich habe gesagt, dass du lautlos kämpfen sollst, weil ich weiß, wie ich trotzdem mit dir fertig werde. Also spar dir dein Gesülze.«

Guo Jings Blick fiel auf die Gestalt in der Gelehrtenrobe. Ob er ihr gerade eben beigebracht hatte, wie sie ihn besiegen konnte? Jedenfalls war sie unerbittlich. Er sah keine Möglichkeit, sich aus der Affäre zu ziehen. »Gut. Wenn Meisterin Mei mir fünfzehn Formen zeigen möchte, wird es mir eine Ehre sein.«

Guo Jing hoffte, seine fünfzehn Drachenbezwingenden Hände würden ausreichen, um zu überleben. Er wich ein paar Schritte zurück, schlich sich auf Zehenspitzen wieder an und streckte langsam den Arm aus. Da hörte er ein undeutliches Zischen, das er nicht orten konnte. Mei Chaofeng hatte ihr Handgelenk zu einem Schnapphaken verdreht. Ihr Arm schoss auf ihn zu. Er hätte schwören können, dass ihre Augen in der Dämmerung leuchteten, als könnte sie sehen.

Erschrocken zog er die linke Faust zurück, schlüpfte unter ihrem Arm hindurch auf ihre linke Seite und setzte zu Den großen Strom durchwaten an. Ein Zischen. Obwohl er keinen Laut von sich gab, schnellte schon wieder Mei Chaofengs Hand durch die Luft. Nur knapp entkam er einem Fäusteregen, der direkt auf seinen Kopf zielte. Wie kann sie wissen, wo ich bin und sogar meine Schläge vorausahnen?

Jetzt war Guo Jings Ehrgeiz erwacht. Er sprang zurück und sammelte sich für seinen Meisterschlag. Die Reue des stolzen Drachen. Ein Zischen. Mei Chaofengs stahlharte Klauenhand schnappte nach seinem Handgelenk.

Inzwischen war sich Guo Jing sicher, dass es dieses Zischen war, das sie warnte. Bevor er zum vierten Schlag ansetzte, warf er einen Blick auf den geisterhaften Fremden und sah, wie die Gestalt in der schwarzen Gelehrtenrobe mit einem Fingerschnippen einen winzigen Kiesel durch die Luft schießen ließ. Damit zeigt er ihr die Richtung an, in die ich mich bewege! Aber wie kann er meine Formen voraussehen? Guo Jing beschloss, bis zum fünfzehnten Angriff durchzuhalten und sofort danach seine Niederlage einzugestehen.

Guo Jing hatte die fünfzehn Schläge nun schon so oft durchexerziert, dass Mei Chaofeng die Abfolge inzwischen auswendig konnte.

Der geisterhafte Fremde schnippte drei kleine Kiesel hintereinander durch die Luft, und Mei Chaofeng ging unvermittelt zum Angriff über. Sie ließ drei ihrer tödlichen Formen aufeinanderfolgen, dass die Luft vibrierte. Guo Jing wand sich tapfer unter den Attacken hindurch und antwortete mit zwei Faustschlägen.

Der Kampf wurde immer erbitterter. Zischen. Ein kleiner Kiesel nach dem anderen schoss durch die Luft. Huang Rong war die Sache zu brenzlig geworden. Kurzerhand las sie Erdklumpen vom Boden auf und schleuderte sie wild in die Luft, gegen die Kiesel des Fremden in der schwarzen Robe oder einfach irgendwohin, um Mei Chaofeng zu verwirren. Als Antwort darauf produzierte das Fingerschnippen des Fremden nun ein schrilles Pfeifen. Seine Kiesel sprengten Huang Rongs Erdklumpen und ließen sich nicht von ihrem Weg abbringen.

Die Sechs Sonderlinge und alle anderen, die etwas von Kampfkunst verstanden, machten große Augen. Wie kann dieser Mann so viel Energie in ein bloßes Fingerschnippen legen? Nicht einmal mit einer Steinschleuder sind solche Töne und solche Präzision möglich!

Huang Rong ließ die Hände sinken und starrte ungläubig den Mann in der schwarzen Gelehrtenrobe an. Guo Jing war jetzt klar im Nachteil. Mei Chaofeng trieb ihn gnadenlos mit tödlichen Angriffen vor sich her.

