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In der Lobby angelangt, erklärte Lilli: »Ich habe noch was zu erledigen.«

»Darf ich dich begleiten?« fragte Ivo.

Lilli nickte. Vorher aber brachte sie Spirou zu Bett. Spirou konnte sich nicht erinnern, je ins Bett gebracht worden zu sein. Als Baby war er wohl ins Bett gelegt worden, später ins Bett gefallen, todmüde vom Tag und vom Leben, aber so richtig gebracht zu werden … Ja, Lilli, die bekanntermaßen einen guten Schlaf zu schätzen wußte und überzeugt war, zum guten Schlaf gehöre ein gutes Einschlafen, erzählte Spirou, dem Dreizehnjährigen, eine Gutenachtgeschichte. Sie war geschickt darin. Eine Geschichte über einen Planeten, der sich ständig wegbewegt, wenn man sich ihm nähert. Unabänderbar. Und daß die Astronauten irgendwann begreifen, wie wichtig es ist, etwas zu haben, was man nicht haben kann. Es hörte sich an, als sei Lilli dabeigewesen.

Als Spirou schlief, verließ sie das Zimmer und traf Ivo in der Hotelhalle. Er sagte: »Er ist ein süßer Kerl, nicht wahr?«

»Ja, sicher, wir nehmen ihn mit nach Hause.«

»Wir?«

»Ich will damit sagen, ich werde dir helfen, ihn heil nach Deutschland zu bringen. Das ist alles. Und jetzt komm, ich muß ein Buch abholen.«

Eine gute Stunde später erreichten sie den Laden des Puppenmachers. Nicht ohne sich ein paarmal verirrt zu haben, was kaum störte, weil die Zeit jetzt wieder ein schönes, rundes Weib war. Es war Nacht in Toad’s Bread. Schwarzweiße Nacht. Im Laden brannte noch Licht. Lilli sah auf die Uhr. Demnächst würden die Farben zurückkehren.

 

»Ach Sie«, meinte Giuseppe Tyrell, der noch immer hinter seinem Arbeitstisch saß, fortgesetzt einen Smoking tragend. Vor ihm lagen eine kleine Apparatur und etwas Werkzeug. Links davon jene stark zerlesene Taschenbuchausgabe von Thomas von Kempens Die Nachfolge Christi. Auf der anderen Seite befand sich das aufgeschlagene Photoalbum, in das bereits die Bilder eingefügt waren, die das Duo Lilli & Yamamoto zeigten. Die soeben aufgenommenen Photos des Duos Lilli & Ivo würden folgen.

Tyrell nahm die Uhrmacherlupe aus seinem rechten Auge und fragte Lilli, wobei er Richtung Ivo blinzelte: »Haben Sie den Kollegen ausgetauscht?«

»Herr Berg ist ein alter Freund.«

»Oh ja, Mister Berg also«, sagte Tyrell, der diesen Namen offensichtlich nicht zum ersten Mal vernahm. Die Frage, die er aber stellte, ging an Lilli: »Wo sind die Photos?«

Lilli legte die drei Bilder auf den Tisch.

»Schön! Und? Haben Sie Breschnew erwischt?«

Breschnew? Richtig, so war Romanow anfänglich bezeichnet worden, als Breschnew. Lilli erzählte, was geschehen war, wie sich der Mörder dem Zugriff der Polizei entzogen hatte.

»Eigentlich ein sauberer Abschluß«, kommentierte Tyrell, nahm die drei Bilder, die also einen toten Mann zeigten, und fügte sie zurück in die Halterungen des Photoalbums. Lilli wiederum faßte nach dem zergriffenen Exemplar der Nachfolge Christi und deponierte es in der wohldurchdachten Ansammlung ihrer blauschwarzen Handtaschenhöhle.

»Warum hängen Sie eigentlich so an dem Buch?« fragte der Puppenmacher.

»Warum hängen Sie so an Ihren Photos?«

Tyrell murmelte etwas Unhörbares. In dieses Murmeln hinein bat Lilli ihn um zwei Puppen, zwei von den Fellpuppen. Welche sie natürlich bezahle.

»Haben Sie jemand zu beerdigen?« fragte Tyrell. »Oder denken Sie einfach an die Zukunft?«

»Sowohl als auch«, antwortete Lilli. Sie plante, die eine Puppe Dr. Ritter zu widmen. Obgleich er keiner von den Guten gewesen war, wollte sie ihm dennoch auf diese Weise etwas Seelenfrieden verschaffen. Und wer war schon restlos gut? Die andere Puppe war in der Tat für Zukünftiges gedacht. Eine Puppe in petto.

