EUR missfiel Pia. Die Architektur war in der Tat ungewöhnlich, etwas Ähnliches hatte sie noch nie gesehen, aber das Ganze war zu kolossal und wirkte geradezu tot. Es waren inmitten dieser riesigen Dimensionen vergleichsweise wenig Menschen auf der Straße, und es kam ihr vor wie eine unfassbar teure Filmkulisse für einen Science-Fiction-Film, die man nach Ende der Dreharbeiten mitsamt den Statisten einfach stehen gelassen hatte.
Sie sah zu Cavelli herüber, der Schwierigkeiten hatte, die kleine Skizze mit der Wegbeschreibung, die er während seines Telefonats schnell hingekritzelt hatte, zu enträtseln.
»Haben Sie kein Navi?«
»Ein was?«
»Schon gut.«
Nachdem sie eine Weile herumgeirrt waren, erreichten sie schließlich ihr Ziel. Cavelli hielt in der Nähe eines großen Sees vor einem kleineren Haus, das im typischen Stil des Viertels erbaut war. Auf Pia wirkte es hässlich und abweisend. Sie stiegen aus, überquerten die menschenleere Straße und gingen auf die Eingangstür zu. Auf dem Klingelschild stand nur ein Name.
»B. Volta«, las Pia laut. »Wofür steht das B?«
Cavelli machte eine unbestimmte Handbewegung, welche die ganze Umgebung einbezog. »Dreimal dürfen Sie raten.«
»Benito?«
Cavelli nickte und drückte auf die Klingel.
Pia zog ihren Rock zurecht. »Der Mann wird ja immer sympathischer.«
Cavelli blickte sie ernst an. »Vergessen Sie nicht, wir wollen, dass er uns hilft. Also keine Provokationen, auch wenn’s schwerfällt.«
»Sie ahnen nicht, wie schwer, aber ich werd mich zurückhalten.«
Auf der anderen Seite des Türspions glaubte Cavelli eine Bewegung wahrzunehmen. Ein Schlüssel wurde zweimal herumgedreht. Dann öffnete sich die Haustür einen Spalt weit, gerade so viel, wie es die vorgelegte Sicherheitskette erlaubte. Es ertönte eine ältere Frauenstimme.
»Si?«
Cavelli räusperte sich. »Donato Cavelli, Signor Volta erwartet mich.«
Die Tür wurde heftig geschlossen, und man konnte ein kurzes Klimpern hören, dann wurde sie erneut geöffnet. Eine kleine dickliche Frau mit strohigen grauen Haaren und einem Küchenkittel stand vor ihnen. Wortlos winkte sie Cavelli und Pia herein und schloss eiligst wieder ab, als rechne sie jeden Moment mit irgendwelchen Eindringlingen. Sie legte die Sicherheitskette wieder vor und deutete dann wortlos mit dem Finger auf eine schwere Eichentür am hinteren Ende des Flurs. Dann verschwand sie durch einen dicken Filzvorhang in ein im Dunkeln liegendes Zimmer, dem Geruch nach zu urteilen, die Küche. Das Haus, das vor einigen Jahrzehnten durchaus einmal hochherrschaftlich gewesen sein mochte, war inzwischen ziemlich heruntergekommen. Der Flur war mit einem zerschlissenen Perserteppich ausgelegt, und auf den Möbelstücken sowie auf dem Boden stapelten sich Hunderte von Büchern. In der Luft hing ein Geruch, den Cavelli aus Antiquariaten kannte. Uraltes Papier. Licht kam nur von einer kleinen Tischlampe auf einer Kommode. Langsam gingen Cavelli und Pia zu der Tür, auf welche die Alte gezeigt hatte. Cavelli klopfte. Keine Antwort. Er klopfte erneut, dieses Mal lauter. Ganz leise meinte er ein »Avanti« von der anderen Seite der Tür zu hören, aber sicher war er nicht. Behutsam drückte er die Klinke hinunter, und sie betraten das Zimmer, das ebenso dunkel wie der Flur und noch weit mehr mit Bücherstapeln vollgerümpelt war.
Volta, ein hagerer Mann Mitte sechzig mit einer gewaltigen Nase, saß an einem großen Esstisch, der ebenfalls mit etlichen kleineren und größeren Büchertürmen übersät war, die nur noch ein kleines Fleckchen am Ende des Tisches freiließen. Bei Pias Anblick sprang er auf, als wenn ihn etwas gestochen hätte.
»Was ...? Ich dachte, Sie kommen allein, Cavelli.« Er starrte Pia an, als hätte sie die Pest. »Das war nicht abgemacht!«
Cavelli verfluchte sich innerlich, wusste er doch, wie paranoid Volta war. Er hätte Pia ankündigen oder noch besser gar nicht mitnehmen sollen, aber jetzt war es zu spät.
