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Einleitung

Im April 2017 meldete sich der Präsident des öffentlichen Fernsehens in Spanien (RTVE), José Antonio Sánchez, in der Casa de América in Madrid mit einer merkwürdigen Rede zu Wort. Eingeladen hatte man ihn, um einige Worte zum Abschluss eines Kooperationsabkommens zwischen den Fernsehsendern und dem seit 1990 mit dem Ausbau der Beziehungen zu Lateinamerika beauftragten Kulturinstitut zu sagen. Doch Sánchez nutzte die Gelegenheit zum Rundumschlag und behauptete, dass die spanische Eroberung des Aztekenreichs keineswegs als kolonialistischer Akt, sondern vielmehr als zivilisatorische und missionarische Leistung zu werten sei. Schließlich hätten die Spanier Kirchen, Schulen und Krankenhäuser in die Neue Welt gebracht sowie ein barbarisches und blutrünstiges Staatsgebilde besiegt. Damit brachte Sánchez wieder einmal eine Debatte in Gang, die nicht zuletzt von nationalen Sensibilitäten geprägt ist. Vor allem in Mexiko meldeten sich in zahllosen Kommentaren die Verteidiger der prähispanischen indigenen Kulturen zu Wort. Ihrer Ansicht nach waren die spanischen Eroberer die wahren Barbaren, hatten sie doch ein kulturell hochstehendes, blühendes Imperium zerstört.[1]

Die Kontroverse ist viele Jahrhunderte alt und immer noch aktuell und das nicht nur im spanischen Sprachraum. Mit dem Eroberungszug gegen Tenochtitlan, der Hauptstadt des Reichs der Mexica oder Azteken, wie man sie später nennen sollte, wurde 1519 der Grundstein für das spanische Imperium auf dem Festland Amerikas gelegt.[2] Erstmals unterwarfen Europäer einen hochorganisierten Staat außerhalb der ihnen bis dahin bekannten Welt. Damit schufen sie die Basis für die ersten weltumspannenden Kolonialreiche. Schon im 16. Jahrhundert sahen spanische Chronisten und Historiker ihr Land als legitimen Nachfolger des Römischen Reichs, das durch sie sogar noch übertroffen werde.[3] Daraus resultierte die Grundannahme der Überlegenheit der christlichen Europäer und der Inferiorität anderer Ethnien, die zu einer quasi natürlichen Ordnung der Dinge stilisiert wurde.

In der europäischen Geschichtsschreibung standen diese Aspekte stets im Vordergrund, wenngleich sich die ursprünglich triumphalistische Bewertung der Ereignisse im Lauf des 20. Jahrhunderts ins Gegenteil gewandelt hat. Was damals geschah, wurde hunderte Male in populären Darstellungen, Romanen, Gedichten, Liedern und Opern besungen und in wissenschaftlichen Abhandlungen analysiert. Allein die akademische Fachliteratur füllt ganze Bibliotheken. In der Tat war die Eroberung Tenochtitlans 1519 bis 1521 ein beispielloses Ereignis, handelte es sich doch wahrscheinlich um eine der größten Städte der Welt und die Hauptstadt eines großen und für die Europäer völlig fremdartigen Reiches.[4] Umgekehrt war es auch für die Verlierer, die Mexica, die ihre Herrschaft in Mesoamerika über Jahrzehnte immer weiter ausgebaut hatten, ein tiefer Einschnitt.

Für die Europäer der Renaissance, die der Augenzeugenschaft und persönlichen Erfahrung hohen Wert beimaßen und sich nicht mehr einseitig auf die klassischen Autoritäten verließen, waren die Nachrichten aus der Neuen Welt schon seit 1492 von großem Interesse. Doch die Sensation der Kolumbusfahrt war 1519 schon wieder Geschichte, der Genuese mehr als ein Jahrzehnt tot. In Mexiko gab es nun wieder ständig Neues zu entdecken und über Dinge zu berichten, von denen man in Europa nie zuvor gehört hatte, denn selbst die Bibel wusste nichts von diesen Ländern.[5]

Die Kunde verbreitete sich zunächst vor allem durch die Briefberichte des Hernán Cortés, des Anführers der spanischen Conquistadoren, der darin voller Staunen die ihm fremden und neuen Dinge beschrieb. Seine Schilderungen der Rituale, der Kunst, der Küche und des Schmucks der Mexica erregten Aufsehen. Wichtiger noch: Er stellte die soziale Gliederung der Mexica-Gesellschaft auf eine Stufe mit der spanischen, indem er von ‹señor›, ‹vasallo› und ‹señorio› sprach. In der lateinischen Übersetzung seiner Berichte findet sich sogar der großgeschriebene Begriff ‹Don› für den Herrscher der Mexica, Moteuczoma II. Xocoyotzin.[6] Cortés’ Betonung der Disziplin und beeindruckenden sozialen Ordnung in der Mexica-Gesellschaft macht den Gegensatz zu den früheren Erfahrungen des Kolumbus besonders deutlich. Sein erster Bericht von 1519 rief geradezu den Eindruck hervor, dass auf Augenhöhe mit einem fremden Herrscher verhandelt wurde, ganz so wie die katholischen Könige Spaniens es erwartet hatten, als sie Kolumbus 1492 auf die Reise schickten.[7] Doch Kolumbus hatte in der Karibik eben keine Staatswesen und mächtigen Könige entdecken können. Kaiser Karl V. wies Cortés denn auch an, die neuen Untertanen ebenso gut zu behandeln wie die Vasallen in Europa.[8]

Für die Bewohner Mesoamerikas war der Eindruck kaum weniger neu und überraschend. Auch für sie eröffnete sich mit dem Anblick der Spanier eine neue Welt. Die helle Haut, die manchmal hellen Haare, die Körperbehaarung, die Kleidung, die Hüte und Gerätschaften, Lebensmittel und Getränke, alles war für sie neu. Besonders beeindruckten sie die Form der Schiffe und die Nutztiere, hatte man Pferde und Hunde in Mesoamerika doch noch nie gesehen. Bewaffnung, Fahnen und christliche Symbole wie vor allem das stets präsente Kreuz erregten ebenfalls Interesse. In ihren Annalen stellten sie diese Neuheiten bildlich in Glyphen dar, einer Bildersprache, die das Pendant zur Schriftsprache der Spanier war.[9]

