»Signor Cavelli, dio mio!«
Donato Cavelli hörte Schwester Felicia, bevor er sie sah. Wie beinahe jeden Nachmittag hatte er einen Spaziergang durch die Vatikanischen Gärten gemacht. Um diese Tageszeit fand er es dort am schönsten, denn dann war er fast allein. Die Touristengruppen, denen man – zu Cavellis großem Bedauern – seit einigen Jahren während des Vormittages Einlass gewährte, waren längst verschwunden, und der Heilige Vater, der gegen fünfzehn Uhr seinen täglichen Rundgang durch den Park zu machen pflegte – geschützt von etlichen für den Papst nicht sichtbaren, aber sehr wohl vorhandenen Sicherheitsbeamten –, war wieder in den Apostolischen Palast zurückgekehrt. Hier und dort arbeitete noch ein Gärtner, und zuweilen begegnete Cavelli auch dem einen oder anderen Kardinal, was das Gefühl der Ruhe und Abgeschiedenheit jedoch eher noch verstärkte. Selbst auf den Kieswegen des in Form von barocken Buchsbaumhecken angelegten sogenannten Giardino Italiana, einem Abschnitt der Gärten, der gerade mal fünfzig Meter von der hohen Mauer entfernt war, welche die Vatikanstadt umschloss, war nur das Plätschern der Springbrunnen und das Zwitschern der Mönchssittiche zu hören. Es war nur mit Mühe vorstellbar, dass jenseits der Mauer der römische Stadtverkehr seine nie endende Kakophonie von Vespageknatter und ungeduldigem Gehupe verströmte.
Cavelli wandte sich um und blickte in die Richtung, aus der er Schwester Felicias Rufen gehört hatte. Der aufgeregte Klang in der Stimme der alten Frau überraschte ihn. Er konnte sich nicht erinnern, wann er in den Gärten das letzte Mal lautes Rufen gehört hatte.
Wie alle seine Vorfahren seit 1513 hatte er sein ganzes Leben im Vatikan gewohnt. Was genau sein Urahn Umberto Cavelli damals für Julius II. getan hatte, darüber gab es verschiedene Theorien, die alle mehr oder weniger blutrünstig waren. Für Cavelli spielte es keine Rolle, das lag schließlich ein halbes Jahrtausend zurück. Entscheidend war nur, dass die Urkunde, welche der Papst seinerzeit ausgestellt hatte und die sicher verwahrt in einem römischen Banksafe lag, nach wie vor gültig war. Cavelli wusste nur zu gut, dass im Vatikan nicht jedermann darüber glücklich war – um es diplomatisch auszudrücken –, einen Mitbewohner dulden zu müssen, der dort weder ein klerikales noch ein weltliches Amt ausübte, denn normalerweise war die vatikanische Staatsbürgerschaft grundsätzlich an ein Amt gebunden. Gab man das Amt auf, verlor man auch die Staatsbürgerschaft.
Aber was war im Vatikan schon normal? Der Vatikan lebte nach eigenen Regeln. Diese waren nicht, wie in den meisten Staaten, vor wenigen Jahrhunderten von einigen privilegierten Männern erdacht und festgelegt worden, sondern sie standen in der direkten und ununterbrochenen Tradition des Apostels Petrus. In zweitausend Jahren hatte sich eines aus dem anderen entwickelt, und so verwinkelt und unübersichtlich, wie der Vatikan mit seinen elftausend Räumen äußerlich war – mindestens ebenso kompliziert war er auch in seinem Inneren; ein hochkomplexer Mechanismus, welcher von niemandem vollständig überblickt werden konnte. Selbst kleinste Veränderungen hätten unabsehbare Folgen haben können. So hatte der Heilige Stuhl beispielsweise niemals den Mönch Savonarola rehabilitiert, welcher den berüchtigten Borgia-Papst Alexander VI. als zu Unrecht auf dem Stuhle Petri sitzend bezeichnet hatte und dafür von diesem zum Tod durch Verbrennen verurteilt worden war – eine Hinrichtungsart, mit der man dem Umstand Achtung erwies, dass die Bibel jegliches Blutvergießen verbot. Zwar entsprach Savonarolas Anschuldigung der Wahrheit, da Alexander sein Amt nur durch Bestechung etlicher Kardinäle erhalten hatte, jedoch würde die heutige Anerkennung dieses Umstands gleichzeitig auch bedeuten, dass die Kardinäle, die von Alexander kreiert wurden, keine rechtmäßigen Kardinäle gewesen wären und dass somit nicht Alessandro Farnese zu Papst Paul III. hätte gewählt werden können, auf dessen Befehl wiederum von 1545 bis 1563 das Konzil von Trient stattfand, bei dem entscheidende und heute noch gültige Beschlüsse für die Katholische Kirche gefasst wurden. Mit der Rehabilitation von Savonarola müssten diese Beschlüsse im Nachhinein für ungültig erklärt werden, und die Tradition der letzten fünfhundert Jahre würde wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen.
