XXI

Cavelli erwachte, weil er etwas gehört hatte. Oder geträumt?

Verschlafen reckte er sich. Das unbequeme Liegen auf dem zu kurzen Sofa war ihm nicht gut bekommen.

Rücken und Beine fühlten sich an wie durchgeprügelt, und er fröstelte. Er sah auf seine Armbanduhr. Fünf nach sechs. Er rappelte sich auf. Rüber ins Bett und noch zwei Stunden weiterschlafen. Er schlurfte ins Schlafzimmer und begann mit halb geschlossenen Augen sein Hemd aufzuknöpfen. Flur … Tür …

Kleine Erinnerungsbilder blitzten in seinem Kopf auf.

Tür … Boden … Papier.

Mit einem Mal war er hellwach. Nach wenigen Schritten stand er wieder im Flur und starrte auf das, was da vor ihm auf dem Boden lag.

Jemand musste die Papiere unter der Wohnungstür durchgeschoben haben. Cavelli bückte sich und hob sie auf.

Es war der Brief des Kardinals, das erkannte er schon an der Art des Papiers. Er faltete den Brief auseinander. Ein kleines Blatt – offenbar aus einem Notizbuch gerissen – flatterte heraus und trudelte in Richtung Boden. CaveIli erwischte es noch in der Luft.

»Lieber Don,

hier ist der Brief zurück. Ich hoffe, Sie können mir mein dummes Verhalten verzeihen. Ich kann zu meiner Entschuldigung nur sagen, dass ich Sie für einen anderen gehalten habe. Ich würde mich gerne mit Ihnen über meinen Onkel und den Brief unterhalten. Ich könnte verstehen, wenn Sie das ablehnen, aber ich werde um zwölf Uhr im Petersdom bei diesen Korkenzieher-Säulen auf Sie warten. Ich hoffe, Sie kommen …

Zerknirschte Grüße img1.png

Pia«

Was für ein Satansbraten! CaveIli wusste nicht, ob er wütend oder erfreut sein sollte. Jedenfalls hatte er den Brief wieder, das war die Hauptsache. Er sah aus dem Fenster. Draußen begann es, hell zu werden. Er setzte sich an seinen Schreibtisch, knipste die kleine Lampe an und begann, Fontanas Brief an der Stelle weiterzulesen, an der er unterbrochen worden war.

»Nun jedoch bin ich durch Umstände außerhalb meiner Kontrolle in eine Lage geraten, in der ich nicht weiß, wie ich handeln soll.

Vor einigen Tagen kam ein Mann zu mir. Auf die äußeren Umstände dieser Begegnung – Ort und Zeit – will ich nicht näher eingehen, weil dadurch Personen in diese Angelegenheit verwickelt würden, die damit nichts zu tun haben. Dieser Mann also bat mich – nein, flehte mich geradezu an –, ihm die Beichte abzunehmen. Zunächst lehnte ich ab. Ich erklärte ihm, dass ich nur auf Besuch sei und er sich an den Priester in seiner Gemeinde wenden solle. Aber davon wollte der Mann nichts hören. Gerade der Umstand, dass ich nicht zu seiner Gemeinde gehörte, ja nicht einmal in seinem Land lebte, mache es ihm überhaupt erst möglich, diese Beichte abzulegen, behauptete er. Ich versicherte ihm, dass auch für die Priester seiner Gemeinde das Beichtgeheimnis heilig und unantastbar sei, und führte wohl auch noch weitere Argumente ins Feld, die gegen sein Ersuchen sprachen, aber was immer ich auch vorbrachte, er ließ sich nicht umstimmen und bestand auf seiner Bitte, so dass mir schließlich nichts anderes übrigblieb, als einzuwilligen. Wir gingen in einen Nebenraum, und dort legte dieser Mann vor mir die Beichte ab.

