Was Dr. Ritter zu berichten hatte, war das Folgende: Bei diesem Ohr handelte es sich entgegen der anatomischen Gestalt nicht um das eines Menschen, auch nicht um ein künstliches, wie es Genetiker aus dem Körper einer Maus hatten herauswachsen lassen, nein, dieses Ohr schien zu einer bislang namenlosen Spezies zu gehören, die bereits lange unter den Menschen lebte, allerdings über den Vorteil der Unsichtbarkeit verfügte. So, wie man das den Toten und Gespenstern nachsagte.
Allerdings waren diese Wesen in keiner Weise übernatürlich. Sondern unerkannt, was etwas anderes ist. So unbeschrieben wie ihr genaues Aussehen blieb auch die Frage ihrer Herkunft. Ob man sie also als terrestrische Kreaturen ansehen mußte, die möglicherweise schon vor den Menschen existiert hatten, oder aber als eine außerirdische Lebensform, deren hauptsächliches Dilemma darin bestand, einerseits, wie die Menschen auch, ohne die Aufnahme von Wasser nicht existieren zu können, andererseits den Regen aus nachvollziehbaren Gründen fürchten zu müssen. Denn der Erhalt der Tarnung schien für sie von größter Bedeutung. Es hätte ansonsten viel mehr Sichtungen dieser Wesen geben müssen, mehr Beweise für deren Existenz.
Somit war naheliegend, daß ihr Geschick, Wasser aufzunehmen, aber eine Benetzung ihrer Haut zu vermeiden, beträchtlich sein mußte. Spüren freilich konnte man sie immer wieder: ihre Präsenz, ihr Dabeisein vor allem in den Innenräumen, ihr Zuhören bei unseren Gesprächen, ihr Aushorchen unserer Seelen, ihre feinen Einflüsterungen, ihr Klopfen, ihre Schritte, ihre Berührungen, wenn sie uns über die Haare strichen, ihr Gewicht, wenn sie, während wir schliefen, auf unseren Brüsten hockten und uns Alpträume vom Ersticken bescherten, während natürlich andere der Versuchung erlagen, uns geschlechtlich nahezukommen, und damit Träume von ganz anderer Art provozierten.
Warum sie all dies unternahmen, aus ihrer Unsichtbarkeit heraus den Menschen nahe waren, unter ihnen lebend, vertraut und fremd zugleich, geisterhaft und dennoch vollkommen stofflich, nun, das war kaum zu sagen, auch kein Thema der Wissenschaft, weil eben selbst die Wissenschaft nichts von ihrer Existenz wußte. Dieses eine Ohr, das hier im Weinrot der Schatulle lag, stellte ein Novum dar. Es war nicht auszuschließen, daß es ebenfalls einer van-Gogh-artigen Situation zu verdanken war, indem eben eines dieser Lebewesen … nennen wir sie behelfshalber die »Unsichtbaren«, sich also einer der Unsichtbaren eins seiner Ohren abgeschnitten und solcherart die Kontrolle über einen Körperteil verloren hatte. Im Grunde unentschuldbar für eine von ihrer Tarnung lebende Gattung, die möglicherweise seit Jahrhunderten unentdeckt inmitten der Menschheit existierte. (Übrigens bestand eine ähnliche Theorie, nach welcher eine außerirdische Kultur in der Gestalt von Kindern unter uns lebte, ein Kinderleben vortäuschend, in die Schule gehend, sich kindhaft gebend, die Kinderzimmer als Schaltzentralen ihrer Rasse benutzend, nicht zuletzt Erwachsene manipulierend, die sich als Eltern dieser Kinder wähnten. Nur die Kinder selbst, die richtigen Kinder, bemerkten hin und wieder, daß sich fremde Wesen unter ihnen aufhielten, Wesen, denen es an einer gewissen infantilen Bösartigkeit mangelte, Wesen, deren Beeinflussungsmethoden einer höheren Sache dienten und nicht dem egoistischen Antrieb, mehr Schokoladetafeln als jemand anders zu besitzen.)
