XXIV

»Haben Sie Handtücher? Ich will Ihnen nicht alles volltropfen.«

»Im Bad liegen welche. Bedienen Sie sich.«

Cavelli nahm das eingewickelte Buch, das Pia nach dem Hereinkommen auf den Wohnzimmertisch gelegt hatte. Er beschloss, mit dem Öffnen zu warten, bis sie zurück war. Die Tüte fühlte sich schwammig an. Offenbar hatte die Verpackung, die zweifellos dazu gedacht war, das Buch in seiner nassen Umgebung trocken zu halten, nicht allzu viel genützt. Cavelli ging in die Küche und löste die beiden Gummibänder, die um das Paket verliefen. Vorsichtig wickelte er den oberen Teil der Tüte ab. Er hielt das Buch von außen fest und kippte sie dann über dem Küchenwaschbecken aus. Etwa ein halber Liter Wasser ergoss sich in das Becken. Pia erschien in der Küchentür. Sie sah auf die Tüte.

»Verdammt!«

Cavelli zog vorsichtig das Buch heraus. Es war völlig durchnässt, aber der Titel ließ sich ohne weiteres lesen.

»Christoph Columbus?« Pias Stimme klang ungläubig.

»Ja, eine Biografie von Columbus. Was hatten Sie stattdessen erwartet?«

»Keine Ahnung, nichts Bestimmtes. Aber nicht das.«

Cavelli versuchte, das Buch zu öffnen. Der Einband ließ sich gut aufschlagen, aber alle anderen Seiten waren so nass, dass sie zusammenklebten.

»Das muss erst trocknen, sonst lösen sich die Seiten beim Auseinanderziehen auf und man kann nichts mehr erkennen.«

Pia zog eine Grimasse und zuckte mit den Achseln.

Cavelli trug das Buch auf die Terrasse und legte es zum Trocknen auf einen Korbstuhl, der in der Sonne stand. Pia kicherte. Cavelli sah sie fragend an.

»Ich musste eben daran denken, wie der arme Soldat vorhin so schnell von wütend auf höflich umgeschaltet hat. Wenn ich mit jemand anderem da gewesen wäre, wäre ich bestimmt achtkantig rausgeflogen.«

»Allerdings.«

Pia trat auf die Terrasse und sah versonnen in den Garten. »Unglaublich! Und das alles nur wegen Ihres komischen Vorfahren.«

»So sieht’s aus.«

»Ihr Urahn scheint ein ziemlich interessanter Mann gewesen zu sein.«

Cavelli nickte. »So könnte man das wohl ausdrücken.«

»Haben Sie ein Bild von ihm?«

»Leider nicht. Aber es existiert eins.«

»Lassen Sie mich raten: Es hängt irgendwo im Vatikan.«

»Richtig.«

»Haben Sie schon mal gefragt, ob man es Ihnen überlässt? So langsam hab ich den Eindruck, dass man Ihnen hier keinen Wunsch abschlägt, und so ’nen alten Schinken mit irgend so ’nem Opa drauf, den keine Sau kennt, können die doch hier locker entbehren, bei all den Bildern, die sie hier haben.«

Cavelli schien einen Moment über diesen Vorschlag nachzudenken, dann schüttelte er bedauernd den Kopf.

»Dass man mir das Bild überlässt, halte ich für unwahrscheinlich.«

»Haben Sie denn überhaupt schon mal gefragt, Don?«

»Nein.«

Pia schüttelte verständnislos den Kopf und starrte ihn ärgerlich an. Cavelli hob beschwichtigend die Hände. »Aber wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen das Bild. Wollen Sie?«

»Klar will ich.«

Cavelli nahm sein Jackett von der Lehne seines Schreibtischstuhls. »Kommen Sie mit.«

