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Kardinal Fontana wurde zwei Tage später auf Roms größtem Friedhof beigesetzt – dem Campo Verano in der Nähe der Pilgerkirche San Lorenzo fuori le mura. Hier wurden traditionsgemäß alle verstorbenen Kardinäle beerdigt. Aber auch viele andere bedeutende Persönlichkeiten von Garibaldi bis zu Sergio Leone hatten hier ihre letzte Ruhestätte gefunden.

Cavelli hatte Tag und Uhrzeit der Zeremonie aus der Zeitung in Erfahrung bringen müssen, eine Einladung hatte er nicht erhalten. Sicher, er hatte keine offizielle Funktion innerhalb des Vatikans, andererseits war es kein Geheimnis, dass er und Kardinal Fontana Freunde gewesen waren, aber so liefen nun mal die kleinen Spielchen des Kurienapparats. Auch ohne, dass man etwas tat, ließen sich deutliche Botschaften senden. Cavelli hatte im Laufe der Jahre gelernt, über dergleichen hinwegzusehen. Wichtig war nur, dass er hier war.

Der Andrang der Trauergäste ging weit über das hinaus, was die Friedhofskapelle aufnehmen konnte, und so hatte man entschieden, die Zeremonie ans offene Grab zu verlegen. Die Menschenmenge, die sich hier eingefunden hatte, war in der Tat eindrucksvoll. Cavelli schätzte die Zahl der Gäste auf über vierhundert.

Sämtliche Kurienkardinäle und viele Kardinäle aus ganz Europa waren erschienen, und sogar einige Eminenzen aus Nord- und Südamerika und aus Afrika, erkannte Cavelli.

Einen asiatischen Kardinal vermochte er nicht zu entdecken, was, wie er vermutete, wohl einerseits an der großen Entfernung zu Rom lag, aber möglicherweise auch daran, dass eine Reihe der asiatischen Kardinäle, die aus Ländern kamen, in denen Christen vom Staat verfolgt wurden, vom Papst nur in pectore ernannt worden waren – also im Herzen. Nur sie selbst und der Papst wussten, dass sie Kardinäle waren. Der Heilige Vater gab in solchen Fällen nur bekannt, dass er einen Kardinal in pectore ernannt hatte, und erst wenn – oder falls – sich die politischen Umstände in dem entsprechenden Land verbesserten, wurde die Ernennung der Öffentlichkeit verkündet. Starb der Papst vorher, blieb sie auf ewig geheim.

Cavelli bedauerte, nicht früher gekommen zu sein. Nun musste er sich mit einem Platz ganz hinten begnügen und verstand kaum ein Wort von der Grabrede des Kardinaldekans, dessen müdes Bernhardinergesicht heute noch trauriger aussah als sonst. Cavellis Gedanken begannen, eigene Wege zu wandern.

Was war nur mit Eduardo Fontana geschehen? Was hatte ihn veranlasst, in die israelische Wüste zu fahren? Cavelli versuchte, sich die letzten Treffen mit Fontana ins Gedächtnis zu rufen. Hatte der Kardinal ihm gegenüber irgendeine Andeutung gemacht, die ihm damals bedeutungslos erschienen war? Cavelli konnte sich an nichts dergleichen erinnern. Allerdings, wenn er jetzt darüber nachdachte, wurde ihm bewusst, dass der Kardinal in den letzten zwei Wochen sehr viel in sich gekehrter gewirkt hatte als sonst. Kurz zuvor hatte er seine Schwester in den Vereinigten Staaten besucht. War dort irgendetwas vorgefallen? Von dieser Reise war er jedenfalls irgendwie verändert zurückgekommen.

Er war so freundlich und warmherzig wie immer gewesen, aber er hatte seinen Humor verloren und wirkte irgendwie zerstreut, als wenn er nicht ganz da wäre. Cavelli hatte nicht nachgefragt, weil er den Kardinal nicht bedrängen wollte; jetzt bereute er diese falsche Rücksichtnahme.

Hätte er das Unglück irgendwie verhindern können? Cavelli schüttelte, ohne es zu merken, den Kopf. Es hatte keinen Sinn, darüber nachzugrübeln. Er versuchte, sich wieder auf die Rede des Kardinaldekans zu konzentrieren, aber es war hoffnungslos. Er stand einfach zu weit hinten, und nur dann und wann wehte der Wind einzelne Satzfetzen zu ihm herüber.

Plötzlich kam Bewegung in die Menge. Offenbar war die Rede beendet, und nun trat man ans offene Grab, um dem Kardinal die letzte Ehre zu erweisen.

Cavelli fiel eine zierliche Frau auf, die ihn ein bisschen an die junge Geraldine Chaplin erinnerte und die länger am Grab stehen blieb als die übrigen Trauergäste. Plötzlich kam ihm der Gedanke, dass sie ihn möglicherweise persönlich gekannt hatte. Vielleicht hatte sie eine Erklärung für Fontanas Verhalten. Cavelli war unschlüssig, ob er sie aufgrund einer so vagen Hoffnung ansprechen sollte. Wahrscheinlich würde er sich nur lächerlich machen. Andererseits ...

Zweimal war er drauf und dran, es zu tun, nur um es im nächsten Moment wieder als sinnlos und aufdringlich zu verwerfen. Als er schließlich genug Mut gefunden hatte, war es zu spät. Er sah gerade noch, wie sie sich abwandte, dann verlor sie sich in der Menge. Cavelli versuchte, ihr zu folgen, aber in dem schwarzen Meer der Trauergäste kam er kaum voran. Ein- oder zweimal sah er noch ihren Kopf für Sekundenbruchteile in der Menschenmenge auftauchen, und dann war sie verschwunden.