Wahrlich eine komplizierte Angelegenheit.
Es hätte daher auch in Cavellis Fall schon eines außerordentlich guten Grundes bedurft, die Urkunde eines früheren Papstes in Zweifel zu ziehen. Bislang hatte niemand einen solchen gefunden. Ja, nicht einmal gesucht hatte man danach, denn selbst dies wäre den meisten schon als Frevel erschienen. Der amtierende Papst selbst hätte natürlich so eine Entscheidung treffen können, zumal, wenn – wie in Cavellis Fall – keine weiteren Folgen zu erwarten wären. Der Papst war der unumschränkte Herrscher über den Vatikanstaat. Absoluter Monarch, Gesetzgeber und oberster Richter in einer Person, er war niemandem auf Erden Rechenschaft schuldig, und seine Entscheidungen waren unanfechtbar. Das gesamte Vermögen des Vatikanstaates war im Moment seiner Wahl in seinen persönlichen Besitz übergegangen. Er war somit der einzige gewählte Diktator der Welt. Wenn es ihm beliebte, hätte er sich mit dem gesamten Vermögen aus dem Staub machen (was Papst Benedikt V. im Jahre 964 auch getan hat) und sich auf den Bahamas ein schönes Leben machen können. Es wäre völlig legal gewesen. Und seine Macht beschränkte sich nicht nur auf den Vatikanstaat in Rom. Keineswegs. Er stand auf dem ganzen Planeten über jedem weltlichen Gesetz, und selbst, wenn er es irgendwo nicht getan hätte – gemäß des alten Grundsatzes »ubi est papa, ibi est roma« befand sich der Papst, wo immer auf der Welt er sich gerade aufhielt, dort auf vatikanischem Boden, und wenn es ihm in den Sinn gekommen wäre, einen Mord zu begehen, hätte er dies vor aller Augen tun können, ohne juristische Konsequenzen fürchten zu müssen.
Auf der anderen Seite jedoch war der Papst ein Gefangener der Tradition. Seit dem fünften Jahrhundert galt in der Katholischen Kirche der Grundsatz, dass nur geglaubt werden durfte, was »quod ubique, quod semper, quod ab omnibus creditum est«, also »was überall, immer, von allen geglaubt worden ist«, und das schränkte die päpstliche Entscheidungsgewalt im Bezug auf Neuerungen in hohem Maße ein. Auch sah er sich durch den Umstand behindert, dass seine eigene Unantastbarkeit auf der Unantastbarkeit seiner Vorgänger fußte. Sollte er Entscheidungen eines seiner Vorgänger als falsch bezeichnen, so wären seine eigenen Entscheidungen ebenfalls nicht mehr über jeden Zweifel erhaben.
Aus all diesen Gründen dauerte es sehr lange, bis sich im Vatikan irgendetwas – und sei es die unbedeutendste Kleinigkeit – änderte. Man dachte hier nicht in Tagen oder Monaten, nicht mal in Jahrzehnten. Man dachte in Jahrhunderten und Jahrtausenden.
So sehr Cavelli manchem ein Dorn im Auge war, seine Anwesenheit war dennoch ein Mosaiksteinchen der jahrhundertealten Tradition und immer noch besser als das, was man mehr als alles andere fürchtete: Veränderung.
Aber schließlich gab es auch weniger direkte, elegantere Wege, die man beschreiten konnte, um ein gewünschtes Ziel zu erreichen. Mehr als einmal hatte man Cavelli durchaus verlockende Angebote gemacht, ihm eine Villa extra muros – also außerhalb der Mauern – zu schenken, wobei die angebotenen Objekte von Mal zu Mal prächtiger geworden waren, aber jedes Mal hatte er ohne Zögern abgelehnt und würde dies auch – höflich, aber unmissverständlich – in Zukunft tun. Er liebte dieses Leben. Er war jetzt Anfang vierzig und immer noch ziemlich gut in Form, was er durch Zehn-Kilometer-Läufe entlang des Tibers alle zwei Tage und auch – seit kurzem – durch den völligen Verzicht auf Zucker bewerkstelligte. Gelegentlich wurde er von Menschen auf der Straße angesprochen, die glaubten, ihn aus dem Fernsehen zu kennen. Lange hatte ihn das irritiert, zumal er selbst seinen Fernseher schon vor Jahren abgeschafft hatte und daher auch nicht wusste, was darin vor sich ging, bis sich irgendwann herausgestellt hatte, dass man ihn mit einem französischen Filmschauspieler namens Gérard Philipe verwechselte. Cavelli hatte sich daraufhin Fotos von Philipe angesehen und musste zugeben, dass diese Verwechslungen – abgesehen davon, dass Gérard Philipe schon lange tot war – eine gewisse Berechtigung hatten.