Man kann sich nun vorstellen, welchen hohen Wert dieses eine Ohr besaß. Einerseits als Beweis für die Existenz einer solchen fremden Rasse, vor allem aber auf Grund seiner Fähigkeit, unsichtbar zu werden, sobald das Wasser wieder verdunstet war. Am wichtigsten freilich war das Vermögen dieses Teils eines Organs, sich unabhängig von einem Blutkreislauf selbständig am Leben zu halten. Für wie lange, war die Frage. Aber offensichtlich lange genug, um weiterhin den Zustand der Unsichtbarkeit aufzunehmen beziehungsweise im gegenteiligen Zustand nicht wie ein angefaultes Zombieohr auszusehen, weder bleich noch blutarm, sondern ganz so, wie man sich das bei einem leicht sonnengebräunten Ohr eines durchschnittlichen Mitteleuropäers vorstellte, ohne jetzt behaupten zu können, die Unsichtbaren würden in ihrer gesamten Erscheinung an durchschnittliche Mitteleuropäer erinnern.
Vom Ohr auf das Ganze zu schließen wäre nun sicher Aufgabe der Wissenschaft gewesen. Das einzige aber, was bislang analysiert worden war, war jene Substanz, die fälschlicherweise einer unbekannten Varietät der Dahurischen Lärche zugeordnet worden war, in Wirklichkeit aber aus diesem Ohr stammte. Nicht die Absonderung eines Lärchenzapfens, sondern die eines äußeren Gehörgangs, welche, wie es schien, einmal isoliert vom Ohr, dauerhaft sichtbar wurde. Zudem war diesem Sekret jene intensive Geruchsentwicklung zu verdanken, die Ivo gleich beim Öffnen der Schatulle bemerkt hatte, allerdings nicht aasartig, wie von den Bremern behauptet, vielmehr breitete sich eine schwer zu identifizierende Mixtur aus: Gutes und Schlechtes, Fauliges und Frisches, Natürliches und Künstliches. Ein Rosengarten, der sich an eine Chemiefabrik anschließt.
Somit war davon auszugehen, daß man jene Wesen, wenn schon nicht sehen, so wenigstens riechen konnte. Zumindest, wenn sie einem nahe genug waren. – Nun, wer war schon in der Lage, zu sagen, woher genau ein starker Geruch kam. Beziehungsweise, ob die Quelle, die man jeweils vermutete, auch die tatsächliche war. »Du stinkst heute wieder!« »Ich habe mich gerade gewaschen!« »Du stinkst trotzdem!« »Das sagst ausgerechnet du!«
Wie auch immer, die Bedeutung des Inhalts dieser Schatulle wurde einem jeden, der hier im Lärchenwald stand und Dr. Ritter zuhörte, ziemlich klar. Kein Ohr auf der Welt war bedeutender als dieses. Und wie um alle bedeutenden Dinge war ein Kampf entbrannt. Ein Kampf zwischen Dr. Ritter, Romanow und Lopuchin, welche gewissermaßen den Kampf, der noch folgen sollte, den zwischen verschiedenen Konzernen und Geheimdiensten, die zukünftig in den Besitz dieses Fremdorgans zu kommen versuchen würden, vorwegnahmen. Die drei Männer hatten ursprünglich ein Team gebildet, waren so etwas wie Freunde und Weggefährten gewesen, die sich die Macht an verschiedenen Orten geteilt und fruchtbringende Geschäftsbeziehungen gepflegt hatten. Am fruchtbringendsten hätte natürlich die Veräußerung jenes Ohrs werden sollen, das von einem der einheimischen Pilzsammler im morgendlichen Tau gefunden worden war. Und damit begann natürlich das Unglück: Ein Sammler findet etwas, und der Jäger jagt es ihm ab.
Es war Romanow gewesen – ein Mann mit einem ausgeprägten Mordinstinkt –, der den Sammler nicht nur um den ungewöhnlichen Fund gebracht, sondern ihn auch getötet hatte. Den eigentlichen Wert dieses »körperlichen Kleinods« hatte wiederum der Arzt Ritter erkannt, eben nicht nur die Fähigkeit des Objekts, sich unsichtbar zu machen, sondern auch dessen Autarkie sowie die pharmakologische Bedeutung der Absonderung. An Lopuchin war es sodann gewesen, seine Kontakte zur »zivilisierten Welt« aufzunehmen und einen geeigneten Käufer zu finden.