Man begegnete sich also mit Staunen, aber auf Augenhöhe, wenngleich das den Beteiligten nicht bewusst war. In der Tat war ja die globale Dominanz der Europäer noch bis Ende des 18. Jahrhunderts keineswegs gegeben. Denn zu dem Zeitpunkt wurden noch rund 80 % des weltweiten Bruttosozialprodukts in Asien erwirtschaftet. Ausgedehnten Kolonialbesitz hatten die Europäer bis dahin nur in Amerika, während sie andernorts nur über Handelsstationen verfügten.[10] Außerdem bildeten imperiale Expansionen in der Frühen Neuzeit keine Seltenheit. Sowohl das osmanische, das chinesische, das russische und das Songhay-Reich in Westafrika als eben auch bis zur Ankunft der Europäer die Reiche der Inka und der Mexica erweiterten ihre Herrschaftsgebiete in diesem Zeitraum entscheidend.[11] Allerdings handelte es sich dabei um Landimperien, während sich den Europäern weitab von der Heimat jenseits des Ozeans völlig neue Horizonte öffneten. Die neuen Erfahrungen, die sie dort machten, und das Wissen, das sie von dort mitbrachten, waren für die Weltbilder der Renaissance, die darauf auch humanistische Ideale projizierte, von zentraler Bedeutung.[12]

Der Kulturkontakt spielte sich nicht im friedlichen Einvernehmen, sondern im Zeichen kriegerischer Eroberung ab. So legten die Conquistadoren in ihren Selbstdarstellungen größten Wert darauf, wie die Helden der damals sehr beliebten mittelalterlichen Ritterromane mit einer verschwindend kleinen Truppe ein großes Reich besiegt zu haben. Dieser Mythos ist bis in heutige Schulbücher hinein weitergegeben worden.[13] Immer wieder stellten Autoren die Frage, wie ein paar hundert Männer unter dem Kommando des Abenteurers Cortés Tenochtitlan erobern konnten. Doch diese Frage ist zumindest teilweise falsch gestellt, denn sie geht von Vorannahmen aus, die mehr als zweifelhaft sind. War es denn tatsächlich nur die kleine Schar verwegener Spanier, die den Triumph im heldenhaften Kampf gegen die Übermacht der Feinde errang? Waren nicht auch andere Faktoren ausschlaggebend?

Ein Ziel dieses Buches besteht darin, neue Fragen aufzuwerfen. In welchem Kontext bewegten sich die Akteure? Welche Welten erzeugten sie im Rahmen der meist blutigen Begegnungen mit dem Fremden? Der in der Historiographie jüngst häufig geäußerten Forderung nach mehr Aufmerksamkeit für die Akteure, die soziale Räume erst schaffen, soll hier Rechnung getragen werden.[14] Denn die gewaltsame Zerstörung und Neufestlegung dieser sozialen und ethnischen Räume betraf alle Beteiligten, Sieger und Besiegte. Diese stehen mit ihren individuellen Perspektiven im Mittelpunkt, spiegeln sie doch die Vorstellungen von Welt zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt. Es geht darum, ihre Handlungs- und Gestaltungsspielräume auszuloten.[15] Dabei zielt diese Studie nicht auf das klassische biographische Erkenntnisinteresse an einem logisch erklärbaren Individuum, sondern vielmehr auf die Dezentrierung der Hauptakteure. Zum einen versuchen diese, wie die biographische Forschung betont, den «Eindruck der Kohärenz» durch ihre schriftlichen Zeugnisse zu schaffen;[16] zum anderen beschreiben Zeitzeugen und Nachwelt ein Leben nicht einfach, sondern konstruieren es im Akt des Schreibens bewusst und unbewusst. Die Hinterfragung dieser Inszenierungsleistung der Zeitzeugen und späteren Geschichtsschreiber ist ein Ausgangspunkt der vorliegenden Analyse.

Diejenigen, die an der Schlacht um Tenochtitlan beteiligt waren oder als Augenzeugen davon berichteten, waren auch Erzeuger von Welten. Indem sie das Chaos der Ereignisse in Berichte und Bilder überführten, fügten sie neue höchst unterschiedliche Ganzheiten zusammen. Situationsgebunden veränderten sich diese Welten unter dem Eindruck der Ereignisse beständig. Bilder, Gegenstände und Menschen, die Cortés nach Europa schickte oder später dorthin mitnahm, verliehen dieser Welterzeugung sogar jenseits des Ozeans eine materielle Grundlage. Wie Cortés und seine Männer versuchten auch die indigenen Gruppen Relevanz und Wert des Neuen zu erkennen und in Hierarchien einzuteilen. So tilgten sie aus ihrer Wahrnehmung bestimmte Faktoren, ergänzten sie aber um andere, gestalteten um und korrigierten. Ihr Anliegen bestand darin, Ordnungen wiederherzustellen beziehungsweise erst zu erfinden, die sich in Berichten, in Theorien, in Karten und Zeichnungen präsentieren ließen.[17] Diese Erzeugung von Welten gelang den Beteiligten unterschiedlich gut. Im vorliegenden Buch geht es nicht nur um die eine Welt des Hernán Cortés, die in den meisten bisherigen Studien immer wieder im Mittelpunkt stand, sondern um die Vielfalt der Weltversionen, die über die kriegerischen Ereignisse hinaus miteinander konkurrierten.

Die Geschichtsschreibung zum Thema ist wie angemerkt nur noch schwer zu überschauen. Traditionell kam es zu extremen Bewertungen, wobei zumeist Cortés und die Spanier entweder als Helden oder als Ungeheuer im Mittelpunkt standen. Die erste Interpretationslinie war die der glorreichen Eroberung. Dichter des goldenen Zeitalters sowohl in den Indias als auch auf der Iberischen Halbinsel verherrlichten Cortés als «neuen Mars».[18] Mythische und historische Elemente vermischten sich und trugen zum Entstehen einer kohärenten Version der Eroberung in Text und Bild bei. Dabei wurden die Conquistadoren als tapfere Soldaten einer königlichen Armee dargestellt, die gegen barbarische Wilde kämpften. An ihrer Spitze stand nach dieser Interpretation der heldenhafte Cortés, dem es zu verdanken war, dass die Azteken vom Aberglauben erlöst wurden, woraufhin sie die Vergebung ihrer Sünden erlangten und der Aufbau eines neuen christlichen Mexiko begann. Für die modernere Variante dieser Deutung steht der US-amerikanische Historiker William H. Prescott, mit seinem der romantischen Geschichtsschreibung verpflichteten, 1843 erstmals erschienen Werk.[19] Sie zeigte sich auch im 20. Jahrhundert in den beiden klassischen Cortés-Biographien des Spaniers Salvador de Madariaga und des Mexikaners Carlos Pereyra (1942), die beide eine hagiographische Tendenz aufweisen. Der einflussreiche mexikanische Bildungspolitiker und Intellektuelle José Vasconcelos schloss daran an und präsentierte Cortés als Begründer der Nationalität seines Landes, die er dem Zeitgeist der 1940er-Jahre entsprechend in der Mischung von europäischem und indigenem «Blut» begründet sah.[20]