Da die Geldsumme, die Urahn Umberto vor fünf Jahrhunderten überreicht worden war, inzwischen durch Zins und Zinseszins Cavellis Konto beim IOR, dem Istitute per le Opere di Religione – also dem Institut für religiöse Werke, besser bekannt als Vatikanbank –, auf eine buchstäblich astronomische Höhe angewachsen war, würde er sich, genau wie alle seine Vor- und Nachfahren, um materielle Dinge niemals Sorgen machen müssen und konnte sich daher ganz seinen persönlichen Interessen widmen, die hauptsächlich in ausgedehnten Reisen und einer Forschungsarbeit bestand, die sein Großvater begonnen und sein Vater übernommen hatte: eine vollständige Geschichte des Papsttums. Cavelli führte ihr Werk nun seit neun Jahren fort und befand sich inzwischen in der Arbeit zu Band 14. Gelegentlich fragte man ihn, ob es nicht seltsam sei, wo er doch schon im Vatikan wohne, auch noch darüber zu forschen, aber Cavelli zog dann stets überrascht die Augenbrauen hoch und antwortete, dass es auch nicht seltsamer sei, als wenn ein Franzose die Geschichte Frankreichs erforschte. Zumal er aufgrund seiner speziellen Lebenssituationen einen viel besseren Einblick hatte, als Historiker von außerhalb des Vatikans je hätten gewinnen können. Cavelli arbeitete für gewöhnlich sechs Stunden am Tag. Vier Stunden davon widmete er seiner eigenen Forschung, nämlich den Pontifikaten zwischen der Gegenwart und Alexander VIII., der sein Amt 1689 angetreten hatte.
Zwar wurden die geheimen Archive der Päpste üblicherweise erst mehrere Jahrzehnte nach deren Tod für die Forschung geöffnet – zurzeit bis einschließlich Pius XII. –, aber Cavelli war von dieser Regelung nicht betroffen. Auch im Geheimen Archiv hatte er unbeschränkten Zugang, was ihm gegenüber seinen Kollegen einen gewaltigen und allseits geneideten Vorteil verschaffte. Die übrigen zwei Stunden seiner täglichen Arbeitszeit widmete er der Überarbeitung der Texte seines Vaters und seines Großvaters, wobei es inhaltlich nicht allzu viel zu ändern gab, da man, je weiter man in der Zeit zurückging, desto weniger über die damaligen Päpste in Erfahrung bringen konnte, aber der Blickwinkel seines Vaters und mehr noch der seines Großvaters hatte über weite Strecken mehr katholische als wissenschaftliche Züge gehabt.
Zudem hielt er zweimal pro Woche als Gastdozent Vorlesungen über sein Fachgebiet an der La Sapienza, der ältesten Universität Roms. Er ließ sich dafür nur ein symbolisches Gehalt von einem Euro auszahlen, da er keine Lust verspürte, sich auch nur einen Fußbreit in die Welt der italienischen Steuerbehörden zu begeben. Das war ein weiterer Vorteil, wenn man im Vatikan lebte, denn hier war alles steuerfrei. Wenn man ihn fragte, warum er überhaupt unterrichte, da er nichts damit verdiene, erklärte er immer, dass er von seinen Studenten mehr lerne als sie von ihm. Manche Leute lachten dann, weil sie es für einen Scherz hielten, aber es war keiner. Die Diskussionen mit seinen Studenten – er selbst traf eine genaue Auswahl, wer an seinen Seminaren teilnehmen durfte – halfen ihm, seine Gedanken zu ordnen.
»Signor Cavelli!«
Beunruhigt sah Cavelli Schwester Felicia entgegen, die ihn jetzt fast erreicht hatte. Felicia war die Oberschwester der Ordensfrauen von Mater Ecclesiae, einem Kloster, das Papst Johannes Paul II. in den Vatikanischen Gärten hatte einrichten lassen. Die einzige Aufgabe der Schwestern bestand in andauernder Fürbitte und Gebet für den Papst und die Kurie. Ein Leben in Ruhe und Kontemplation. Doch in diesem Moment schien Schwester Felicia völlig außer sich zu sein. Atemlos zerrte sie Cavelli am Ärmel seines Jacketts. »Wissen Sie denn nicht, was geschehen ist?«
Cavelli schüttelte den Kopf. Eine unbestimmte Ahnung sagte ihm, dass er es nicht wissen wollte.
»Seine Eminenz Kardinal Fontana, er ... er ist ...« Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie Cavelli ins Gesicht, unfähig, ein weiteres Wort hervorzubringen.