Nicht erst durch diverse Schatzinselgeschichten ist bekannt, daß die Gier jegliche Vernunft eliminiert. Die Gier trägt den Menschen, sie kleidet ihn ein, ernährt ihn, beflügelt seine Phantasie, und irgendwann tötet sie ihn – wie man so sagt, sie frißt ihn auf. Sosehr Ritter, Romanow und Lopuchin anfänglich den Nutzen einer Dreiteilung nicht nur der Pflichten, sondern auch des künftigen Gewinns erkannt hatten, meinten sie nach und nach die jeweils anderen beiden ausbooten zu können. Dies entsprach zwar den Prinzipien modernen Wirtschaftens, dennoch wäre es sinnvoller gewesen, die guten Sitten walten zu lassen. Allerdings hatte diese Geschichte ja mit einem Mord begonnen, dem Mord an einem Pilzsammler, und war somit von Beginn an vergiftet gewesen.
Lopuchin, der damals noch in Toad’s Bread gewesen war, hatte die Schatulle an sich gebracht und sie im Lärchenwald versteckt, war dann aber im Zuge einer verbotenen kriminellen Tat aus der Stadt gewiesen worden, ohne zuvor nochmals jenen Baum aufsuchen zu können, dessen Standort er allein kannte. Obgleich er in der Folge in Ochotsk an Macht und Einfluß gewann, schließlich zum »Zaren« reifte, blieb ihm die Rückkehr in die Verbrecherrepublik verwehrt. Während hingegen Dr. Ritter sich weiterhin ungehindert an diesem Ort bewegen konnte und einigen Einfluß nicht nur über die Zähne der Leute entwickelte. Aber dennoch nirgends auf die Antwort stieß, wo Lopuchin die Schatulle versteckt hatte.
Romanow wiederum, der Jäger, zudem Besitzer einer Jagdhütte, hielt sich in den Wäldern des Dschugdschur verborgen und hatte mit Hilfe eines alten Freundes – richtig, Professor Oborin, der Mann grenzwertiger Kommunikation – eigene Kontakte nach Europa hergestellt, zu einem Bremer Konzern. Genau zu jenem pharmazeutischen Unternehmen, das alsbald Ivo Berg engagierte, sich auf den Weg nach Russisch-Fernost zu machen. Schwer zu sagen, ob die Bremer ahnten, daß die neuartige Substanz nicht von einem ominösen Lärchenzapfen, sondern einem ominösen Ohr herstammte. Denn selbst Madame Fontenelle war ja dem Irrtum erlegen, die ganzen Anstrengungen der Europäer, in diesen Bereich von Toad’s Bread vorzudringen, hingen mit dem Baum zusammen.
Worüber die Bremer jedenfalls verfügten, war die Zahl fünfhundertneunundzwanzig, die ihnen Romanow übermittelt hatte. Immerhin war er es gewesen, der ursprünglich das Ohr in der kleinen Kiste versteckt hatte.
Fünfhundertneunundzwanzig! Diese Nummer kannte Romanow, nicht aber die Nummer des Baums, den Lopuchin ausgewählt hatte. Ganz klar, wären die drei Männer zu einer dreifaltigen Verbundenheit bereit gewesen, sie hätten die besten Chancen auf ein gutes Geschäft gehabt: ein Mörder, ein Zahnarzt und ein Zar. So aber herrschte Krieg.
Lopuchin hatte zwischenzeitlich herausgefunden, daß Dr. Ritter zu denen gehörte, denen er verdankte, aus Toad’s Bread hinausgeworfen worden zu sein. Derselbe Dr. Ritter, der sich später gezwungen sah, in Ochotsk aufzutauchen, um sein Recht geltend zu machen, wenigstens, um Lopuchin ein Geschäft anzubieten. Statt dessen empfing er von Lopuchin eine deutliche Markierung seiner Gesichtshaut, die ihn in Ochotsk zur Persona non grata machte.
Alles, was in der Folge geschah, war Resultat jener in der Welt so üblichen Uneinsichtigkeit, die darin besteht, nicht zu erkennen, daß wo es Verlierer gibt, ein Frieden unmöglich wird. So banal diese Erkenntnis, so unmöglich ihre Umsetzung. Der Mensch ist nämlich kein Tier, das durch Fehler lernt, sondern vielmehr im Fehler den eigentlichen Zweck erkennt. Die menschlichen Lernprozesse dienen der Perfektion des Fehlers.
Die Fehler sind wie Teilchen, die kollidieren, verschmelzen und Energie freisetzen.
