Das Land im Westen, in das die Maya die Spanier schickten, beherbergte das Reich der Mexica, oder Azteken. Dieses noch sehr junge Gebilde trug Elemente unterschiedlichen Ursprungs in sich, die über Jahrhunderte in heterogenen Konstellationen eine eigene Welt hatten entstehen lassen, die deutlich älter war als die christlichen und muslimischen Königreiche des spanischen Mittelalters, ja sogar älter als das Westgotenreich auf der Iberischen Halbinsel. Ähnlich wie Spanien zur Zeit der Reconquista hatte auch das aztekische Kernland eine lange Phase kriegerischer Staatsbildung hinter sich. Wo lagen die Anfänge des Aztekenreichs, das für die spanischen Eindringlinge zu einer völlig neuartigen Herausforderung werden sollte? In welchem Umfeld entstand es und was waren seine prägenden Charakteristika?
Die Welt der Azteken konzentrierte sich geographisch in erster Linie auf das sogenannte Tal von Mexiko. Diese auf rund zweitausendzweihundert Metern gelegene Hochebene wird östlich, westlich und südlich von teils fünftausend Meter hohen Bergen begrenzt. In ihrem südlichen Zentrum lag damals die oft einfach als Texcocosee bezeichnete Salzseenlandschaft, die heute größtenteils ausgetrocknet ist. Das Territorium, welches das Aztekenreich auf seinem Höhepunkt umfasste, befindet sich vollständig in den Tropen, ist jedoch aufgrund der beträchtlichen Unterschiede im Hinblick auf Höhe und Niederschlag von der gebirgigen Tierra fría über die gemäßigte Tierra templada bis hin zur heißen Tierra caliente stark gegliedert. Neben schneebedeckten vulkanischen Hochgebirgen gibt es hier fruchtbare Ebenen, Seenlandschaften, Regenwälder, Sümpfe und Küstenlandschaften.[1]
Eine ähnliche Bedeutung wie das Zweistromland für Europa und Asien als Wiege der Zivilisation hatte – wenngleich deutlich später – das Tal von Mexiko für Mesoamerika. Die Region der südlichen Golfküste im heutigen Tabasco und Veracruz hatte zwar bereits ab 1500 bis ca. 400 v. Chr. die Blüte der olmekischen Kultur erlebt, aber auch im Tal von Mexiko finden sich ab 1500 v. Chr. Besiedlungsspuren, die auf die Sesshaftwerdung nach Jahrtausenden der Jäger- und Sammlerkulturen hindeuten. Um 100 n. Chr. kam diese formative Phase zum Abschluss und mit dem Aufstieg Teotihuacans entstand in der sogenannten klassischen Periode das erste städtische Zentrum im nordöstlichen Teil des Hochtals. Mehr als ein halbes Jahrtausend lang dominierte die Stadt, in der wahrscheinlich zwischen einhundert- und zweihunderttausend Menschen lebten, die Region. Mit ihrer Monumentalarchitektur setzte sie Standards für die Versorgung einer großen und dicht gedrängten Bevölkerung und für die Integration heterogener ethnischer Gruppen. Unterschiedliche Berufsgruppen befriedigten die Bedürfnisse der Bewohner ebenso wie die Ansprüche der Mächtigen, die in ihrer Herrschaft eine eigentümliche Symbolpolitik entwickelten und darüber hinaus militärisch expandierten. Der Stadtstaat verfügte über eine hierarchisch gegliederte Gesellschaft sowie eine intensive Landwirtschaft. Außerdem zeichnete sich Teotihuacan durch die Zentralisierung der Macht aus, bei deren Erhalt die polytheistische Religion eine wichtige Rolle spielte. Allerdings hinterließ es weder die für spätere Zeiten so typischen Ballspielplätze noch die monumentalen Skulpturen, die die Taten der Herrscher verherrlichten.[2]
Teotihuacan sollte ebenso einen prägenden Einfluss auf die Entwicklung der Welt der Mexica gewinnen wie das um 950 entstandene Tula (oder Tollan), die Hauptstadt der Tolteken. Diese deutlich kleinere Stadt mit ihren rund 50.000 Einwohnern, deren Blütezeit um 1175 endete, liegt nur fünfundsechzig Kilometer nordwestlich von Teotihuacan entfernt. Während Teotihuacan jedoch bereits seit ca. 750 unbewohnt war, blieb Tula bis zur Ankunft der Spanier besiedelt. Beide Städte bildeten wichtige Bezugspunkte bei der Konstruktion aztekischer Identitäten, galten sie doch den herrschenden Eliten der Mexica als verehrungswürdige kulturelle Ursprungsorte. Insbesondere der Mythos von Quetzalcoatl, dem letzten Priesterkönig der Tolteken, der um 1168 fliehen musste, beeinflusste die Glaubensvorstellungen der Mexica nachhaltig. Davon wird später noch die Rede sein. Nach dem Niedergang Tulas entstanden in der Region zahlreiche kleinteilige oft nur wenige Kilometer voneinander entfernte Herrschaftsbereiche, die alle das toltekische Erbe für sich reklamierten.[3]