Sie verließen das Haus, bogen zweimal ab und gelangten auf einen kleinen Platz, auf dem ein Brunnen gemächlich vor sich hin plätscherte. Dann betraten sie durch einen Seiteneingang einen hohen Backsteinkomplex, der ein bisschen so aussah, als hätte ein Kind mehrere nicht zusammengehörige Spielzeughäuser aufeinander geklebt. Ein kleiner altersschwacher Fahrstuhl brachte sie nach oben. Cavelli und Pia stiegen aus, durchquerten eine mit prachtvollen Wandmalereien ausgestattete lange Galerie und einen weiteren Saal, der das gerade Gesehene an Herrlichkeit sogar noch übertraf. Cavelli öffnete eine kleine Seitentür und führte Pia nun durch einige labyrinthartig angelegte kleine Kammern, bis sie schließlich in ein kleines Zimmer gelangten, das offensichtlich als Garderobe diente. An einer fahrbaren Kleiderstange hingen mehrere weiße Gewänder, auf einem Tisch standen etliche Schuhschachteln, die mit verschiedenen Größenangaben beschriftet waren, und in der Ecke stand ein rotes Sofa. Pia musste unwillkürlich lachen. Nach den prachtvollen Galerien, die sie gerade durchschritten hatten, wirkte dieses Zimmer einfach wie eine absurde Pointe. Sie sah sich suchend um.

»Hängt das Bild etwa hier? In diesem Kabuff? Man hatte wohl doch nicht so eine hohe Meinung von Ihrem Herrn Vorfahren.«

Cavelli kicherte in sich hinein. »Dreimal nein. Erstens: Das Bild hängt hier nicht. Zweitens: Man hatte sogar eine sehr hohe Meinung von meinem Herrn Vorfahren, und drittens: Dies ist kein Kabuff, sondern die Kammer der Tränen.«

»Kammer der Tränen?« Pias Stirn legte sich in Falten. »Davon hab ich, glaub ich, schon mal gehört.«

Cavelli lächelte. »Das wäre denkbar. In die Kammer der Tränen zieht sich jeder neue Papst direkt nach der Wahl zurück und legt sein Papstgewand an.«

»Soll das etwa heißen, diese Gewänder und Schuhe ...?«

»... warten auf den nächsten Papst, ganz recht.«

»Und wieso heißt es dann Kammer der Tränen? Wenn ich gerade zum Papst gewählt worden wäre, würde ich fröhlich herumhüpfen und Juchhu schreien.«

Cavelli verzog das Gesicht. »Dann wären Sie wohl eher so ein Papst wie Rodrigo Borgia. Zu seiner Zeit ist man bestimmt wirklich fröhlich herumgehüpft und hat Juchhu geschrien, wenn man zum Papst gewählt worden war, aber heutzutage ist das nur noch ein gnadenloser Knochenjob. Das normale Leben ist in diesem Moment für den Gewählten vorbei.«

Pia nickte. »Darum Kammer der Tränen ...«

»So ist es.«

»Und wo ist nun das Bild von Ihrem Vorfahren?«

Cavelli durchquerte die Kammer, stieg einige Stufen nach oben und stand nun vor einer kleinen Holztür.

»Hier entlang bitte.«

Pia stieg ebenfalls die Treppe hoch und folgte Cavelli in den nächsten Raum. Verblüfft schnappte sie nach Luft.

»Ich glaub’s nicht!«

Natürlich hatte sie die Sixtinische Kapelle bereits auf Bildern gesehen, aber der tatsächliche Anblick war geradezu überwältigend. Ein Museumswärter war erschrocken herumgewirbelt, als er hörte, wie sich hinter seinem Rücken die kleine Tür geöffnet hatte. Für einen Moment starrte er entsetzt in ihre Richtung und griff instinktiv nach seinem Walkie-Talkie, dann erkannte er Cavelli. Seine Züge entspannten sich, ein kurzes Nicken, und er wandte seine Aufmerksamkeit einer dicken Touristin zu, die trotz strengen Verbots Blitzlichtaufnahmen machte. »No camera, Signorina, no camera!«

Cavelli war immer wieder erstaunt, wie wütend die Wächter der Sixtina über Unbotmäßigkeiten wie Fotografieren oder lautes Reden werden konnten, obgleich sie diese doch tagtäglich tausendfach erlebten. Er wandte sich wieder Pia zu. »Kommen Sie«, flüsterte er.