Wozu auch gehörte, daß Romanow nach Ochotsk zurückkehrte und dort die eigene Liquidierung inszenierte. Er hielt es für besser, als angeblich »toter Mann« nach Toad’s Bread zu gehen. Aber auch als solcher erfuhr er, daß Lopuchin ausgerechnet jenen von den Bremern geschickten Ivo Berg rekrutiert hatte, die Schatulle zu besorgen, auch wenn Ivo damals glauben mochte, sich in erster Linie auf der Suche nach einer Lärche zu befinden. Romanow ahnte, daß Ivo zu jener Jagdhütte gelangen würde, die früher ihm selbst gehört hatte. In keinem Fall wollte er, daß Ivo bis nach Toad’s Bread gelangte. Weshalb er seine Leute – die zwei Jagdführer aus Magadan – instruierte. Den beiden gelang es in der Folge, zusammen mit einer touristischen, der banalen Schafsjagd müden Herrenrunde, Ivo, Galina und Spirou in eine Hetzjagd zu verwickeln, wohl nicht, um sie auch wirklich zu töten, sondern einfach, um im Zuge des Vergnügens Angst zu bereiten, die drei zur Rückkehr nach Ochotsk zu zwingen. Aber man hatte eben nicht wissen können, wie sehr eine gewisse Suppenköchin auch noch zu anderen Dingen als der Zubereitung magischer Brühen imstande war.
Und so kam es, daß man hier stand, in dieser unterirdisch märchenhaft-pupurfarbenen Idylle, und Dr. Ritter am Schluß seiner Darlegungen eine Pistole zog. Nicht hektisch, eher mit der Gelassenheit des Arztes, der er war, nicht nur Zahnarzt, sondern ursprünglich Genetiker, so daß man sich wirklich nicht mehr wundern mußte, wie groß sein Interesse an einem solchen Ohr war und wie wenig ihn die pekuniären Interessen Lopuchins sowie die des (un)seligen Romanow kümmerten. Er wollte das Ding an sich. Dafür hatte er sich in Fontenelles Lärchenwald eingeschmuggelt, so wie auch seine Waffe als eine eingeschmuggelte gelten mußte. Denn auch mit ihr konnte man scharf schießen. Dies war deutlich zu erkennen, nämlich gerade dadurch, daß die Mündung leer schien, während Betäubungswaffen an dieser Stelle sichtbar ihre Pfeile trugen. Nein, diese Beretta war keine umgebaute. Erneut wurde somit die wichtigste Regel von Toad’s Bread ignoriert. Es war ein Jammer!
»Geben Sie jetzt her!« wies Dr. Ritter Ivo Berg an und zeigte mit dem Pistolenlauf auf die Schatulle, dann auf Ivo.
Madame Fontenelle meinte: »Das ist geschmacklos, Dr. Ritter! Ein Arzt, der mit einer Waffe herumfuchtelt.«
»Würde es jemand beeindrucken, wenn ich mit der Deklaration der Menschenrechte herumfuchtelte?«
»Werden Sie nicht frech, nur weil Sie in der Lage sind zu töten.«
Stimmt, die Fähigkeit zu töten war selten dazu angetan, ein besseres Benehmen hervorzurufen. Dies war auch Dr. Ritter peinlich bewußt. Dennoch, er war seinem Ziel einfach zu nahe, um darauf zu verzichten, ein unhöfliches, aber zwingendes Mittel einzusetzen. Darum erklärte er, zur Not auch zu schießen, nicht auf eine todbringende Stelle, zumindest nicht mit Absicht, leider aber sei seine Kenntnis der Anatomie weit besser als seine Schießkünste. Was eine Lüge war, wenn man bedachte, daß Ritter ein gutes Auge bewiesen hatte, als er eine Betäubungspatrone in Lilli Steinbecks Brust untergebracht hatte. Aber es entsprach wohl seiner pädagogischen Ader, nicht mit seinem Können, sondern mit seinem angeblichen Unvermögen zu drohen.
Ivo jedenfalls wollte es nicht darauf ankommen lassen und sagte: »Mein Auftrag lautet, einen Baum nach Deutschland zu befördern, nicht ein Ohr. Nehmen Sie das Ding.«
»Bringen Sie es mir«, forderte der Ungar.
In diesem Moment trat aber Kallimachos in die Schußlinie, und zwar mit jener Schnelligkeit, mit der sich etwa Planeten bewegen, Gasriesen. Ja, der Große Grieche war ein Gasriese, um den herum einige Monde kreisten.