Zischen. Wieder schoss ein kleiner Kiesel mit enormer Geschwindigkeit durch die Luft. Ein weiterer folgte und stieß so heftig mit dem ersten zusammen, dass Funken sprühten und die Steinchen zu Staub zerbarsten.

Mei Chaofeng stürzte sich wie eine Besessene auf Guo Jing. Er konnte ihr nichts mehr entgegensetzen. Alles, was ihm noch einfiel, war Nan Xirens alter Ratschlag: Wenn nichts mehr hilft, lauf weg!

»Vater!« Huang Rong rannte plötzlich auf den Mann in der schwarzen Gelehrtenrobe zu, warf sich an seine Brust und weinte. »Vater! Was ist mit deinem Gesicht …? Was ist passiert?«

Mei Chaofeng hielt inne und lauschte.

Jetzt oder nie! Langsam, ganz langsam fuhr Guo Jings rechte Hand nach vorn. Erst als sie Mei Chaofengs Schulter berührte, legte er alle Kraft in den Schlag, ohne etwas davon zurückzubehalten. Unverzüglich ließ er den gleichen Handkantenschlag gegen ihre rechte Schulter folgen. Mei Chaofeng wurde durch die Wucht der beiden Hiebe in einem Rückwärtssalto nach hinten geschleudert und blieb reglos auf dem Boden liegen.

Bei Huang Rongs Aufschrei war Lu Chengfeng freudestrahlend aus seinem Stuhl hochgeschossen. Einen Augenblick lang hatte er seine verkrüppelten Beine vergessen. Gleichwohl kippte er sofort vornüber um.

Der geisterhafte Fremde in der schwarzen Gelehrtenrobe umfasste Huang Rong mit seinem linken Arm, während er sich mit der rechten Hand die Maske herunterriss, der er seine gruselige Totenfratze verdankte. Darunter kamen die feinen Gesichtszüge eines gut aussehenden Herrn zum Vorschein. Mit einem Schrei riss sie ihm die Maske aus der Hand und legte sie grinsend über ihr eigenes, tränenüberströmtes Gesicht.

»Was führt dich hierher, Vater? Warum hast du es diesem alten Dreckskerl namens Qiu nicht gezeigt, als er dich vorhin für tot erklärt hat?«

»Was mich hierherführt? Du natürlich!«, sagte Huang Yaoshi mit großem Ernst.

»Hast du vollbracht, was du dir vorgenommen hast? Wie schön!« Freudig klatschte sie in die Hände.

»Nein, habe ich nicht. Ich habe mein Wort gebrochen, um dich freches Kind zu finden, sonst gar nichts.«

Sein strenger Ernst dämpfte Huang Rongs Freude. Sie wusste, wie schwer der Diebstahl des Neun-Yin-Handbuchs durch Mei Chaofeng und Chen Xuanfeng auf ihm gelastet hatte. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, sich mithilfe seines eigenen Verstands auf der Grundlage des ersten Bands auch das Kung-Fu des zweiten Bands zu erschließen. Hatte nicht ein gewöhnlicher Sterblicher diese Schrift verfasst? Warum sollten dessen Erkenntnisse ihm, Huang Yaoshi, dem Ketzer des Ostens, verschlossen bleiben? Wenn es mir nicht aus eigener Kraft gelingt, auch die im zweiten Band beschriebene Kampfkunst zu vollenden, will ich die Pfirsichblüteninsel nie wieder verlassen!, hatte er sich geschworen. Und nun hatte er seiner ungehorsamen Tochter wegen seinen Schwur gebrochen. Huang Rong hatte ein schlechtes Gewissen. »Von jetzt an will ich immer auf dich hören, Vater, das verspreche ich.« Sie strahlte ihn an.

In Wahrheit war Huang Yaoshi überglücklich, sein geliebtes Kind unbeschadet wiedergefunden zu haben. Ihre Worte ließen seinen Ärger vergessen. »Geh, hilf deiner Schwester Chaofeng!«

Huang Rong half Mei Chaofeng auf die Beine. Lu Chengfeng trat, auf seinen Sohn gestützt, auf seinen Meister zu. Beide fielen nebeneinander vor ihm auf die Knie. Mei Chaofeng kniete sich daneben. Die beiden Jünger der Schule der Pfirsichblüteninsel weinten Freudentränen.