Tyrell holte zwei Stück und reichte sie Lilli. Sie zahlte den verlangten Betrag und brachte die beiden Exemplare in ihrer nun vollends vollen Tasche unter.

»Übrigens, Mister Berg«, richtete sich Tyrell nun an den Mann an Lillis Seite, »Professor Oborin wollte Sie sprechen. Ich werde Sie mit ihm verbinden.«

»Sie wissen von Oborin?« staunte Ivo.

»Ich würde sonst kaum seinen Namen kennen, nicht wahr?« Man konnte Tyrell ansehen, wie sehr er die Menschen verachtete. Auch für ihn galt, wie für fast alle Puppenmacher, ein Ausspruch, der gleichfalls aus dem ersten Matrix-Film stammte: Nimm nie einen Menschen, wenn du eine Maschine dafür nehmen kannst.

Tyrell griff zur Seite und stellte ein altes Wählscheibentelephon auf den Tisch, dessen Kabel zwischen den Seiten eines Weltatlas eingeklemmt war. Er hob den Hörer, wählte eine ziemlich lange Nummer und hielt ihn Ivo entgegen. »Hier! Oborin wartet schon.«

»Ja?« sprach Ivo in die Löcher hinein, diese kleinen, schwarzen, runden Münder, die die Stimme aus seinem eigenen Mund einsaugten.

»Was los mit Galina?« vernahm er die Stimme des Professors.

»Es geht ihr gut«, erklärte Ivo. »Aber Romanow ist tot. Was also heißt, daß er gewissermaßen noch einmal gestorben ist. Warum haben Sie uns verschwiegen, daß er noch am Leben war?«

Doch Oborin zeigte sich überrascht. Erklärte, davon überzeugt gewesen zu sein, Romanow sei umgebracht worden, kurz bevor er, Ivo, nach Ochotsk gekommen war. So, wie ja auch von allen behauptet. Richtig, niemand habe die Leiche gesehen. Aber ein Begräbnis habe durchaus stattgefunden.

»Na, was soll’s. Es ist vorbei«, sagte Ivo, erwähnte also nicht einmal, daß Romanow der Mörder von fünf Frauen und in Konkurrenz zu Lopuchin und einem ungarischen Arzt auf der Suche nach einem unsichtbaren Ohr gewesen war. – In der Nacherzählung klingen so viele Dinge unglaubwürdig. Aber in der Nacherzählung klingt eigentlich die ganze Menschheitsgeschichte, die von gestern wie die von heute, ziemlich unglaubwürdig. Denn was, bitte schön, mutet phantastischer an: eine unterirdische Verbrecherrepublik oder etwa ein internationaler Aktienmarkt, der unser Wirtschaftsleben in einer Art und Weise bestimmt, als würde nicht der Kasperl dem Krokodil, sondern das Krokodil dem Kasperl eins auf die Mütze geben?

Übrigens war anzunehmen, daß Romanow es gewesen war, der zwei aus Magadan stammende Jagdführer dazu angestiftet hatte, Ivo Berg unschädlich zu machen. Da ja Ivo praktisch im Auftrag Lopuchins gestanden hatte und somit zu einer weiteren Figur der Auseinandersetzungen geworden war. Allerdings hatten die Jagdführer ihrerseits versucht, einen Baden-Badener und seine Freunde dazu zu bringen, das unschöne Geschäft zu übernehmen und Ivo Berg in waidmännischer Art zu erlegen. Was dann dank der Englischkenntnisse (»Only a hunter!«) und Schießkünste Galina Oborins gründlich schiefgegangen war.

 

»Hören Sie mich?« fragte der Vater ebendieser Schießkünstlerin.

»Ich höre Sie.«

»Haben Sie gefunden Baum?«

»Ja und nein«, antwortete Ivo.

»Egal. Kommen Sie nicht nach Ochotsk zurück. Lopuchin verrückt geworden. Gefährlich wie wilde Natur. Nehmen Sie Junge und gehen heim über Landweg.«

»Genau das hatten wir vor.«

»Und schicken Sie mir Galina.«

»Ich vermute, Ihre Tochter möchte hierbleiben.«

»In Toad’s Bread?«

»Nein, in einem Ewenkendorf in der Nähe. Als Priesterin, als Suppenpriesterin und als Muse eines Mannes, der Kallimachos heißt. Telephonieren Sie mit ihr, sie wird es Ihnen erklären.«

»Erklären? Mit taubstummer Stimme?«

»Ja, das hatte ich vergessen. Aber ich denke, sie ist auf dem Weg der Heilung. Was auch immer sie krank gemacht hat.«

Oborin seufzte. »Töchter sein Flüchtlinge.« Er sagte es und beendete auf solch kryptische Weise das Gespräch.