In der Tat hat sich in der Bewertung der Personen und Ereignisse um den Fall Tenochtitlans für Mexikaner immer wieder die Frage nach dem Ursprung der Nation gestellt.[21] Gerade die sogenannte «schwarze Legende» nahm die Ereignisse als Beispiel für die vermeintlich besondere Brutalität der spanischen Kolonialherrschaft.[22] Nach der Unabhängigkeit von Spanien im 19. Jahrhundert war Cortés denn auch lange Zeit persona non grata in der entstehenden mexikanischen Historiographie. Seit vielen Generationen in Mexiko ansässige Abkömmlinge der ersten spanischen Conquistadoren und Siedler, die sogenannten Kreolen, eigneten sich die nun als glorreich verehrte aztekische Vergangenheit als Antike der neuen Nation an – die Parallelen zur europäischen Romantik waren augenfällig. Die Mexica wurden so zu Gründervätern umgedeutet, wobei die reale Lage ihrer indigenen Nachfahren nur wenig interessierte. Cortés wurde nach dieser Lesart zum Gegenbild des Antihelden und Zerstörers einer großen Kultur.[23] Ansätze zu einem Denkmal für Cortés in Mexiko scheiterten immer wieder am Widerstand der Bevölkerung und 2010 war selbst in seinem Geburtsort Medellín in Spanien die Statue vor Vandalismus nicht mehr sicher. Zumindest in der Forschung hat sich das insofern gewandelt, als Jubiläen wie der 500. Geburtstag des Eroberers 1985 und sein 450. Todestag 1997 Anlass zu neuen Werken gaben, die abwägender argumentieren. Insgesamt herrscht nun eine nüchternere Bewertung vor, wobei die Urteile bei den europäischen und mexikanischen Autoren teils immer noch stark voneinander abweichen.[24]

Wird die Rolle von Cortés seit längerem nicht mehr als dominant angesehen, so gilt dies nicht für die negative Einschätzung seines Gegenparts Moteuczoma. In den europäischen Quellen hieß es in der Regel, Gott habe den Triumph von Cortés ermöglicht und den schlechten Charakter des Aztekenfürsten bestraft. Die moralische Verurteilung findet sich in modernen Deutungen zwar nicht mehr, jedoch gehen diese häufig davon aus, dass die Spanier rational und zivilisiert und daher dem abergläubischen Moteuczoma überlegen waren. Dabei wird übersehen, dass die spätmittelalterlichen Spanier alles andere als rationale Akteure waren. Man denke nur an die Santiago-Legende, auf die im Weiteren noch einzugehen sein wird.[25] Auch wenn Historiker immer wieder auf den mythischen Charakter der Quellen zu Moteuczoma hingewiesen haben, neigt die Literatur zur Conquista doch dazu, diese zumindest in Teilen als wahr zu akzeptieren.[26]

Was sich lange Zeit ebenso wenig verändert hat, ist die Vorstellung von spanischen Siegern und indigenen Besiegten. In der Literatur findet sich daher eine Vielzahl von Gründen für den Erfolg der einen und den Misserfolg der anderen. Da sind zunächst diejenigen, die die Dominanz der Spanier erklären: Dazu zählten schon die Chronisten und Zeitzeugen die Persönlichkeit von Cortés und seinen Männern, ihre bessere Bewaffnung, Technologie und Taktik sowie letztlich auch ihre kulturelle, religiöse und psychologische Überlegenheit.[27] Für den Niedergang der Mexica dagegen führten Historiker deren psychologischen und ideologischen Kollaps an, nannten die unpassende und verlustreiche Kriegführung sowie Fehler im politischen System. Besonders hartnäckig hielt sich ferner die These, die Mexica hätten die Spanier für zurückgekehrte Götter gehalten und seien deshalb paralysiert gewesen. In der Regel sprechen Historiker von einem Mix aus Faktoren, wobei biologische, psychologische, militärische und strukturelle Elemente zusammentrafen.[28] Hinzu kommt ein Element, das die jüngere Forschung betont hat: die Auswirkungen der von den Spaniern eingeschleppten epidemischen Krankheiten, vor allem der Pockenepidemien, auf die Indigenen.[29]

Nach einer These der jüngeren Vergangenheit, die der Kulturwissenschaftler Tzvetan Todorov auch über die Fachwelt hinaus bekannt machte, war der kulturelle Determinismus verantwortlich für die Unterlegenheit der Indigenen. Demnach hätten das zyklische Weltbild sowie böse Prophezeiungen und der daraus resultierende indigene Fatalismus, dem die überlegene Kommunikationsfähigkeit der westlichen Zivilisation gegenübergestanden habe, den Untergang Tenochtitlans besiegelt.[30] Die Kritik hat jedoch deutlich gemacht, dass die Argumente, auf die sich diese These stützt, nicht haltbar sind. Es sind vielmehr große Differenzierungen innerhalb der Gesellschaft der Mexica sowie ein kreativer Umgang mit den jeweiligen Rahmenbedingungen zu erkennen.[31] Ein Grundproblem der Determinismusthese besteht ferner darin, dass Autoren wie Todorov und andere sich meist einseitig auf die spanischen Berichte gestützt und deshalb angenommen haben, Cortés hätte die Mexica von Beginn an völlig verstanden und deshalb manipulieren können. Die Rolle der Spanier ist aber im Licht neuer Quellen weit weniger beeindruckend.[32] Gerade mit Blick auf das Handeln der Indigenen müssen wir daher der Frage nachgehen, ob es sich nicht in vielen Fällen um imaginierte Ereignisse handelte, die irgendwann als historisch akzeptiert und in die Überlieferung integriert wurden, weil sie so gut passten, um das scheinbar Unbegreifliche erklärbar zu machen.