Huang Yaoshi seufzte. »Ich freue mich, dich zu sehen, Chengfeng. Ich war damals zu voreilig und habe dir unrecht getan.«

»Geht es Euch gut, Meister?«

»Noch hat mich der Zorn nicht ins Grab gebracht.«

»Du redest nicht von mir, oder?«, sagte Huang Rong kichernd.

»Du hast deinen Anteil daran«, schnaubte Huang Yaoshi.

Huang Rong streckte ihm die Zunge heraus. »Darf ich dir ein paar Freunde vorstellen, Vater? Das hier sind die berühmten sechs Helden des Südens, Bruder Guo Jings Meister.«

Huang Yaoshi würdigte die Sonderlinge keines Blicks. »Ich bin nicht hier, um neue Bekanntschaften zu schließen.«

Seine Arroganz war eine Beleidigung. Die Sechs Sonderlinge kochten innerlich vor Wut. Nur der Gedanke an sein geradezu magisches Kung-Fu, das er soeben an den Tag gelegt hatte, ließ sie nicht die Beherrschung verlieren.

»Musst du noch packen, mein Kind?«, fragte Huang Yaoshi Huang Rong. »Wir gehen nach Hause.«

»Nein, ich habe kein Gepäck. Aber es gibt etwas, das ich seinem Besitzer zurückgeben sollte.« Sie zog die Dose mit den Pillen Tautropfen von neun Blüten hervor und reichte sie Lu Chengfeng. »Bitte, Bruder Chengfeng. Diese Pillen herzustellen ist ausgesprochen mühsam. Ich brauche sie nicht.«

Lu Chengfeng winkte höflich ab. »Für mich gibt es kein schöneres Geschenk, als meinen Meister wiederzusehen. Es wäre mir eine Freude, wenn Ihr ein paar Tage bei mir …«

Ohne auf ihn einzugehen, deutete Huang Yaoshi auf Lu Guanying: »Ist das dein Sohn?«

»Ja, Meister.«

Lu Guanying machte einen vierfachen Kotau vor dem Meister seines Vaters. »Verehrter Großmeister!«

Huang Yaoshi brummte etwas. Statt Lu Guanying aufzuhelfen, zog er ihn mit der linken Hand am Kragen hoch und versetzte ihm mit der rechten einen Stoß gegen die Schulter.

Lu Chengfeng schrie erschrocken auf. »Das ist mein einziger Sohn, Meister, ich …«

Es war kein leichter Stoß gewesen. Lu Guanying stolperte ein paar Schritte rückwärts und fiel um. Dann rappelte er sich benommen wieder auf. Er war unverletzt.

»Gut so, ich sehe, dass du ihm nichts von deinem Kung-Fu beigebracht hast. Er ist ein Schüler der Schule der Unsterblichen Abendwolken, richtig?«

Natürlich, dachte Lu Chengfeng. Sein Meister hatte nur sehen wollen, welchen Kampfkunststil sein Sohn beherrschte. »Niemals würde ich es wagen, Eure Regeln zu brechen, Meister, und das Kung-Fu, das ich von Euch gelernt habe, ohne Eure Erlaubnis weitergeben. Nicht einmal an meinen eigenen Sohn. Er ist ein Schüler von Meister Kumu von der Schule der Unsterblichen Abendwolken, das ist richtig.«

»Meister? Kumu ist ein Stümper, sein Zweig des Shaolin-Kung-Fu ist keinen Bambusschößling wert. Was du kannst, ist hundertmal besser als das. Von heute an wirst du deinen Sohn selbst unterrichten.«

Lu Chengfeng war überglücklich. »Komm her, Guanying, und bedanke dich bei Meister Huang für seine große Gnade!«

Lu Guanying machte noch einmal vier Kotaus vor Huang Yaoshi. Der Herr der Pfirsichblüteninsel schenkte ihm keine Beachtung.

