In der Vatikanstadt fand sich so gut wie alles, was man in einer Stadt brauchte. Ein Supermarkt, ein Kaufhaus, eine Apotheke, eine Krankenstation, eine Bank, eine Post, eine Feuerwehr und einiges mehr, aber zumindest an einer wichtigen Sache bestand großer Mangel: Parkplätze. Da das ganze Areal von einer Mauer umgeben war und alle freien Flächen bereits anderweitig belegt waren, kam man zu dem Schluss, dass es nur zwei Möglichkeiten gab, zusätzliche Parkplätze zu schaffen: ein Wunder oder ein Parkhaus. Schließlich hatte man sich für Letzteres entschieden, und Papst Johannes Paul II. weihte das dreistöckige unterirdische Gebäude feierlich ein. Cavelli hatte zwar auch Anrecht auf einen der begehrten Parklätze hinter dem Governatoratspalast, aber meistens parkte er doch lieber in dem Parkhaus. Einerseits, damit sein Cabrio vor Regen und Schnee geschützt war, andererseits, weil der seltene Wagen in etwa so gut in den Vatikan passte wie ein Swimmingpool in eine Kathedrale. Cavelli war nie ein Freund von Extravaganzen jeder Art gewesen, er bevorzugte unauffällige Eleganz von größtmöglicher Schlichtheit. Wenn er ein neues Jackett benötigte, brauchte er immer eine halbe Ewigkeit, bis er eines fand, das nicht durch geschmacklosen Schnickschnack wie unnötige Taschen, zusätzliche Knöpfe oder lächerliche Aufnäher verunstaltet war. Auf die Marke kam es ihm dabei nicht an, aber immer, wenn er endlich ein schlichtes Jackett entdeckt hatte und schließlich auf das Etikett sah, stand dort Armani. Mit seinem Auto war es genauso gewesen. Die modernen Modelle fast aller Marken erschienen ihm uninspiriert. Sie waren gesichtslos und schwerfällig und sahen fast alle gleich aus. Vor einigen Jahren hatte er dann zufällig auf einer Auktion sein Traumauto entdeckt. Ein rotes, elegantes Cabrio. Dass es sich bei dem Wagen um ein seltenes Sammlerstück handelte, war ihm nicht bewusst – bis er den Kaufpreis hörte. Einen ganzen Tag hatte er gezögert, der Preis war außerhalb jeglicher Vorstellungskraft, und seiner Auffassung nach war kein Auto so viel Geld wert. Aber dann war ihm klar geworden, dass dies nun einmal der einzige Wagen war, den er mochte und dass es für die Höhe seines Kontos keinen nennenswerten Unterschied machte, ob er dieses Geld behielt oder nicht, und zwei Stunden später war er der glückliche Besitzer eines 1960er Ferrari California Spider LWB Competizione gewesen.
Nach einem längeren Telefonat, bei dem Cavelli die meiste Zeit nur zugehört hatte, war sein Gesprächspartner schließlich zu einem kurzfristigen Treffen bereit gewesen. Cavelli hatte seine Autoschlüssel vom Schreibtisch genommen und mit Pia die Wohnung verlassen. Als sie aus dem Haus traten, hatte er, einer plötzlichen Eingebung folgend, beschlossen, vor der Abfahrt noch etwas Geld zu ziehen. Der nicht perfekt runde Turm, in dem die Vatikanbank untergebracht war, hatte aus der Vogelperspektive gesehen die Form eines D, was Spötter zu der Behauptung veranlasste, das D stünde für Diabolo. In den achtziger Jahren war die IOR in mafiöse Machenschaften verwickelt gewesen und hatte zwielichtige Geschäfte mit der Banco Ambrosiano unter Roberto Calvi gemacht, der auch als der Bankier Gottes bekannt war und schließlich an einem Strick unter der Londoner Blackfriars Bridge endete. Dass die Täter aus den Reihen der Mafia kamen, galt inzwischen als sicher. Der damalige Direktor des IOR, Erzbischof Paul Casimir Marcinkus, konnte sich seiner Verhaftung durch die italienischen Finanzbehörden nur entziehen, indem er über mehrere Jahre das souveräne Hoheitsgebiet des Vatikans – der mit keinem Land der Welt ein Auslieferungsabkommen unterhält – nicht mehr verließ. Erst Papst Benedikt veranlasste schließlich durchgreifende Veränderungen in der Finanzpolitik der Bank, und inzwischen traf diese ihre Entscheidungen unter starker Berücksichtigung ethischer Grundsätze.
Cavelli trat an den an der Außenwand angebrachten Geldautomaten und las den Text auf dem Bildschirm:
Inserto scidulam quaeso ut faciundum cognosces rationem.
Wie verlangt führte er seine Magnetkarte ein, woraufhin eine weitere Schrift mit vier Auswahlmöglichkeiten erschien. Cavelli tippte auf Deductio ex pecunia – Geld abheben.
Dies war der einzige Geldautomat auf der Welt, der mit den Kunden auf Lateinisch kommunizierte. Im Vatikan war dies nichts Ungewöhnliches. Latein – und nicht Englisch – war hier die Sprache, die alle – zumindest alle Kleriker – beherrschten. Alle Verlautbarungen des Papstes erschienen, abgesehen von vielen anderen Sprachen, auch immer in Latein, und diese Fassung wurde als das Original angesehen. Es gab hierfür eine eigene Lateinabteilung im Vatikan, die alles Nötige übersetzte und die sogar ein modernes Lateinlexikon erarbeitet hatte, das ständig nach Bedarf erweitert wurde und in dem neu erfundene lateinische Begriffe wie »Pacta arma atomica non propagandi interdictio« für Atomwaffensperrvertrag, »validae potionis effector« für Likörfabrikant oder »fistula nicotiana« für Zigarette zu finden waren.
Cavelli zögerte einen Augenblick. Dann tippte er 10.000 € ein und drückte die Bestätigungstaste.
Irgendwie hatte er das Gefühl, das Geld bald gut brauchen zu können.