Der Conquistadoren-Mythos, der die Ereignisse auf den Zusammenprall der beiden großen Männer Cortés und Moteuczoma herunterbricht, ist zum jetzigen Zeitpunkt überholt.[33] Wir wissen heute, dass die Realität viel komplizierter war. Die Spanier bedienten sich nicht nur indigener ‹Helfer›, sondern sie hatten Verbündete, die unterschiedlichen ethnischen Gruppen angehörten, eigene Ziele verfolgen und diese auch durchsetzen konnten. Die neue europäisierte Gesellschaft ersetzte die alte keineswegs vollständig. Es fand also keine vollständige Eroberung statt. Die Indigenen eigneten sich beispielsweise das Christentum an und inkorporierten es in ihre eigene Götterwelt. Ebenso verfuhren sie mit den spanischen Kriegern als solchen, denn auch diese wurden der eigenen Welt einverleibt, in der Krieg und Eroberungen einen zentralen Stellenwert hatten. In der Geschichtsschreibung der Nahuatl sprechenden Völker des 16. Jahrhunderts ist die vermeintliche Eroberung sogar ein Nicht-Ereignis, denn das Fremdwort ‹Conquista› gab es nicht, ‹Conquistador› dagegen schon, das Spanier und Indigene gleichermaßen meinte. Ihre Annalen führten sie weiter, als wäre nichts geschehen. Berücksichtigt man diese Perspektive, dann erscheint die spanische Eroberung nicht mehr überwältigend und einzigartig und die Zeit nach dem Fall Tenochtitlans in Mesoamerika wie eine politisch notwendige Phase der Neuordnung, um ein Machtvakuum zu füllen.[34]

Arbeiten, die diese neue Interpretationslinie vorbereiteten, indem sie die Nuancen der Eroberung herausstellten und sich vom Schwarzweißschema lösten, entstanden bereits in den 1980er-Jahren.[35] Insbesondere die Geschichte der Maya-Völker von Yukatan, die ihre Selbstständigkeit auch nach der nur oberflächlichen Eroberung aufrechterhalten konnten und sich im Wesentlichen selbst regierten, bot hier reichlich Anschauungsmaterial. Die ethnohistorische Forschung der letzten zwei Jahrzehnte, die konsequent indigene Quellen in die Betrachtung mit einbezog, hat gezeigt, dass die vorspanische Expansion der Mexica ähnlichen Mustern folgte wie später die der Spanier. Man attackierte Städte mit Hilfe von Truppen der gerade erst eroberten Gebiete, nutzte lokale Gegensätze und Drohgebärden oder biederte sich opportunistisch mal der einen, mal der anderen Seite an. Da die Spanier dieselben Strategien benutzten, konnten die Indigenen sie akzeptieren, weil ihnen das Vorgehen vertraut war. Das war wichtig, denn die Spanier waren zumal in den frühen Jahren nach ihrer Ankunft von dieser Akzeptanz abhängig. Letztlich folgten also die spanischen Kriegszüge den Strukturen der vorspanischen imperialen Expansionen in Mesoamerika. Gerade die indigenen Quellen zeigen, dass das, was die spanischen Chroniken als glorreiche Eroberung darstellten, ein komplexer Prozess von Bündnissen und Verhandlungen war. Hier wird ein hohes Maß an Kontinuität in einem Raum deutlich, in dem Kriege ebenso alltäglich waren wie der Aufstieg und Fall von Stadtstaaten und deren Göttern. Cortés und die vielen anderen Geschichtsschreiber nach ihm, die die Meistererzählung der Conquista jahrhundertelang bestimmten, spielten die Rolle der Indigenen dagegen herunter oder erwähnten sie erst gar nicht, weil sonst der eigene Ruhm weniger hell gestrahlt hätte.[36]

Manche Historiker behaupten nun, dass die Ereignisse so, wie die Spanier sie darstellten, überhaupt nie stattgefunden hätten. Von einer spanischen Conquista könne daher gar nicht die Rede sein, man müsse vielmehr von «indigenen Eroberern» ausgehen, die die wenigen Spanier kooptiert hätten.[37] Diese Umkehrung der Wertung löst sich jedoch ebenso wenig von der Trennung in Sieger und Besiegte wie die traditionelle und kann daher nicht überzeugen. Außerdem kann diese Interpretation nicht erklären, warum das ehemalige Reich der Mexica und weite Teile Mesoamerikas in der Folgezeit zu Bestandteilen eines spanischen Kolonialreichs werden sollten, das immerhin dreihundert Jahre Bestand hatte. An dieser Stelle vertrete ich daher die These, dass der Begriff der Conquista durchaus weiterhin seine Berechtigung hat, auch wenn man sich auf das kurz- und mittelfristige Ergebnis konzentriert; es muss aber andererseits die Eigenständigkeit und Souveränität indigener Akteure viel stärker berücksichtigt werden, als dies bislang der Fall war.

Für ein frühneuzeitliches Ereignis ist die Quellenlage zu dieser Thematik durchaus reichhaltig. Hinzu kommt, dass viele der Berichte selbst schon Gegenstand einer umfangreichen Forschungsliteratur sind. Allerdings zeichnen sich die Quellen durch Widersprüchlichkeit, Ungenauigkeit und fehlende Nachprüfbarkeit aus. Außerdem handelt es sich zumeist um Quellen, die im Nachhinein entstanden sind und oft nur wenig zuverlässige Interpretationen der Ereignisse liefern.[38]