Jahrelang hatte Lu Chengfeng frustriert die dürftigen Fortschritte der Kampfkunst seines Sohns beobachtet. Zu gern hätte er ihm die richtige Richtung gewiesen. Obwohl er schon seit vielen Jahren nicht mehr gehen konnte, war er mit Armen und Händen noch immer geschickt und hätte viel Kampfkunstwissen weiterzugeben gehabt. Aber er hatte das alles stets vor seiner Familie verborgen, damit sein Sohn nicht auf die Idee kam, ihn um Unterricht zu bitten. Und jetzt hatte sein geliebter Meister ihm nicht nur verziehen, er hatte ihm obendrein erlaubt, sein bislang verborgenes Wissen mit seinem Sohn zu teilen. Endlich würde aus dem jungen Mann ein würdiger Kämpfer werden. Lu Chengfeng wollte seinem Meister tausendfach danken, aber seine Kehle war vor Rührung wie zugeschnürt.

Huang Yaoshi verdrehte die Augen. Er hatte für Sentimentalität nichts übrig. »Hier, das ist für dich.«

Ein leichter Wink seiner Hand und zwei weiße Papierfetzen schwebten hintereinander auf Lu Chengfeng zu. Er stand bestimmt fünf Schritte von Lu Chengfeng entfernt, doch das Papier flog so zielgerichtet auf ihn zu, als würde es vom Wind getragen. Um ein dünnes Stück Papier scheinbar mühelos über einige Entfernung zu bewegen, bedurfte es eines weitaus mächtigeren Kung-Fu als zum Werfen eines hundert Pfund schweren Steins. Alle sahen staunend zu.

»Was hältst du vom Kung-Fu meines Vaters?«, flüsterte Huang Rong Guo Jing stolz ins Ohr.

»Das ist Zauberei!« Guo Jing war hingerissen. »Wenn du wieder zu Hause bist, musst du ein bisschen ernsthafter werden und unbedingt mehr von ihm lernen, Rong.«

»Du kommst doch mit, oder?«

»Ich werde zuerst meine Meister begleiten … aber ich komme dich besuchen!«

»Nein! Das geht nicht. Wir müssen zusammenbleiben!«

Guo Jing schwieg. Schweren Herzens hatte er eingesehen, dass er und Huang Rong getrennte Wege gehen mussten.

Lu Chengfeng fing die Papierfetzen auf. Sofort sah er, dass sie beschrieben waren. Lu Guanying ließ eine Fackel bringen, damit sein Vater die Zeichen entziffern konnte. Auf einen Blick erkannte dieser die Handschrift seines Meisters, energischer und kräftiger als je zuvor. Es handelte sich um ein Traktat über die Kampfkunst. Auf der ersten Seite stand die Überschrift: Die Kunst des Wirbelnden Fußtritts. Zusammen mit dem Pfirsichblütenregen gehörte diese Kunst zu den größten Erfindungen Huang Yaoshis, die er jedoch keinem seiner sechs Schüler beigebracht hatte. Wie gern hätte er sie in jungen Jahren von seinem Meister gelernt! Für Lu Chengfeng selbst kamen Fußtritte nicht mehr infrage, aber immerhin durfte er sie seinem Sohn vermitteln. Sorgfältig und mit der gebotenen Hochachtung faltete er das Papier und verstaute es in seiner Brusttasche. Dann verneigte er sich abermals vor Huang Yaoshi.

»Diese Art des Fußtritts unterscheidet sich von der, die du von früher kennst. Die Formen sind dieselben, aber diese Kunst beginnt mit der Arbeit am inneren Kung-Fu«, erklärte Huang Yaoshi. »Wenn du gemäß meiner Anleitung meditierst und dein Neigong kultivierst, wirst du an innerer Kraft gewinnen. Wenn du schnell Fortschritte machst, wirst du schon in fünf bis sechs Jahren wieder ohne Krücken gehen. Mag sein, dass deine Beine nicht so weit verheilen, dass du wieder mit dem Einsatz der unteren Körperhälfte kämpfen kannst, aber wenn du dich an meine Anleitung hältst, solltest du bald wieder gehen können …«