Teurer Freund, ich habe in meinem Leben schon Tausende von Beichten gehört, nicht selten furchtbare Dinge, Aber das meiste hört man wieder und wieder. Diese Beichte jedoch – es fällt mir schwer, die richtigen Worte zu finden – war von ihrem Inhalt derart ungeheuerlich, dass ich kaum in der Lage war, sie zu Ende anzuhören. Noch schwerer fiel es mir, dem Mann die Absolution zu erteilen, denn – wie Sie natürlich wissen – darf diese nur erteilt werden, wenn der Beichtende seine Sünden aufrichtig bereut. Die Art, wie dieser Mann über seine Taten sprach, ließ mich jedoch eher glauben, dass er in gewisser Weise sogar stolz darauf war. Da er jedoch schließlich sagte, dass er bereue, blieb mir keine andere Wahl, als ihn loszusprechen, auch wenn ich starke Zweifel hatte, dass diese Reuebekundung echt war, sondern vermuten musste, dass sie nur dazu diente, die Absolution zu erlangen. Jedenfalls wirkte der Mann überaus erleichtert, als er mich schließlich verließ. Ich aber blieb zurück, urplötzlich verstrickt in das unlösbarste Dilemma meines Lebens.

Schon bei dem, was ich bis jetzt in diesem Brief schrieb, wäre die Meinung unter Klerikern wohl geteilt, ob ich dadurch das Beichtgeheimnis verletze. Ich selbst würde es – unter den gegebenen Umständen – für gerade noch vertretbar halten, da ich weder den Namen des Mannes nannte – ich kenne ihn ohnehin nicht – noch Ort und Zeit der Beichte, noch Auskunft über den Inhalt der Beichte gegeben habe. Ich spreche nur allgemein. Allerdings spielt das keine Rolle mehr in Anbetracht dessen, was ich nun vorhabe zu berichten.

Ich weiß, wie gut Sie in allem, was die Kirche betrifft, unterrichtet sind. Erlauben Sie mir trotzdem, ein paar Worte über das Beichtgeheimnis zu verlieren und einige Punkte in Erinnerung zu rufen. Wie Sie wissen, ist es eines der sieben Sakramente. Es ist vollkommen unantastbar und steht über allen Dingen. Kein Grund – was es auch sei – ist gut genug, es zu brechen. Ein Beichtvater, der dies dennoch tut, ist im selben Moment automatisch exkommuniziert. Selbst dann, wenn der Papst davon nichts erfahren sollte. Eben sagte ich »kein Grund ist gut genug, das Beichtgeheimnis zu brechen«. Genau daran habe ich auch mein ganzes Leben fest geglaubt. Nun jedoch ist dieser Glaube erschüttert. Das von mir Gehörte ist nicht nur furchtbar, sondern auch von größter historischer Bedeutung. Die meisten Menschen auf der Welt sind keine Katholiken. Das Beichtgeheimnis hat für sie keinerlei Bedeutung. Welches Recht habe ich also, eine solche Information der Menschheit vorzuenthalten?

Dies ändert jedoch nichts an meinem Glauben, dass das Beichtgeheimnis heilig ist. Wie immer ich mich auch entscheide, ich werde schuldig. Vor nicht langer Zeit haben wir uns darüber unterhalten, ob ich eine Wahl zum Papst annehmen würde. Ich habe in der Zwischenzeit viel darüber gebetet und komme immer wieder an denselben Punkt. Ich glaube, dass Gott selbst den Papst auswählt und wir als Menschen nicht das Recht haben, uns dieser Aufgabe zu verweigern, wenn sie uns auferlegt wird, sei sie auch noch so furchteinflößend. Trotz aller Ängste und dem Gefühl, nicht würdig zu sein, müsste ich also eine solche Wahl akzeptieren. Natürlich gibt es andere Kardinäle, die ich für weit geeigneter halten würde, dieses Amt zu bekleiden, aber dass das Los schließlich auf mich fallen würde, ist so unmöglich nicht, wenn man der Kardinals-Gerüchteküche Glauben schenken darf. Man stelle sich vor: ein – wenn auch im Geheimen – exkommunizierter Papst!

Was für ein grauenvoller, geradezu monströser Gedanke! Ich habe den Heiligen Vater daher gebeten, mich von meinem Amt als Kardinal zu entbinden. Viel Hoffnung, dass er dieser Bitte nachkommt, hatte ich nicht, da ich noch nicht das fünfundsiebzigste Lebensjahr erreicht habe, das Jahr, in dem alle kirchlichen Würdenträger dem Heiligen Vater ihren Rücktritt anbieten müssen. Wie befürchtet, hat er mir die Erfüllung dieses Ersuchens verwehrt, da er, wie er sagt, mich genau dort brauche, wo ich jetzt sei.

Wie Sie gewiss schon zwischen den Zeilen herausgelesen haben, habe ich mich entschlossen, mich nicht an das Beichtgeheimnis zu halten. Ich will jedoch versuchen, dies in einer Weise zu tun, die so weit wie nur irgend möglich von einem direkten Bruch entfernt ist.