Augenzeugenberichte sind nur wenige überliefert. An erster Stelle ist hier Cortés selbst zu nennen. Insbesondere wegen der vielen Gerichtsverfahren, in die er verwickelt war, ist sein Leben sehr gut dokumentiert, wenngleich seine Jugend und sein Familienleben weniger bekannt sind.[39] Vor allem seine Briefberichte an den Kaiser, die sogenannten «cartas de relación», die er zwischen 1519 und 1526 verfasste, gelten als zentrale Quellen, denn sie sind die ausführlichsten Augenzeugenberichte der Ereignisse.[40] Sie sind allerdings besonders problematisch, denn der Hidalgo stand bei ihrer Abfassung unter hohem Rechtfertigungsdruck, wie wir später noch sehen werden. Mit den Normen des juristischen Schriftverkehrs war Cortés vertraut, hatte er doch wohl zumindest die Grundlagen des Rechtswesens studiert und einem Gouverneur als Sekretär gedient. Außerdem schrieb er seine Berichte, in denen er seine Version der Geschehnisse immer wieder an bekannte antike Heldentaten und populäre Ritterromane wie Amadís de Gaula oder Tirant lo Blanc anlehnte, mit Blick auf die Wirkung am Hof, aber auch auf die Veröffentlichung in Europa und seinen Nachruhm. Die spanischen Eroberer waren nach seiner Darstellung auserwählte Werkzeuge Gottes, die einer Welt ohne Heil den Frieden und die Gerechtigkeit des Christentums brachten.[41]

Ausführliche Berichte von Cortés’ Weggefährten sind ebenfalls rar. Der berühmteste stammt zweifellos von Bernal Díaz del Castillo, um 1568, wobei unklar bleibt, ob er seine Erinnerungen einem Ghostwriter diktierte.[42] Als Augenzeuge taugt er nur bedingt, denn er begann mit der Niederschrift seiner Memoiren mit dem großen zeitlichen Abstand von vielen Jahrzehnten und stützte sich dabei stark auf die Briefe von Cortés sowie auf Chroniken, wie vor allem diejenige von Francisco López de Gómara, von denen er sich abgrenzen wollte. Sein Werk, das erst 1632 posthum erschien, ist durchzogen von Erfindungen und fehlerhaften Darstellungen.[43] Allerdings gibt er einen Einblick in die Gefühlswelt, die Vorurteile und das Alltagsleben der Conquistadoren.[44] Erstaunlich sind zudem die Reflexionen und das Selbstbewusstsein des Autors, der am Ende seines Berichts schrieb: «Von den großen Heldentaten des Cortés gebührt mir auch mein Teil, denn ich bin in allen seinen Schlachten unter den Ersten gewesen …»[45]

Francisco de Aguilar, ein weiterer Teilnehmer der Expedition, wurde durch die Conquista reich, trat dann aber 1529 in den Dominikanerorden ein. 1565 diktierte er im hohen Alter seine Relación breve de la Conquista de Nueva España, eine kurze Chronik in acht Kapiteln, in der er die Tapferkeit und die Heldentaten der Conquistadoren beschreibt.[46] Auch Andrés de Tapia diente als Hauptmann in Cortés’ Truppe und war einer seiner treuesten Gefolgsmänner. Seine Relación von ca. 1539, in der er vor allem die Bravurstücke seines Anführers betonte, wofür er reich belohnt wurde, erschien erst 1866. Sie beeinflusste die Werke vieler späterer Chronisten, schildert jedoch nur die Anfangsphase des Unternehmens.[47] Der Bericht eines weiteren Unterführers, Bernardino Vázquez de Tapia, kommt in seiner 1939 erstmals publizierten Relación de Méritos y Servicios ebenfalls auf die Conquista zu sprechen. Vázquez de Tapia, der 1524 und 1526 die Position des Bürgermeisters der neu gegründeten Stadt Mexiko innehatte und danach Stadtratsmitglied blieb, stellte darin die eigenen Leistungen in den Mittelpunkt, um den Verlust der eigenen Encomienda im Zuge der Neuen Gesetze abzuwenden.[48] Schließlich ist noch der Bericht eines anonymen Conquistadors zu nennen, der zwar nicht auf die Ereignisse eingeht, sich dafür aber ausführlich zu Natur, Kultur, Religion und zum Leben im alten Mexiko allgemein äußert.[49]

Zu den wichtigen Quellen zählen die Geschichtswerke von Autoren, die zwar selbst nicht an den Ereignissen teilgenommen hatten, denen aber eigene Gespräche mit Conquistadoren als Quelle dienten. Diese Werke enthalten zum Teil Informationen, die sich in den Augenzeugenberichten nicht finden. Gattungsgeschichtlich gehören sie zur Sammelkategorie der Chronik, worunter im spanischsprachigen Raum des 16. Jahrhunderts Schriften fallen, die Begriffe wie Historia oder Relación im Titel führten.[50] Diese Quellen sind nicht weniger voreingenommen als die Augenzeugenberichte. Ihre Autoren konstruierten zwar aus unterschiedlichen Motiven, jedoch mit derselben Grundintention der Verherrlichung von Gott und König triumphale Versionen der Conquista, die sich ebenfalls durch Übertreibungen, Verfälschungen und Unstimmigkeiten auszeichnen.[51]

Besondere Bedeutung kommt dem italienischen Humanisten am spanischen Hof Pietro Martire d’Anghiera zu, der zwar nur Informationen aus zweiter Hand bekam, sich aber auf Gespräche, Briefe und Petitionen stützen konnte, die Conquistadoren und Nachfahren der indigenen Herrscher, der Tlatoque, kurz nach der Conquista an die Krone schickten, um Erbansprüche geltend zu machen.[52] Er war der Erste, der von 1493 bis zu seinem Tod 1526 kontinuierlich eine lateinische Chronik über die Entdeckungen und Eroberungen führte, die 1530 erstmals in ihrer Gesamtheit erschien und viele Auflagen erlebte.[53] Ein Nachfolger Anghieras im Amt des Hofchronisten war Gonzalo Fernández de Oviedo y Valdés, der zuvor selbst nach Amerika gereist war und dort hohe Verwaltungsämter bekleidet hatte. Seine Historia general y natural de las Indias entstand in den 1530er-Jahren und war das umfangreichste Werk zur Geschichte Amerikas in diesem Zeitraum.[54] Wegen eines Druckverbots konnte Fernández de Oviedo im Jahr 1535 aber nur den ersten bis 1520 reichenden Teil seiner Chronik veröffentlichen. Beide Chronisten vertraten in erster Linie die Interessen der Krone, was sich in ihren Werken widerspiegelt.[55]