Huang Yaoshi hatte bald bereut, dass er damals in unbändigem Jähzorn seinen unschuldigen vier Schülern die Beine gebrochen und sie von der Insel verbannt hatte. Seither hatte er viel Zeit darauf verwendet, eine Anleitung zur Heilung ihrer Gehbehinderung durch Neigong zu erstellen. Da der Ketzer des Ostens viel zu stolz war, einen Fehler einzugestehen, hatte er seine eigens entwickelte Anleitung nach einem bestehenden Traktat benannt, mit dem sie eigentlich nichts zu tun hatte. »Geh und suche nach deinem älteren Bruder Qu Lingfeng und deinen jüngeren Brüdern Wu Baifeng und Feng Qianfeng, und teile dein Wissen mit ihnen.«

»Gewiss …«, antwortete Lu Chengfeng. »Von Bruder Lingfeng und Bruder Qianfeng habe ich schon lange nichts mehr gehört. Bruder Baifeng ist vor einigen Jahren gestorben.«

Huang Yaoshi hatte davon nichts gewusst. Er wollte sich nicht anmerken lassen, wie sehr ihn diese Nachricht schmerzte. Sein stechender Blick fiel auf Mei Chaofeng. Sie selbst konnte es nicht sehen, aber das Blitzen seiner Adleraugen fuhr allen anderen durch Mark und Bein.

»Du hast viel Unheil angerichtet, Mei Chaofeng, aber du hast auch viel gelitten. Du bist zwar blind, doch kaum einer wird es wagen, sich mit einer Schülerin des Ketzers Huang anzulegen, solange du dich anständig benimmst.«

Mei Chaofeng begriff, dass sie mit diesen Worten die öffentliche Wiederherstellung ihres Rangs einer Schülerin der Pfirsichblüteninsel bedeuteten. Sie weinte vor Glück.

»Bleib bei deinem Bruder Chengfeng im Wanderwolkenpalast, er wird für dich sorgen«, fügte Huang Yaoshi hinzu. Seine beiden Schüler dankten ihm mit einer Stimme.

»Wenn ich Euch hereinbitten dürfte!«, sagte Lu Guanying und bot Mei Chaofeng seinen Arm. »Meine Mutter wird sich freuen, Euch zu empfangen und zu bewirten.«

»Dürfte ich Euch ebenfalls hereinbitten, Meister?«, fragte Lu Chengfeng.

Ohne ihn zu beachten, ließ Huang Yaoshi seine Adleraugen über die Anwesenden schweifen. Sein Blick blieb an Guo Jing hängen. »Dein Name ist Guo Jing?«

»So ist es, mein Herr.« Guo Jing machte einen Kotau.

»Du warst es, der meinen Schüler Xuanfeng getötet hat? Du musst ausgesprochen talentiert sein.«

Guo Jing zuckte zusammen. »Damals war ich noch ein unwissendes Kind. Euer Schüler hatte mich gefangen, und ich habe ihn aus Panik verwundet. Es war keine Absicht.«

Huang Yaoshi schnaubte verächtlich. »Chen Xuanfeng hat unsere Schule verraten. Es hätte einem von uns gebührt, mit ihm abzurechnen. Als ob wir das einem Außenstehenden überlassen müssten!«

»Er war erst sechs Jahre alt, Vater!«, rief Huang Rong.

»Der Alte Bettler Hong hat noch nie einen Schüler angenommen«, fuhr Huang Yaoshi ungerührt fort, »aber dir hat er fünfzehn seiner achtzehn drachenbezwingenden Hände beigebracht. Du musst etwas Besonderes sein. Oder verstehst du dich so gut auf Schmeicheleien, dass du ihm sein Wissen auf diese Weise abgeluchst hast? Du hast mit seiner Kampfkunst meine Schülerin besiegt. Pah! Muss ich mir das also unter die Nase reiben lassen, wenn ich dem Alten Bettler das nächste Mal begegne?«

»Sieht er so aus, als verstünde er sich auf Schmeicheleien?«, lachte Huang Rong. »Ich war das! Ich habe Fürst Hong dazu gebracht, es ihm beizubringen. Hör auf, ihn zu drangsalieren!«

Nachdem der Herr der Pfirsichblüteninsel seine Frau verloren hatte, war seine Tochter sein Ein und Alles gewesen. Er hatte ihr keinen Wunsch abschlagen können. Das verwöhnte Mädchen hatte sich immer ungestraft über alle Regeln hinweggesetzt, und als er sie dann ein einziges Mal geschimpft hatte, war sie trotzig davongelaufen. Er hatte sich ausgemalt, sie traurig, abgezehrt und von Heimweh geplagt im Jianghu aufzulesen. Doch stattdessen demonstrierte sie keckes Selbstvertrauen und verteidigte den dahergelaufenen Schüler von sechs Stümpern gegen ihren Vater. Die Eifersucht machte ihn nur noch wütender auf Guo Jing.