»Entschuldigen Sie vielmals, Signor Volta, mein Fehler, das ist Signora Pia Randall, sie ist die Nichte von Kardinal Fontana. Sie haben sicher von seinem tragischen Tod gehört.«
Volta ließ eine Art Grunzen hören, das alles bedeuten konnte, und fixierte weiterhin Pia. Dann wandte er sich wieder an Cavelli.
»Ich hab’s nicht gern, wenn man mir hier irgendwelche Fremden anschleppt, das sollten Sie doch wissen, Cavelli. Es gibt viel zu viele Leute, die ...«
»Signor Volta, ich kann Ihnen versichern, von uns haben Sie nichts zu befürchten, wir ...«
Volta hatte erneut Pia ins Visier genommen. »Glauben Sie an Gott?«
»O ja!«
Cavelli war überrascht, wie gelassen sie lügen konnte. Volta ließ sie nicht aus den Augen.
»Was ist Ihre Lieblingsbibelstelle?«
Das war’s, dachte Cavelli, aber Pia antwortete erneut fast ohne zu zögern: »Der Pfad der Gerechten ist zu beiden Seiten gesäumt mit Freveleien der Selbstsüchtigen und der Tyrannei böser Männer. Gesegnet sei der, der im Namen der Barmherzigkeit und des guten Willens die Schwachen durch das Tal der Dunkelheit geleitet. Denn er ist der wahre Hüter seines Bruders und der Retter der verlorenen Kinder. Ich will große Rachetaten an denen vollführen, die da versuchen meine Brüder zu vergiften und zu vernichten, und mit Grimm werde ich sie strafen, dass sie erfahren sollen: Ich sei der Herr, wenn ich meine Rache an ihnen vollstreckt habe.«
Volta blinzelte etwas unsicher.
»Und was den jetzigen Papst angeht«, Pia hob ihre Stimme, »sehe ich es genauso wie Sie: Er ist nicht der rechtmäßige Stellvertreter des Herrn auf Erden.«
Cavelli nickte innerlich anerkennend. Pia verstand die altehrwürdige Kunst der Amphibolie, also das Lügen, ohne dabei die Unwahrheit zu sagen, so gut wie einige der geschicktesten Jesuiten, die er kannte.
Volta ließ sich auf seinen Stuhl fallen und verzog angeekelt das Gesicht. »Dieser ...« Offenbar suchte er nach einem Kraftausdruck, der stark genug war. »Dieser … eine häretische Reform nach der anderen. Wieder und wieder! Und wozu? Um Applaus von den Progressiven zu bekommen, von denen die meisten nicht mal Katholiken sind. Was hat es die zu interessieren, was die Katholische Kirche tut? Nur weiter so, dann wird der Heilige Stuhl bald nicht mehr Autorität haben als ein Priester irgendwo in der Provinz. Begreifen sie es denn nicht? Man muss sich doch nur die Monarchien auf der ganzen Welt ansehen. Reiche Schnösel, die sich von jedermann duzen lassen und die niemand mehr ernst nimmt. Mit einer Ausnahme: die Königin von England. Und warum? Weil sie in Jahrzehnten nicht einen Millimeter der Tradition preisgeben hat. Darum ist sie ein Gegenstand der Verehrung geworden. Aber das kapieren diese ganzen Narren nicht, sie denken immer nur an die Gegenwart und nie an die Zukunft, diese ...«
Voltas Gesicht war vor Erregung gerötet. Resigniert sank er gegen die Stuhllehne und sah müde vor sich auf den Tisch. Aus einer Ecke des Zimmers war eine Art Schnarchen zu hören. Cavelli drehte den Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, und entdeckte auf einer grauen Decke einen alten Bernhardiner, der im Schlaf mit den Pfoten zuckte. Volta richtete sich wieder auf.
»Also, Cavelli, was genau wollen Sie von mir?«
Cavelli erklärte es ihm, gab aber als Grund die ungeklärten Umstände an, die zu Kardinal Fontanas Tod geführt hatten, und dass der Grand Knight der Washingtoner Columbusritter möglicherweise Informationen hätte, die zur Aufklärung beitragen könnten. Volta hörte mit unbewegter Miene zu. Dann erhob er sich langsam.
»Ich werde ein paar Telefonate führen. Warten Sie hier. Aber ich verspreche nichts. Ich werde auch niemandem sagen, weshalb Sie kommen. Damit will ich nichts zu tun haben, verstanden? Ich versuche, Ihnen eine Unterredung zu vermitteln, und basta!«
Cavelli und Pia nickten. Volta ging zur Tür und öffnete sie, dann drehte er sich noch mal um.
»In der Kanne dort ist Kaffee, und da sind auch irgendwo Tassen.« Er deutete auf eine altmodische Anrichte, die ebenfalls voller Bücherstapel war, dann verließ er das Zimmer.