Nicht weniger bedeutend ist der Beitrag von Francisco López de Gómara, der wie Anghiera und Oviedo eine besondere Nähe zu vielen Zeitzeugen pflegte und Cortés’ Hofkaplan gewesen sein soll. Die neuere Literatur geht davon aus, dass er nicht nur dessen Apologet war, als den ihn beispielsweise Bernal Díaz del Castillo in seinem Werk hinstellte. Jedoch war er um die Legitimierung der Eroberung und um die Betonung der Heldentaten der beteiligten Spanier nicht zuletzt bei der Verbreitung des Christentums bemüht.[56] Ähnlich heroisierend stellte der Humanist und ab 1535 Hofchronist und Erzieher des Prinzen Philipp, Juan Ginés de Sepúlveda, in seiner auf Latein verfassten Historia die Ereignisse bis 1521 dar. Er stützte sich größtenteils auf das Werk von Fernández de Oviedo, teils aber auch auf Gespräche unter anderem mit Cortés selbst. Seines Erachtens war die gewaltsame Mission notwendig, um die Barbarei vor allem der aztekischen Menschenopfer zu beenden.[57]

Bartolomé de las Casas war der große Gegenspieler Sepúlvedas. Er hatte zunächst an Eroberungszügen auf Kuba teilgenommen und war später als Priester und Dominikanermönch der einflussreichste Kritiker der Ausbeutung der Indigenen durch die spanischen Kolonisatoren. In zahlreichen Schriften wie vor allem seiner mehrbändigen Historia de Las Indias, die er 1527 begann und die den Berichtszeitraum bis 1520 umfasst, bezog er Stellung und konnte sich dabei auf eigene Erlebnisse, eine große Sammlung von Originalquellen und auf die Aussagen vieler Augenzeugen stützen. Auch Cortés und Bernal waren ihm persönlich bekannt. Er kritisierte die Eroberer aufs Schärfste und stellte die Indigenen als schutzbedürftige Kinder dar. Aufgrund seines großen Einflusses am Hof gelang es Las Casas außerdem, Druckverbote der Werke anderer Autoren wie zum Beispiel von Fernández de Oviedo durchzusetzen.[58]

Neben dem Dominikaner Las Casas haben vor allem franziskanische Ordensleute Berichte aus der Zeit nach der Eroberung hinterlassen, die die Interpretation eines gottgewollten christlichen Triumphs über das ihres Erachtens vom Teufel beherrschte Aztekenreich in Umlauf brachten. Besonders wichtig ist das Werk von Toribio de Benavente, der sich selbst ‹Motolinía› nannte, was im Nahuatl ‹der Arme› bedeutet. Er zählte zu den frühesten Missionaren in Neu-Spanien. Seine Memoriales und die Historia de los Indios, die den Zeitraum bis 1541 abdecken, bilden die älteste in Neuspanien entstandene spanischsprachige Chronik überhaupt. Motolinía hatte mit vielen aztekischen Adligen und sogar noch mit Cortes’ Dolmetscherin, Malinche, gearbeitet.[59] Sein Ordensbruder Gerónimo de Mendieta lebte ab 1554 in Mexiko, wo er gemeinsam mit Motolinía wirkte und zwischen 1573 und 1596 seine fünfbändige Historia eclesiástica indiana verfasste, die erst 1870 publiziert wurde. Beide hatten noch Zugang zu Augenzeugen und zu später verloren gegangenen Quellen.[60]

Wie Mendieta kamen auch andere Geschichtsschreiber erst um die Mitte des 16. Jahrhunderts, also Jahrzehnte nach dem Fall Tenochtitlans, nach Neu-Spanien, hatten aber zumindest teilweise noch Zugang zu Zeitzeugen. Zu dieser Kategorie gehört etwa der Jurist Alonso de Zorita, der eine erst 1935 erstmals veröffentlichte Relación de la Nueva España verfasste, in der er unter anderem die Missbräuche des Tributwesens anprangerte.[61] Auch der Humanist und Rektor der neu gegründeten Universität in Mexiko Francisco Cervantes de Salazar mit seiner Crónica de la Nueva España (1903) zählte dazu. Aus der Perspektive von Cervantes war die Conquista wegen der Grausamkeit der Mexica eine gottgewollte Heldentat, bei der sich vor allem Cortés hervorgetan hatte.[62]

Die Sachlage bei den indigenen Quellen gestaltet sich ähnlich heterogen und wird durch die Rezeptionsgeschichte erschwert. Über Jahrhunderte hinweg blendeten Chronisten und Historiker die Perspektive der vielen unterschiedlichen ethnischen Gruppen, die in Mesoamerika vor der Ankunft der Spanier lebten, einfach aus. Nur Cortés zitierte Moteuczoma in wörtlicher Rede, doch der von ihm wiedergegebene Dialog ist stilisiert.[63] Zwar hatten Indigene bereits im 16. Jahrhundert zahlreiche Berichte in Text- oder Bildform verfasst, die die Ereignisse aus ihrer Sicht wiedergaben, doch wurden diese unter der spanischen Herrschaft oft verbrannt oder zumindest unter Verschluss gehalten. Erst im 20. Jahrhundert begannen Historiker damit, sie wissenschaftlich zu erschließen. Die Herausgabe dieser Quellen als «Sichtweise der Besiegten», so der Titel der bekanntesten Sammlung, stellte die indigenen Gruppen jedoch einseitig als passive Opfer dar.[64]

Lange Zeit meinte man, über indigene Augenzeugenberichte zu verfügen. So wurde vermutet, dass einige der als «mexikanische Gesänge», «cantares mexicanos», bekannt gewordenen 91 Gedichte bereits um die Mitte der 1520er-Jahre entstanden waren und deshalb als älteste Schriftzeugnisse des Geschehens gelten konnten. In einigen dieser Lieder wurde die Niederlage der Mexica als größtes je dargebrachtes Opfer an die Götter besungen.[65] Die Forschung nahm auch für die auf 1528 datierten Annalen von Tlatelolco eine sehr frühe Entstehungszeit an. Tlatelolco war der Tenochtitlan eng verbundene Nachbarort, beide Städte teilten sich die Insel im Texcocosee. Diese aus fünf unabhängigen Dokumenten bestehende Chronik stellte den Mut der Bewohner Tlatelolcos in den Mittelpunkt, die im Gegensatz zu ihren Nachbarn in Tenochtitlan nicht verzagten.[66] Im Falle beider Quellen blieb unklar, wer die Autoren waren und wie es möglich war, dass sie schon so bald nach Kriegsende das lateinische Alphabet beherrschten. Mittlerweile gehen viele Historiker davon aus, dass die frühesten indigenen Zeugnisse nicht vor den 1540er-Jahren verfasst sein dürften, was einen erheblichen zeitlichen Abstand zum Geschehen bedeutet.[67]