»Ich weiß genau, dass der Alte Bettler dir seine Kunst allein deshalb beigebracht hat, um meine Schülerin zu besiegen und mich bloßzustellen, mich zu verhöhnen, weil ich keine Schüler mehr habe und diejenigen, die ich einst hatte, zu nichts nütze sind …«

»Wer sagt denn, dass die Pfirsichblüteninsel keine Schüler hat?«, unterbrach Huang Rong. »Guo Jing hat Schwester Chaofengs Nachteil für sich ausgenutzt. Er hatte einfach Glück! Als wir vor Kurzem in Yanjing waren, war sie ihm so überlegen, dass sie auf seinen Schultern gekämpft hat, als wäre er ein Pferd. Sie hat ihn ganz nach ihrer Pfeife tanzen lassen, das hättest du sehen müssen! Der Alte Bettler hat daran nichts ändern können.« Huang Rong machte sich nichts daraus, die Wahrheit ein bisschen zu verbiegen, um ihren Vater zu überzeugen. »Verbinde ihm die Augen, und lass ihn blind gegen Schwester Chaofeng kämpfen, dann wirst du ja sehen. Ach was, lass mich gegen ihn kämpfen!«

Sie sprang auf und stellte sich vor Guo Jing in Angriffshaltung. »Komm, ich kämpfe mit dem simpelsten Kung-Fu meines Vaters gegen das vielgerühmte Kung-Fu des Alten Bettlers.«

Guo Jing wartete kurz ab, ob Huang Yaoshi etwas einwenden würde, dann ließ er sich auf Huang Rongs Spiel ein. »Ich habe dich noch nie besiegt.«

»Dann los!« Huang Rongs zarte Hand durchschnitt mit einem waagerechten Schlag die Luft, Sturzflut und Sturm, aus der Reihe des Pfirsichblütenregens. Guo Jing konterte mit den drachenbezwingenden Händen, aber wie hätte er gegen seine geliebte Huang Rong die volle Kraft in einen Schlag legen können? Diese Kunst lebte von wuchtigen Hieben, ohne die seine Angriffe dem Variantenreichtum des trommelnden Pfirsichblütenregens nichts entgegenzusetzen hatten. Guo Jing steckte einen schmerzhaften Hieb nach dem anderen ein. Um ihren Vater zu besänftigen, ließ Huang Rong ihrerseits keine Gnade walten. Immerhin wusste sie, dass Guo Jing einiges einstecken konnte. »Du hast verloren, sieh es ein!«, rief sie theatralisch.

»Schluss mit dem Unfug!«

Huang Yaoshis Gesicht war aschfahl geworden. Niemand hatte bemerkt, wie er plötzlich zwischen die Kämpfenden gefahren war. Er packte beide am Kragen, setzte Huang Rong sanft auf der einen Seite ab und schleuderte Guo Jing zur anderen Seite.

Guo Jing flog durch die Luft. Sobald er wieder Boden unter den Füßen hatte, fand er allerdings sofort in einen festen und aufrechten Stand zurück. Wäre er stattdessen auf dem Boden aufgeschlagen und hätte sich dabei die Nase gebrochen und das Gesicht ramponiert, wäre Huang Yaoshi vielleicht zufrieden gewesen. Aber dass er nun ungewollt seine gute Beinarbeit und Standfestigkeit unter Beweis stellen konnte, reizte den Herrn der Pfirsichblüteninsel noch mehr.

»Da ich keine Schüler habe, muss ich dein Kung-Fu wohl persönlich auf die Probe stellen!«, herrschte er Guo Jing an.