Dr. Ritter schoß. Ohne es wirklich zu wollen. Eher aus einem Reflex heraus, der der Plötzlichkeit zu verdanken war, mit der Kallimachos ins Spiel gekommen war.
Wie sich nun zeigte, stimmte die Legende. Die Legende vom unverwundbaren Griechen. Was natürlich Lilli Steinbeck nicht überraschte. Sie hatte es mehrmals erlebt, wie Projektile, selbst ganze Sprengsätze, um Kallimachos einen Bogen machten. Also weder durch ihn hindurchgingen – wie man bei einem Gasriesen hätte vermuten können – noch abprallten wie im Falle von Supermännern. Nein, die Kugel, die Ritter losgeschickt hatte, und zwar in Richtung von Kallimachos’ Bauchmitte, beschrieb eine starke Krümmung, dehnte den eigenen Raum und wand sich haarscharf am Großen Griechen vorbei, woraus sich eine Flugbahn ergab, die glücklicherweise in der Folge niemand kreuzte, dafür jedoch in jener Dahurischen Lärche steckenblieb, die noch vor kurzem eine Schatulle in sich getragen hatte. Das schien das Schicksal dieses Baums zu sein, Artefakte zu beherbergen. Sein hölzernes Stöhnen verriet weniger einen körperlichen Schmerz als Verachtung für die eigene unglückliche Verwurzelung.
Das Unglück hielt aber noch anderes bereit. Oder vielleicht konnte man es auch Glück nennen, wenn man sich vorstellte, Ritter würde gleich durchdrehen und einfach wild drauflosschießen, um doch noch mehr als einen Baum zu treffen. Dazu aber kam es nicht. Denn da war noch eine zweite scharfe Waffe im Spiel. Nicht Lillis Verlaine-Pistole, welche Madame Fontenelle ordnungsgemäß in einem Schrank verwahrt hatte, sondern es war Galina, die ja fortgesetzt jene Waffe unter dem Pullover trug, mit der sie einem der touristischen Jäger im Dschugdschurgebirge ins Bein geschossen hatte. Genau dieses Instrument holte sie jetzt hervor, erneut aus ihrem Schweigen ausbrechend, womit sie nicht nur bewies, nicht stumm zu sein, sondern auch mitnichten taub. Sie sagte: »Only a dentist.« Und feuerte. Somit erneut auf den Matrix-Film anspielend, diesmal aber konsequenter, indem sie nicht bloß in das Bein des Gegners schoß, sondern – so wie die Trinity im Film – auf die Schläfe zielte und die Schläfe traf.
Schrrrrap!
Ritter drehte seinen Kopf in Richtung der Schützin, betrachtete sie mit zusammengekniffenen Augen, in denen sich ein Rot spiegelte, vielleicht vom Blut, vielleicht vom Meer der Fliegenpilze, und sagte endlich: »Eigentlich bin ich Virologe.« Dann fiel er um.
Es war Madame Fontenelle, die in der bekannt perfekten Art in die Knie ging, sich zu ihrem ehemaligen Mitarbeiter hinunterbeugte, ihm in die erstarrten Augen schaute und erklärte, er sei tot. Es schwang etwas wie Befriedigung in ihrer Stimme, obgleich ihr Dr. Ritter ja lange sympathisch gewesen war. Aber das ist wie mit mancher Architektur, die nur so lange schön ist, solange man nicht weiß, worin ihr eigentlicher Zweck besteht.
»Und jetzt?« fragte Ivo, der ja noch immer das Behältnis in seinen Händen hielt, wobei sich die Konturen des Ohrs aufzulösen begannen und die Farben langsam verblaßten. Man meinte den aufsteigenden Wasserdampf zu sehen, so, als besitze dieses Ohr – dieses atmende Ohr – eine sehr viel höhere Körpertemperatur als im Falle der Menschen.
»Romanow und Ritter sind tot«, konstatierte Fontenelle, »und ich will nicht sagen, daß es um Lopuchin schade wäre, würde ihm ebenfalls etwas zustoßen. Was ich so über den Kerl gehört habe. Aber es wird ihm ohnehin nicht gelingen, je wieder nach Toad’s Bread zu gelangen. Er wurde verbannt, und dabei bleibt es.«
Ivo entgegnete, daß immerhin er selbst sowie die anderen aus der Gruppe ohne jede Kontrolle in die Stadt gelangt seien.