Dafür bitte ich Sie bereits jetzt um Vergebung. Ich habe, was ich zu sagen habe, in einer verschlüsselten Weise niedergelegt, vielleicht so schwer verschlüsselt, dass niemand es zu enträtseln vermag. Ob es so ist, das kann ich schwer einschätzen. Wenn es so sein sollte, dann ist es Gottes Wille, aber ich will unter allen Umständen verhindern, dass diese Information durch Zufall in die falschen Hände fällt. Darum habe ich es so eingerichtet, dass nur jemand mit hervorragender Kenntnis der vatikanischen Geschichte meine Hinweise verstehen kann. Mir ist jedoch klar, dass, wenn ich diese Hinweise einem Kleriker des Vatikans überließe, er diese zwar wohl entschlüsseln könnte, aber was dann? Auch eine zufällig erlangte Beichtinformation von einem anderen Beichtvater unterliegt dem Beichtgeheimnis. Ich würde den armen Mann nur in dieselbe ausweglose Situation bringen, in der ich mich bereits befinde. Das will ich nicht auf mein Gewissen laden.

Wenn ich die Informationen hingegen einem Journalisten anvertraue, wird er sie zwar veröffentlichen, aber der Bruch des Beichtgeheimnisses würde in alle Welt hinausposaunt, mit den beschriebenen verheerenden Folgen. Dies ist der Katholischen Kirche nicht zuzumuten. Es wäre das Ende des Vertrauens der Menschen in die Heiligkeit der Beichte. Ein Glaube, der in den letzten Jahren und Jahrzehnten ohnehin bereits stark im Schwinden begriffen ist.

Sie, mein teurer Freund, sind der einzige, an den ich mich in meiner Not zu wenden weiß. Einerseits sind Sie in der Lage, meine verschlüsselten Hinweise zu enträtseln. Andererseits weiß ich, dass Sie hohen Respekt vor der Katholischen Kirche empfinden, ohne ihr jedoch verpflichtet zu sein. Auch sind Sie nicht an das Beichtgeheimnis gebunden. Natürlich wird auch Ihnen klar sein, von welch überragender Bedeutung diese Information ist, sobald Sie diese in Händen halten. All dies versetzt Sie in meinen Augen in eine besondere, ja einzigartige Position. Ich überlasse es Ihrem gütigen Herzen, eine Lösung zu finden, die Sie für richtig erachten und mit der Sie in Frieden weiterleben können.

Mir selbst ist dies leider nicht vergönnt. Ich habe – wenn auch in der behutsamsten Form, die ich finden konnte – das Beichtgeheimnis gebrochen. Ich bin exkommuniziert.

Der Heilige Vater hat meine Demission abgelehnt, und ich muss weiter meinen Dienst verrichten. Vielleicht eines nicht allzu fernen Tages sogar als Papst. Das kann ich vor Gott und mir selbst nicht verantworten. Doch wie es beenden? Ich will für die schwere Sünde, die ich begangen habe, Buße tun. Keine Buße ist zu schwer für diese Tat. Selbsttötung jedoch ist eine weitere Sünde. Gott allein ist es vorbehalten, Leben zu geben und Leben zu nehmen. Auch wäre der Freitod eines Kardinals nur ein weiterer Schlag für die Katholische Kirche. Ich will es mir gar nicht ausmalen, in welchen abstoßenden Spekulationen sich die Presse über die Gründe dafür ergehen würde. Darum wähle ich einen Weg, der wirksam ist, aber von einem Freitod so weit wie nur irgend möglich entfernt. Ich werde nicht Hand an mich legen. Es war schon lange mein Wunsch, in diesem Leben noch Gelegenheit zu finden, einmal ins Heilige Land zu reisen. Zu sehen, wo Jesus wandelte und wirkte. Es ist bereits alles vorbereitet, morgen werde ich nach Jerusalem fliegen. Wie Tausende andere Pilger auch, die auf den Spuren des Herrn wandeln. Und schließlich werde ich genau dies wortwörtlich tun. Jesus ist für vierzig Tage in die Wüste gegangen. Ich werde es ihm nachtun … ob ich es überlebe, liegt dann in Gottes Hand.

Der Herr beschütze Sie!

Ihr Freund und ergebener Diener in Christo E. F.

P. S.

Den ersten Hinweis finden Sie im Schiff des Heiligen Vaters.«