Guo Jing machte eine tiefe Verbeugung. »Ein Anfänger wie ich würde niemals wagen, gegen einen Meister wie Euch zu kämpfen.«

»Gegen mich kämpfen?«, höhnte Huang Yaoshi. »So weit kommt es noch, dass ich gegen einen Pimpf wie dich kämpfe. Ich werde reglos hier stehen, und du kannst deine achtzehn drachenbezwingenden Hände auf mich loslassen. Wenn ich auch nur mit der Wimper zucke oder einen kleinen Finger hebe, um mich zu verteidigen, habe ich verloren.«

»Ein Anfänger wie ich wagt nicht …«

»Du wagst, was ich dir sage.«

Nun bleibt mir wohl nichts anderes übrig, sagte sich Guo Jing. Wahrscheinlich wird er meine Energie gegen mich umlenken und mich damit durch die Luft fliegen lassen. Nun gut, wenn die Sache damit ausgestanden ist, soll mir das recht sein.

Dennoch zögerte er. »Los, mach schon, schlag zu, sonst muss ich doch anfangen.« Huang Yaoshi konnte an Guo Jings Blick ablesen, dass er gar nicht so ohne Ehrgeiz war, wie er vorgab. Die Gelegenheit, das eigene Können an einem der wenigen lebenden Großmeister auszuprobieren, hatte man nicht allzu oft.

»Wie könnte ich mich Euren Anweisungen widersetzen.« Guo Jing ging in Angriffsstellung, Knie leicht gebeugt, den Arm angewinkelt. Er ließ die Hand kreisen. Nichts hatte er eifriger geübt als Die Reue des stolzen Drachen. Er legte weniger als seine halbe Kraft in den Schlag. Ihm war weder daran gelegen, Huang Rongs Vater zu verletzen noch durch Umlenkung seiner eigenen Energie selbst zu Schaden zu kommen.

Kaum hatte seine Hand Huang Yaoshis Brust berührt, glitt sie davon ab, als wäre sein Gegenüber mit Öl eingerieben.

»Was soll das? Warum hältst du deine Kraft zurück? Fürchtest du etwa, ich könnte deiner großartigen drachenbezwingenden Hand nicht standhalten?«

Guo Jing murmelte eine Entschuldigung und setzte zum zweiten Schlag an, Sprung über den Abgrund. Bloß keine Kraft zurückhalten, sagte er sich und atmete tief ein. Mit dem Ausatmen schoss seine linke Faust vor, die rechte Faust schoss gleichzeitig unter der linken hindurch und zielte mitten auf Huang Yaoshis Oberbauch.

»Schon besser«, brummte der Großmeister.

Guo Jing hielt seine Kraft zurück, bis er mit den Fingerspitzen die Kleider des Gegners berührte, so, wie es der Bettler ihm beigebracht hatte. Doch genau in dem kurzen Augenblick, in dem er seine volle Energie freisetzte, ohne sie wieder einholen zu können, spannte Huang Yaoshi den Bauch an und sog die Luft ein.

Krachend sprang Guo Jings Handknochen aus dem Gelenk.

Erschrocken fuhr er zurück. Ein entsetzlicher Schmerz durchfuhr ihn, und er konnte die Hand nicht mehr bewegen.

Lege niemals deine ganze Kraft in den Schlag. Das ist die Idee der Reue des stolzen Drachen. Guo Jing hatte die Worte des Bettlerfürsten noch deutlich im Ohr. Wie konnte ich mich verleiten lassen, sie nicht zu beherzigen!

Die Sechs Sonderlinge waren wütend, aber sie konnten Huang Yaoshi nur bewundern. Er hatte Wort gehalten, sich weder bewegt noch zurückgeschlagen, und dabei die Hand ihres Schülers ausgerenkt. Unglaublich.

»Jetzt bin ich dran«, sagte Huang Yaoshi plötzlich. »Damit du den Unterschied lernst zwischen der lausigen Kunst deines Lehrers und der des Meisters der Pfirsichblüteninsel.« Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als schon die Luft vibrierte. Unter Schmerzen wich Guo Jing zurück und duckte sich unter dem drohenden Handkantenschlag weg – doch direkt in den nachfolgenden Fußtritt hinein, der ihn wie am Haken in die Luft hob. Guo Jing schlug bäuchlings auf dem Boden auf.

»Nein, Vater, nicht!« Huang Rong warf sich über Guo Jing.