Pia und Cavelli standen in dem großen Zimmer und warteten. Keiner von ihnen hatte das Bedürfnis, sich zu setzen. Es wäre ohnehin schwierig gewesen, da alle Sitzgelegenheiten außer Voltas eigener mit Büchern und Aktenordnern belegt waren. Nur die Schlafgeräusche des Bernhardiners unterbrachen die Stille.
Schließlich brach Pia das Schweigen. »Kaffee wäre jetzt vielleicht wirklich ganz gut. Für Sie auch?« Pia ging zur Anrichte.
Cavelli schüttelte den Kopf. »Ich passe.«
Pia entdeckte die Kanne auf einem Silbertablett, es war keine Thermoskanne, sondern die Glaskanne einer Kaffeemaschine, und der Kaffee war längst kalt geworden. Pia stellte die Kanne wieder zurück. Dann bemerkte sie neben dem Tablett etwas, das wie ein Bogen Briefmarken aussah. Viele kleine an den Kanten perforierte Bilder, die alle die Jungfrau Maria darstellten. Pia stutzte.
»Da ist ja gar kein Porto drauf.«
»Bitte was?«
»Auf diesen Briefmarken ist gar kein Porto drauf.« Sie hielt den Bogen hoch.
Cavelli warf einen nervösen Blick zur Tür. »Pia, wir sollten hier am besten nichts anfassen. Sie haben doch gesehen, wie Volta auf Fremde reagiert.«
Pia legte den Bogen zurück und trat einen Schritt von der Anrichte weg. »Meinetwegen, trotzdem merkwürdige Briefmarken.«
Cavelli warf erneut einen Blick zur Tür, um sicher zu sein, dass Volta nicht zurückkam. »Kommen Sie her.« Er winkte Pia zu sich.
»Warum?«
»Weil ich hier nicht so laut sprechen will.«
Pia trat dicht an ihn heran. Er beugte sich zu ihrem Ohr hinab.
»Das sind heilige Essbilder.«
»Wie bitte?«
»Ja, die werden zusammengerollt und runtergeschluckt.«
»Wozu denn?« Pias Stimme war eine Mischung aus Schreien und Flüstern.
»Als eine Art heilige Medizin oder einfach ein Mittel, um noch heiliger zu werden.«
»Ich fass es nicht.«
»Das ist noch gar nichts, sehen Sie mal dort.« Er deutete auf eine etwas zwanzig Zentimeter große tönerne Marienstatue, aus der fast der ganze mittlere Teil herausgekratzt war. »Das ist eine Schabemadonna.«
»Warum ist die so beschädigt?«
»Man muss sich das in etwa wie eine Salami vorstellen: Immer, wenn man Appetit auf etwas Heiligkeit hat, kratzt man sich ein Stück heraus und schluckt es mit etwas Wasser hinunter.«
»Irre!« Pia kicherte in sich hinein. »Mir war ja schon vorher klar, dass der Typ eine totale Vollmeise hat, nur nicht, dass die sogar noch gewaltiger ist, als ich es je für ...«
Volta trat ein. Er schloss die Tür und warf ihnen einen misstrauischen Blick zu. Dann wandte er sich an Cavelli.
»Es war nicht einfach, aber Sie haben jetzt einen Termin beim Grand Knight der Columbusritter in Washington.« Er drückte Cavelli einen Zettel mit einer Adresse in die Hand:
Grand Knight Ogden Byrd
5034 Wisconsin Ave.
Washington D.C.
Cavelli lächelte. »Großartig. Wann?«
»Morgen früh um zehn.«
»Morgen schon? Das ist zu schnell, wir müssen ...«
Volta fuhr ihm unwirsch dazwischen. »Dann lassen Sie es eben. Sie haben noch Glück mit morgen, danach ist er für mehrere Wochen in Südamerika unterwegs – aber gut, wenn Sie so lange warten wollen ...«
»Morgen ist wunderbar.« Pia lächelte Volta dankbar an. Cavelli sah überrascht zu Pia hinüber, die ihn mit hochgezogenen Augenbrauen auffordernd ansah. Er wandte sich wieder zu Volta.
»Morgen ist wunderbar.«
»Na also. Gute Reise.« Volta machte eine Kopfbewegung zur Tür. Cavelli und Pia verabschiedeten sich und verließen das Haus. Sie hörten noch, wie hinter ihnen wieder die Tür verriegelt wurde. Pia schüttelte sich.
»Nichts wie weg hier.«
Sie stiegen in den Wagen. Cavelli startete den Motor. Dann wandte er sich zu Pia. »Wieso hatten Sie eigentlich so schnell eine Bibelstelle parat? Ich dachte, so was interessiert Sie nicht.«
»Tut’s auch nicht, aber ich liebe Filme.«
»Ich verstehe nicht.«
»Das war keine Bibelstelle. Das war aus Pulp Fiction.«