»Glauben Sie mir«, meinte Fontenelle, »wären Sie nicht willkommen gewesen, stünden Sie jetzt nicht hier. Der Sinn der Kontrolle ist ja wohl kaum, daß jeder sie sehen kann. Das ist wie bei gewissen Ohren. Man könnte sagen, die Kontrolleure von Toad’s Bread stehen nie im Regen.«
»Sie sollten aber nicht vergessen«, blieb Ivo stur, »daß ich nicht zuletzt im Auftrag Lopuchins mich an diesem schönen Ort befinde. In seinem und in dem einer deutschen Firma.«
Die Madame schüttelte stumm den Kopf. Es war Lilli, die an Ivo herantrat und die Schatulle – ohne sie ihm aus der Hand zu nehmen – schloß. Dann gab sie ihm einen Kuß auf die Wange, genau auf die Stelle einer kreisförmigen Anordnung kleiner Narben.
Wieviel war ein Kuß auf dieser Welt wert? Etwa im Vergleich zu surreal hohen Bonizahlungen? Im Vergleich zu all den Produkten im militärischen und privaten Bereich, die sich aus einer optimalen Tarnvorrichtung entwickeln ließen? Im Vergleich zu den revolutionären Erkenntnissen, die man aus einem autark existierenden Gehörorgan gewinnen könnte? Im Vergleich zur persönlichen Sicherheit, die sich daraus ergab, einem Herrn Lopuchin das zu bringen, wonach er begehrte? Im Vergleich zur Bezahlung ausgeführter Aufträge, was auch immer von diesen Aufträgen zu halten war? Im Vergleich …
Konnte man einen solchen Kuß, einen Lillikuß, überhaupt mit irgend etwas vergleichen? Das war natürlich eine pathetische Frage. Aber Ivo stellte sie sich trotzdem. Das Pathos zwang ihn, sich diesen Lillikuß als die ultimative Antwort auf alle Fragen zu denken. Und im Gegensatz zu Wittgenstein, der einst erklärt hatte, dank seines Tractatus die Probleme im wesentlichen endgültig gelöst zu haben, dann aber abschließend postulierte, es zeige sich, »wie wenig damit getan ist, daß die Probleme gelöst sind«, im Gegensatz dazu also meinte Ivo Berg den hohen Grad der Problemlösung zu begreifen, der sich aus der Wirkung dieses Kusses ergab.
Er sagte: »In Ordnung.« Er hauchte es nicht, sondern sprach klar und deutlich. Er verzichtete somit auf eine Verarschung des Pathos und ging statt dessen daran, erneut den Baum hochzuklettern. Mit der üblichen Gewandtheit gelangte er an die Stelle nahe der Krone, wo er die Schatulle in die angestammte Stelle fügte. Es war, als schließe er eine Wunde.
»Ist das denn klug?« fragte der Baum.
»Du meinst, den weiten Weg zu machen, um jetzt alles beim alten zu lassen?«
»Nein, ich frage mich nur, ob es nicht sinnvoller wäre, ein neues Versteck zu finden. Eines, das dieser Lopuchin nicht kennt.«
»Stimmt, das wäre vernünftig. Andererseits ist es doch so, daß Lopuchin genau das Richtige getan hat. Dieser Platz ist perfekt: das Ohr unsichtbar in der Schatulle, die Schatulle im Baum, der Baum unter der Stadt, die Stadt unter der Erde.«
»Ein anderer Baum würde es auch tun«, wandte der Baum ein.
»Stimmt«, sagte Ivo, »aber dann würde hier eine Lücke bleiben.«
»Man könnte eine zweite Schatulle anfertigen.«
»Ja, doch das wäre ein Betrug.«
»So ehrlich?«
»So ehrlich«, sagte Ivo, drückte mit der Hand gegen den Korpus, so daß die Unterseite in die Halterung einklinkte und sich an der Oberfläche die alte Einheit von Baum und Artefakt ergab. Die Ordnung war wiederhergestellt. Man konnte diese Ordnung geradezu spüren. Wozu auch zählte, daß Dr. Ritter tot war, ein zweites Mal gestorben, denn auch er war selbstverständlich mit einem Pfeil in der Brust durch die Gegend gelaufen. Sein wirkliches Leben hatte er schon vor vielen Jahren beendet gehabt, damals in Ungarn, als er noch bei seiner Familie gewesen war. Man konnte sagen, die Kugel aus Galinas Pistole hatte Dr. Ritter erlöst.