Aus der nahenden rechten Faust wurde eine Klaue, mit der Huang Yaoshi seine Tochter hochzog und aus dem Weg räumte, während seine linke Hand wie ein Messer nach unten hieb.

Dieser Schlag würde tödlich sein. Die Sechs Sonderlinge stürzten sich alle auf einmal auf Huang Yaoshi – allen voran Quan Jinfa, der mit dem Eisenhaken an seiner Schnellwaage nach dem Handgelenk des Angreifers schlug.

Huang Yaoshi setzte seine Tochter ab, spreizte die Finger beider Hände, packte gleichzeitig Quan Jinfas Schnellwaage und Han Xiaoyings Schwert und kreuzte die Waffen miteinander. Klirrend brachen sie in vier Stücke und fielen zu Boden.

»Meister …!« Lu Chengfeng wollte dazwischenfahren, verstummte aber vor der Autorität seines Meisters.

»Wenn du ihn tötest, wirst du mich nie wiedersehen!« Heulend rannte Huang Rong zum Tai-See und stürzte sich ins Wasser. Die Wellen schlugen über ihr zusammen. Huang Yaoshi wusste zwar, dass seine Tochter eine gute Schwimmerin war. Schon als kleines Kind hatte sie in den hohen Wellen des Ostmeers den ganzen Tag lang mit den Riesenschildkröten gespielt, ohne einen Fuß ans Ufer zu setzen. Der Tai war nur ein See, aber dennoch veranlasste ihn sein besorgtes Vaterherz, ihr nachzulaufen. Er sah nur noch eine lange Furche, die schnurgerade auf den See hinausführte.

Als er sich umwandte, war Zhu Cong gerade dabei, Guo Jings Hand wieder einzurenken. Seine ganze Wut richtete sich jetzt auf die Sonderlinge. »Wenn Ihr sterben wollt, dann bringt Euch auf der Stelle selbst um, denn wenn ich das für Euch tun muss, wird Euer Leid noch viel größer sein.«

»Ein tapferer Mann kennt keine Angst vor dem Tod«, sagte Ke Zhen’e ruhig und hob seinen Eisenstab waagerecht vor die Brust. »Wozu dann das Leid fürchten?«

»Die Sechs Sonderlinge des Südens sind endlich zurück in ihrer Heimat«, fügte Zhu Cong hinzu. »Am Ufer des Tai können wir ohne Reue sterben.« Die sechs bauten sich nebeneinander vor Huang Yaoshi auf, kampfbereit, mit und ohne Waffen.

Das kann ich nicht zulassen, dachte Guo Jing. Schnell rappelte er sich auf und stellte sich vor seine Meister. »Ich war es, der Chen Xuanfeng getötet hat, meine Meister haben nichts damit zu tun. Ich allein will mit meinem Leben dafür geradestehen.«

Oje, Erster Meister, Dritter Meister und Siebte Meisterin sind furchtbar jähzornig, schoss es ihm dann durch den Kopf. Wenn er mich tötet, werden sie mich sofort rächen wollen, und dann werden sie trotzdem alle sterben.

Er streckte den Rücken durch und machte einen Schritt auf Huang Yaoshi zu. »Erst muss ich aber den Tod meines Vaters rächen. Gebt mir dreißig Tage, damit ich meiner Sohnespflicht nachkommen kann. Danach werde ich mich unverzüglich auf der Pfirsichblüteninsel meinem Schicksal stellen.«

Huang Yaoshis Zorn hatte mittlerweile nachgelassen, die Sorge um seine Tochter war stärker. Er hatte keine Lust mehr, sich noch länger mit Guo Jing zu befassen. Mit einer wegwerfenden Handbewegung drehte sich um und verschwand in der Dämmerung.

Die Übrigen sahen einander fassungslos an. Wie konnte es sein, dass Guo Jing seinen erbarmungslosen Widersacher so unverhofft mit nur einem Satz losgeworden war? Wer konnte wissen, welche dämonischen Winkelzüge der Herr der Pfirsichblüteninsel noch aufzubieten hatte?

Lu Chengfeng fand als Erster die Sprache wieder. »Bitte, lasst uns in die hintere Halle gehen.«