Ivo reichte den Hörer zurück an Tyrell, der ihn sachte auflegte, sich seine Lupe zurück ins Auge schob und ohne einen weiteren Kommentar wieder daranging, an seiner kleinen Maschine zu arbeiten.

Lilli und Ivo – photographiert für die Ewigkeit – traten aus dem Geschäft.

 

Es war kurz nach Mitternacht, als sie das Hotel erreichten. Den Moment, da die Welt wieder eine gefärbte geworden war, hatten sie kaum wahrgenommen. Erst im Licht der in vielen Orange- und Rottönen gehaltenen Hotellounge wurde deutlich, daß die »Verfinsterung« beendet war.

Ein Mann erhob sich aus einem der tiefen Lederfauteuils. Es war Yamamoto. Er ging auf Lilli zu, während Ivo sich hinüber an die Bar stellte, wo sich Kallimachos und Galina und deren ewenkische Freunde eingefunden hatten.

»Sie haben mich da im Regen stehenlassen«, erinnerte Yamamoto. Und hinüber zu Ivo schauend: »Wer ist das?«

»Jemand von früher.«

»Wie soll ich das verstehen?«

»Gar nicht. Es ist was Privates und muß Sie nicht kümmern. Kümmern muß Sie nur, daß es sich bei dem Mann, den wir Breschnew nannten, um einen gewissen Romanow gehandelt hat. Einen Mann aus Ochotsk. Schon mal den Namen gehört?«

Yamamoto schüttelte den Kopf.

»Und Lopuchin?«

»Natürlich. Wir haben ihn verbannt. Er dachte, er könnte die Prostitution an sich ziehen. Die Frauen und die Behörde haben ihn hinausgeworfen aus Toad’s Bread. Lebenslänglich. Jetzt terrorisiert er die Ochotsker.«

»Er hat hier in der Stadt etwas zurückgelassen und möchte es wiederhaben.«

»Und das wäre?«

»Das müssen Sie nicht wissen«, erklärte Lilli. »Aber seien Sie darauf vorbereitet, daß Lopuchin versuchen wird, Leute einzuschleusen.«

»Wie diesen Ivo da drüben, nicht wahr?« zeigte sich Yamamoto weitsichtig. »Ich könnte ihn fragen, worum genau es geht.«

»Er wird nichts sagen, glauben Sie mir.«

Yamamoto, der Samurai, lachte. Aus seinem Lachen hätte man ein gutes Haiku formen können, ein dreizeiliges Lachen, wo sich eins ins andere fügt, ohne etwas zu erklären. Denn der Wind ist einfach da, er bläst. – Yamamoto erinnerte sich an einen Ausspruch von Yamazaki Kurando, welcher postulierte: »Ein Gefolgsmann, der die Dinge zu sehr durchschaut, ist nicht wünschenswert.« Yamamoto war ein moderner Samurai, einer, der die »Fürstenschaft« Lillis akzeptierte. Er fragte: »Was werden Sie jetzt tun?«

»Nach Europa zurückkehren. Aber nicht über Ochotsk, das wäre unklug. Auch nicht über Magadan oder Chabarowsk. Wir nehmen den Landweg nach Jakutsk.«

»So ein richtiger Weg dorthin existiert eigentlich nicht«, gab Yamamoto zu bedenken.

»Wir schaffen das schon. Ein paar von den Ewenken werden uns führen.«

»Ich habe gehört, Sie haben ein Kind dabei.«

»Richtig, einen Jungen. Wir nehmen ihn mit. Er ist ohne Eltern und wünscht sich das.«

»Man kann auch in Rußland nicht so einfach …«

»Ich habe schon mal ein Kind an den Gesetzen vorbei adoptiert«, verriet Lilli und reichte Yamamoto die Hand. Er gab sie ihr und verbeugte sich. Seine Verbeugung war wie die Vorbereitung auf den Tod. Jemand klopft an die Türe, und man sagt: »Herein!«

 

Am nächsten Tag verließen die kleine Familie und ihre ewenkischen Freunde die Stadt Toad’s Bread. Bald trennte man sich, und Lilli, Ivo und Spirou sowie zwei Führer begaben sich Richtung Westen. Wunderbares Wetter. Im blauen Himmel ein weißer Mond. Schritte auf festem Boden. Spirous rote Mütze. In einem letzten dünnen Rahmen das Wort Ende.