Nun, bekanntermaßen waren auch Lilli und Ivo mit derartigen Pfeilen ausgestattet, Pfeile, die da so unsichtbar wie ein gewisses Ohr aus ihren Brüsten ragten. Aber im Augenblick des Kusses, als Lilli ihre Lippen auf Ivos Narbe abgelegt hatte, hatte dies nicht bloß eine schöne Erinnerung an das alte, wirkliche Leben ausgelöst, nein, in diesem einen Moment war die Vergangenheit das Jetzt gewesen: sichtbar, spürbar, heutig und wirksam.
Jetzt freilich, da Ivo vom Baum stieg, war die Vergangenheit längst wieder ins Vergangene, ins Verlorene zurückgefallen. Aber die Liebe, die Ivo für Lilli empfand, war ungebrochen. Denn auch Tote, auch Leute mit Pfeilen in ihren Brüsten, können lieben.
Man machte sich auf den Weg, den Lärchenwald zu verlassen. Dr. Ritter ließ man liegen. Fontenelle erklärte, sich später darum zu kümmern. Eine Leiche könne warten. Zuerst einmal würde sie sich bemühen, die Ewenken dazu zu überzeugen, Lilli freizulassen. Und es war gar keine Frage, daß man dem Wunsch der Meisterin des Lärchenwaldes und der Fliegenpilze entsprechen würde. Um so mehr, da ja Kallimachos überhaupt nicht daran dachte, ebenfalls nach Europa zurückzukehren. Im Gegenteil, mit Galina hatte er eine neue Frau an seiner Seite, eine, die noch besser zu ihm paßte als Lilli.
Richtig, auf diese Weise würde Professor Oborin seine Tochter verlieren. Aber so waren die Dinge nun mal angelegt.
Noch einmal richtig: Lopuchin würde toben, wenn er erfuhr, daß Ivo Berg unverrichteter Dinge Toad’s Bread verlassen hatte, ohne Schatulle, auch ohne Baum, alles belassend, wie es war. Und weder der Tod Romanows noch der Dr. Ritters könnten Lopuchin helfen, ein wenig Freude zu empfinden. Er würde toben und toben. Und aus der Wut heraus neue Pläne schmieden. Aber im Endeffekt würde auch er begreifen müssen, daß das Ohr verloren war. Verloren in seiner natürlichen Unsichtbarkeit. Verloren in einem Wald, der mit einer Macht ausgestattet war, die mit größter Ruhe die Dinge und Menschen und Pilze beherrschte.
Es war Abend geworden. Die Vögel sangen ihre Einschlaflieder. Die Pflückerinnen brachten ihre Ernte ein. Lilli überlegte, ob das vielleicht der richtige Platz sein könnte, um die Fellpuppen – die beiden Ongghots in ihrer Tasche – im Wald abzulegen. Denn schließlich waren die beiden toten Frauen Pflückerinnen gewesen. Dann aber fiel Lilli ein, daß die eine Tote, Valerija, offenbar davon geträumt hatte, in den Westen zu gehen, um ein Model, ein Star zu werden. Und daß auch der Kunstname »Jola Fox« eine gewisse Sehnsucht nach der Westwelt nahelegte, der Glitzerwelt, wo alles, auch der Dreck der Straße, den süßlichen Charme eines Swarovski-Schlüsselanhängers besaß. Ja, die Westwelt war eben mehr ein Anhänger als ein Schlüssel. Wie auch immer, Lilli beschloß, die Puppen mit nach Europa zu nehmen und darauf zu warten, bis ein besonderer Ort sich anbot, die Ongghots totemartig zu plazieren.
Madame Fontenelle begab sich zurück in ihr Büro, wo sie einer geheimen Leidenschaft, dem Alkohol, folgte. Das geheime Trinken mag vielerorts als Ausdruck einer speziell weiblichen Krankheit verpönt sein, vom Standpunkt der Würde ist es sehr zu empfehlen. Denn das Saufen in der Gruppe ist wie der Gruppensex: eine Unart, die der Schöpfung widerspricht.
Während also die Madame den Deckel einer hübschen Karaffe aus Kristallglas lüftete und einen mit Fliegenpilzstückchen versetzten Likör sich einfüllte, gelangte die kleine Familie hinauf ins Museum, zurück ins Schwarzweiß, zurück in die Stadt, die in der Nacht versank. Man steuerte das Hotel an.