Sie begannen, sich zwischen den Touristen durchzuschlängeln. Pia starrte fasziniert an die Decke. »Wahnsinn! Ich hatte mir das viel kleiner vorgestellt.«

Cavelli nahm Pia beim Arm, damit sie ungestört nach oben schauen konnte, und beugte sich nah an ihr Ohr. »Die Abmessungen entsprechen exakt den Maßen des Salomonischen Tempels, wie sie in der Bibel angeben sind.«

Pia konnte sich kaum satt sehen an den Figuren über ihrem Kopf. »Unglaublich! Fantastisch, dass alles so gut erhalten ist.«

Cavelli zog sie an einem sich rücksichtslos durch die Menge drängelnden Japaner vorbei. »War es gar nicht, es ist vor einigen Jahren in einer aufwendigen Restaurierung unter anderem auch gereinigt worden. Hat Millionen gekostet, aber es war nötig. Im Laufe der Jahrhunderte sind die Bilder immer dunkler geworden, hauptsächlich durch Kerzenruß. Damals hat man wenig auf die Erhaltung dieses Raumes geachtet. Man darf gar nicht daran denken, dass die Soldaten Napoleons hier drin ihr Nachtlager aufgeschlagen haben, und die deutschen Landsknechte, die beim Sacco di Roma über Rom hergefallen sind, haben die Kapelle sogar als Pferdestall genutzt.«

Sie gingen weiter, bis sie das gegenüberliegende Ende der Kapelle erreicht hatten. Cavelli zeigte auf ein Gemälde, welches in der rechten Ecke der Decke platziert war.

»Vielleicht verstehen Sie jetzt, warum ich wenig Hoffnung habe, dass man mir das Bild überlässt. Mein Uropa ist der Typ mit dem Schwert.«

Pia starrte nach oben. »Ich glaub es nicht«, wiederholte sie tonlos.

Cavelli trat neben sie. »Er ist nicht der einzige reale Mensch in diesem Gemälde. Michelangelo hat eine ganze Reihe Personen aus dem Hofstaat von Papst Julius gemalt. Nicht immer zu deren Freude.« Cavelli wies in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Sehen Sie dort drüben ganz unten über der rechten Tür den nackten Mann mit den Eselsohren?«

Pia kniff die Augen zusammen. »Den ganz rechts? Ja, wer ist das?«

»Das ist Biagio da Cesena, ein päpstlicher Zeremonienmeister. Er hatte kritisiert, dass die ganzen Nackten, die Michelangelo da malte, eher in ein Badehaus als in eine päpstliche Kapelle passen würden. Aus Rache hat ihn Michelangelo so unvorteilhaft dargestellt.«

»Geschieht ihm ganz recht!«, stellte Pia fest.

»Aber mein Urahn ist ziemlich gut weggekommen, finde ich. Er stellt David dar, der gegen Goliath kämpft.«

Pia starrte Cavelli euphorisch an. »War Ihr Urahn so was wie ein Heiliger?«

»Ein Heiliger? Eher nicht. Er war wohl viel mehr ein ziemlicher Schweinehund. Man kann es sogar auf dem Bild sehen. Der biblische David ist gegen den Riesen Goliath mit einer Steinschleuder angetreten. Dieser David hier schlägt dem bereits am Boden liegenden Goliath den Kopf ab. Michelangelo wird seine Gründe gehabt haben, ihn so darzustellen.«

Pia schluckte. »Aber wenn er so ein Schurke war, der Menschen die Köpfe abschlug, warum ...?«

»... ist er dann auf dem Bild?« Cavellis Gesicht bekam einen etwas grimmigen Ausdruck. »Nun ja, offensichtlich hat er es verstanden, den richtigen Leuten die Köpfe abzuschlagen. Leuten, die Papst Julius nicht mochte. Das kam beim Papst offenbar ganz gut an.«

Pia starrte erneut fasziniert zur Decke. »Unglaublich, wie ein Heiliger sieht er wirklich nicht aus, aber gleich so ein Erzschurke ...« Pia lächelte versonnen.

»Tja, aber sich selbst und meiner Familie hat er auf diese Weise gute Dienste erwiesen. Erzschurken sind unangenehme Zeitgenossen, aber ...«

»Aber?«

Cavelli kratzte sich verlegen am Kopf und zögerte einen Augenblick. »... aber nützliche Vorfahren.«