Aus der Datierung der indigenen Quellen in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts resultiert ein grundsätzliches Problem. Zu dem Zeitpunkt hatten sich bereits vielfältige kulturelle Überlagerungen ergeben, die nicht zuletzt auf die Transkription der Nahua-Sprachen in die auf dem lateinischen Alphabet basierende Schrift zurückzuführen waren. Zweifellos ergaben sich durch diese Transkriptionen in das «Gefängnis des Alphabets» (Garibay) Bedeutungsverschiebungen und Auslassungen, die durch die zeitliche Distanz zum Geschehen und durch die Selbstzensur indigener Autoren noch verstärkt wurden.[68] Lange Zeit wurden kolonialzeitliche indigene Quellen deshalb gering geschätzt, weil sie angeblich schon ganz «verwestlicht» waren.[69]

Hinzu kommt, dass die Verfasser der Dokumente oftmals selbst bereits Mestizen waren, das heißt einen spanischen Vater hatten. Diese mestizischen Autoren bewegten sich im kulturellen Zwischenraum, traten als Vermittler, aber auch als soziale Akteure auf mit bestimmten Interessen in einem sich dynamisch wandelnden Kontext. Ihre Texte betonen die Zugehörigkeit zu einzelnen Ethnien, mit denen sich die Verfasser aus unterschiedlichen Gründen identifizierten. Die jüngste Forschung hat diese Chroniken wiederentdeckt und auf die Bedeutung für das Verständnis der frühkolonialen Gesellschaft hingewiesen.[70]

Zu den wichtigen mestizischen Autoren dieser Zeit zählt Diego Muñoz Camargo (1529–1599), ein illegitimer Sohn einer indigenen Adligen und eines Conquistadors. Er erhielt eine spanische Erziehung, sprach aber auch Nahuatl. Er war ein erfolgreicher Viehzüchter, diente auch als Übersetzer und bekleidete diverse öffentliche Ämter in der Stadt Tlaxcala, der großen Gegenspielerin Tenochtitlans und Verbündeten der Spanier. Seine Historia de Tlaxcala von 1592 vertrat vor allem die Interessen des Stadtrats, des Cabildos, seiner Heimatstadt. Gleichzeitig verdammte er jedoch auch die aus seiner Sicht heidnischen Kulte der Vergangenheit.[71]

Der ersten Mestizengeneration gehörte auch Don Hernando de Alvarado Tezozomoc (ca. 1525–ca. 1610) an, ein Enkel von Moteuczoma, dessen Vater ein Tlatoani und Gouverneur von Ecatepec war. Seine Crónica mexicana, die um 1598 entstand und auf Spanisch erschien, sowie der ihm zugeschriebene Teil der Crónica mexicayotl auf Nahuatl zählen zu den wichtigsten Quellen der vorspanischen Geschichte der Azteken. Über Tezozomoc selbst ist nur wenig bekannt. Noch mit den oralen Traditionen der Alten aufgewachsen, auf denen seine Texte basieren, gilt er als der wichtigste Chronist der Tenochca, der Bewohner Tenochtitlans.[72]

Gilt Tezozomoc als Stimme Tenochtitlans, so gilt der Mestize Fernando de Alva Ixtlilxochitl (ca. 1578–1650) als wichtigste Stimme der Nachbarstadt Texcoco, einem Mitglied des aztekischen Dreibunds. Während seine Mutter eine Mestizin war, die von den Fürsten Texcocos abstammte, war sein Vater ein Spanier. Alva Ixtlilxochitl übte Tätigkeiten als Richter, Verwaltungsbeamter und Übersetzer aus. Für seine Sumaria relación und seine Historia de los señores chichimecas griff er auf viele indigene Quellen zurück, die er auch dokumentierte. Den Ehrentitel eines Don benutzte er, um sich als Angehöriger des indigenen Adels auszuweisen.[73] Die US-amerikanische Forschung, die ihn in den letzten Jahren wiederentdeckt hat, wertet Alva Ixtlilxochitl als einen der einflussreichsten indigenen Autoren der neuspanischen Kolonialzeit.[74]

Domingo Francisco de San Antón Muñón Chimalpahin Cuatlehuanitzin (1579–1660) war ein Zeitgenosse von Alva Ixtlilxochitl. In Chalco Amaquemecan in den indigenen Provinzadel hineingeboren, zog er in jugendlichem Alter nach Mexiko-Stadt und wirkte danach als Kaplan in der Kirche San Antonio Abad in Xoloco. Im Gegensatz zu Alva und Tezozomoc bekleidete er keine öffentlichen Ämter, sondern schuf ein umfangreiches schriftstellerisches Werk.[75] Wie den anderen Autoren ging es auch Chimalpahin darum, eine Geschichte aus indigener Perspektive und für die indigene Bevölkerung seiner Heimat zu schreiben. Doch im Gegensatz zu ihnen schrieb er seine Chroniken auf Nahuatl und behandelte das gesamte ehemalige Herrschaftsgebiet von Tenochtitlan. Sein Werk ist ein Beweis für das Überleben indigener kultureller Traditionen und indigenen Wissens weit über den Fall Tenochtitlans hinaus. Außerdem ist es das einzige Beispiel für einen kolonialspanischen Text, nämlich dem von López de Gómara, der von einem Indigenen angeeignet und modifiziert wurde, während es umgekehrt sehr viele Fälle gab.[76]

Vieles von dem, was wir heute über die mesoamerikanischen Gesellschaften der vor- und frühkolonialen Periode wissen, haben uns Missionare überliefert. Vor allem die Franziskaner, die als erste in Mesoamerika den christlichen Glauben verbreiteten, waren darum bemüht, das Denken und die Lebensweise der Neuchristen zu verändern. Dabei machten sie sich schon in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts um die Verschriftlichung des Nahuatl verdient. Diese frühen neuspanischen Chronisten bevorzugten indigene orale Überlieferungen gegenüber den spärlichen Schriftquellen, die sie ohnehin nicht verstehen konnten. Natürlich ging es dabei nicht um den Erhalt der indigenen Kulturen, sondern um deren Kenntnis mit dem Ziel, die religiösen Vorstellungen radikal zu zerstören und die Bevölkerung nach den Vorgaben der katholischen Doktrin zu bekehren. Der ethnographische Wert dieser Quellen ist daher eingeschränkt. Dass sich der Einfluss der franziskanischen Übersetzer, Schreiber und Redakteure darin widerspiegelt, ist wenig erstaunlich.[77]

Neben dem Werk Motolinías ist zweifellos die Historia general de las cosas de Nueva España von Bernardino de Sahagún die berühmteste Sammlung mesoamerikanischer Stimmen aus dieser Zeit, die die Geschehnisse in Nahuatl aus indigener Sicht, wenn auch durch den europäischen Blick vermittelt, wiedergibt.[78] Dieses seit den 1550er-Jahren über viele Jahre entstandene Konvolut war das Ergebnis der Zusammenarbeit Sahagúns mit zahllosen ungenannten indigenen Schülern, Schreibern und Gesprächspartnern, deren mündlich und schriftlich überliefertes Wissen der Franziskaner zusammentragen und transkribieren ließ. Wahrscheinlich ergänzte er es auch mit eigenen Wertungen, denn die Darstellung enthält viele Anklänge an franziskanische Apokalypsevorstellungen. Die spanische Übersetzung des Texts weicht von der Fassung im Nahuatl in entscheidenden Punkten ab, so zum Beispiel, wenn das Massaker Alvarados und der Tod Moteuczomas zur Sprache kommen.[79] In seiner bebilderten Fassung als Codex Florentinus bekannt, bietet dieses Werk vor allem im Buch XII eine ausführliche Schilderung des Falls von Tenochtitlan. Trotz der langen Erfahrung Sahagúns weist es indes viele Missverständnisse und Verzerrungen auf.[80]

Zu derselben Textsorte zählt der Codex Ramírez oder Codex Tovar nach dem Jesuiten Juan de Tovar, der mütterlicherseits selbst indigene Vorfahren hatte und mehrere mesoamerikanische Sprachen beherrschte. Er soll das Manuskript um die Mitte des 16. Jahrhunderts basierend auf mündlichen Überlieferungen aztekischer Zeitzeugen zusammengetragen haben.[81] Für die Indigenen konnten Codices wie diese durchaus identitätsbildende Wirkung haben. Das erkannten auch die Herrschenden und witterten Gefahr, vor allem den Rückfall in alte Glaubensvorstellungen. Um dies zu unterbinden, ließ die Krone ab 1577 die Verbreitung ethnographischer Berichte der Missionare verbieten und die Werke konfiszieren. Das Verbot sollte schließlich bis zum Ende der Kolonialzeit in Kraft bleiben, sodass die Forschung diese wichtigen Quellen erst im 19. Jahrhundert wiederentdecken und edieren konnte.[82]

Bildquellen sind von besonderer Bedeutung für die indigene Perspektive auf den Fall Tenochtitlans. Das Schreiben in Piktogrammen und Glyphen war die indigene Form von Schriftlichkeit und blieb im 16. Jahrhundert noch weit verbreitet.[83] Zweifellos stellt die Interpretation dieser Quellen besonders hohe Ansprüche, da sich die Absicht hinter bestimmten Gesten, Posen und anderen Details oft nur erahnen lässt. Gerade die indigenen Bildquellen, deren Datierung häufig unklar ist, muss man als dynamische Produkte verstehen, die sowohl synchron von unterschiedlichen Gruppen der Kolonialgesellschaft als auch diachron in unterschiedlichen Zeiten ganz unterschiedlich gelesen wurden.[84] Insbesondere die großen Eroberungsdarstellungen auf bemalten Leintüchern wie der Lienzo de Tlaxcala, der Lienzo de Quauhquechollan oder der Lienzo de Analco sind für die Analyse der Geschehnisse von Bedeutung. Interessant sind die Bilddokumente aber auch für das Verschweigen bestimmter historischer Vorkommnisse. So erwähnten die Tlaxcalteken in ihrem Lienzo weder ihre anfängliche Gegenwehr gegen die Spanier noch den Beitrag anderer Verbündeter zum Sieg über Tenochtitlan. In diesem offiziellen und selbstbewussten Dokument, das an den Kaiser nach Spanien verschickt werden sollte, ging es ihnen darum, den eigenen Beitrag zur Eroberung sowie zur Christianisierung ins rechte Licht zu rücken, um ihren Anspruch auf bestimmte Privilegien zu begründen.[85]

Aus diesen und vielen weiteren Quellen schöpft dieses Buch, das einer Gliederung folgt, die sich an chronologischen und strukturellen Faktoren gleichermaßen orientiert. Das erste Kapitel konzentriert sich auf die Jugend von Cortés und schildert die Ausgangssituation in den spanischen Besitzungen in der Karibik bis zu den Erkundungsfahrten von Francisco Hernández de Córdoba und Juan de Grijalva 1517 und 1518. Im anschließenden Abschnitt werden die Anfänge des Eroberungsunternehmens, der Hueste, des Cortés und die Geschehnisse im Land der Maya ebenso untersucht wie die Herkunft und soziale Zusammensetzung der Conquistadoren. Das Aztekenreich steht im Mittelpunkt des folgenden Teils, der die Ursprünge dieser ethnischen Gruppe und ihre politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Umwelt bis zur Regierungszeit Moteuczomas II. in den Blick nimmt. Es folgen in einem weiteren Kapitel Analysen der Ankunft der Spanier in Totonacapan und ihres Marsches ins Landesinnere sowie des Quetzalcoátl-Mythos. Auch die ersten Berichte von Cortés an den Kaiser werden hier vorgestellt. Der folgende Abschnitt konzentriert sich auf die Ereignisse in Tlaxcala und dessen Sonderrolle als wichtigster Verbündeter der Spanier. Die zwei anschließenden Teile schildern die Ereignisse vom Eintreffen der Spanier und ihrer Verbündeten in Tenochtitlan über die Gefangennahme Moteuczomas und die «traurige Nacht» bis hin zur Belagerung und zum Untergang der Stadt. Die Fortdauer des Kriegs und die Expansion in die peripheren Gebiete sowie Cortés’ persönliche Machtabsicherung sind Thema eines weiteren Kapitels. Schließlich kommt ein Abschnitt auf das Erbe der Conquista, den Bau einer neuen Hauptstadt, die Einführung neuer Herrschaftssysteme, die Christianisierung und das Alltagsleben unter den neuen kolonialen Begebenheiten zu sprechen.