Zu diesen «Erben» des mythisch verklärten Tollan zählte auch die ethnische Gruppe der Mexica. Ihre Ursprünge lassen sich sprachwissenschaftlichen Untersuchungen zufolge auf Nomadenvölker zurückführen, die vor rund zwei Jahrtausenden aus den Gebieten des heutigen nördlichen Mexiko und des Südwestens der Vereinigten Staaten auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen südwärts zogen, was nicht zuletzt auf klimatische Faktoren zurückzuführen war. Für die Geschichte dieser Wanderungsbewegungen liegen zahlreiche Quellen vor, die teils vor Ankunft der Spanier, teils nach dem Fall des Aztekenreichs in Form von Bilderhandschriften, sogenannten Codices, und Chroniken aus der Feder der Eroberer, der Eroberten oder der Nachkommen entstanden. Nach den aztekischen Vorstellungen, die sich durch diese Quellen rekonstruieren lassen, lag der Ursprungsort in den mythischen sieben Höhlen (Chicomoztoc), aus denen je ein Stamm der Mexica entsprang, oder auf der Insel Aztlan, woraus sich die Bezeichnung ‹Azteken› ableitete. Der Stammesgott Huitzilopochtli, der während der Wanderungen zu seinem Volk gesprochen und ihm Anweisungen erteilt haben soll, wurde bereits von manchen Chronisten des 16. Jahrhunderts als ehemals menschlicher Anführer gedeutet, der später Gottesrang erwarb. Als die Azteken schließlich das Tal von Mexiko erreichten, trafen sie dort auf eine heterogene Welt aus zahlreichen Stadtstaaten, die sich bis ins frühe 15. Jahrhundert zwischen den Polen starker Fragmentierung und Zentralisierung durch Reichsbildungen bewegte.[4]
Um 1200, darin sind sich die zahlreichen Quellen einig, gelangten die Azteken zum Hügel von Chapultepec mit seinen Süßwasserquellen, wo sie die dort lebenden Chichimeken vertrieben. Rund vierzig Jahre später wurden sie allerdings von den Colhuacan besiegt und unterworfen. In der Folgezeit verschwägerten sie sich mit ihren Herren und leisteten ihnen militärische Dienste. Zweifellos hatten diese frühen historischen Mexica kulturelle Elemente der Chichimeken und der Tolteken übernommen, denen sie auf ihren jahrhundertelangen Wanderungen begegnet waren. Wie diese hatten die Mexica neben dem Monumentalbau die Vorliebe für luxuriöse Kleidung, Kakao und Edelsteine wie Jade kennen und schätzen gelernt. Zudem sprachen sie dieselbe Sprache, das Nahuatl. Wie ihre Nachbarn und Konkurrenten verehrten sie eine Vielzahl von Göttern, verfügten über Priester und spielten das rituelle Ballspiel. Sie übernahmen die Praktiken und Ideen nicht einfach von den anderen ethnischen Gruppen, sondern veränderten diese und entwickelten damit ein eigenständiges aztekisches Profil, das sie von ihrer ethnischen Umwelt abhob und doch gleichzeitig die kulturelle Nähe und Verwandtschaft sichtbar in sich trug. Für die dauerhafte Niederlassung im Tal von Mexiko waren sie also bereits in dieser Frühphase sehr gut gerüstet.[5]
Das Zusammenleben mit den Nachbarn gestaltete sich keineswegs konfliktfrei. So mussten die Azteken 1299 vor der Rache der Colhuacaner fliehen, nachdem sie die Tochter des dortigen Herrschers getötet und im Rahmen der Festlichkeiten für den Gott Xipe Totec rituell geschunden hatten. Danach hielten sie sich südlich des Sees auf. Die meisten Quellen sind sich darin einig, dass die Azteken 1325 eine unwirtliche Insel im Texcocosee, die zum Territorium des Stadtstaats Azcapotzalco gehörte, zum Sitz ihrer neuen Stadt kürten. Dem Mythos zufolge sahen sie dort einen Adler, der auf einem Feigenkaktus sitzend mit einer Schlange kämpfte, wie es ihnen ihr Stammesgott Huitzilopochtli prophezeit hatte. Diese Stadt nannten die Mexica Tenochtitlan, was in etwa ‹beim Feigenkaktus auf den Steinen› bedeutet. Mit einiger Sicherheit stießen sie dort auf Vorbewohner, die sie verdrängten, aber sie teilten sich die Insel mit den Tlatelolca, mit denen sie in einer zwar verwandtschaftlichen, aber spannungsreichen Beziehung standen.[6]
Die Gründung Tenochtitlans nach dem Codex Mendoza
Obwohl in den aztekischen Quellen oft versucht wird, diesen Eindruck zu vermitteln, war die Stadtgründung keineswegs der Beginn einer geradlinigen Erfolgsgeschichte. Vielmehr fielen die Mexica bald unter die Vorherrschaft der mit ihnen eng verwandten Tepaneken im nahe gelegenen Azcapotzalco. In den Zeitraum der Stadtgründung fällt auch der Beginn der aztekischen Dynastie mit dem ersten Tlatoani Acamapichtli, dessen Ansehen auf seiner Verwandtschaft mit Colhuacan und dessen toltekischem Erbe beruhte. Allerdings sollte die tepanekische Vorherrschaft noch bis 1428 andauern.[7]
In diesem Jahr erhoben sich einige kleinere Stadtstaaten unter Führung Tenochtitlans gegen Azcapotzalco, nachdem der Tod des langjährigen tepanekischen Tlatoani Tezozomoc 1426 einen Erbfolgekonflikt ausgelöst hatte. Um den Widerstand der Vasallen zu unterdrücken, hatte der umstrittene Thronprätendent von Azcapotzalco, Maxtla, die Anführer Tenochtitlans, Chimalpopoca, und Tlatelolcos, Tlacateotl, umbringen lassen. Dem daraufhin ausbrechenden Aufstand schlossen sich die Stadtstaaten Tlacopan und Texcoco an. In Texcoco allerdings war die Lage nicht eindeutig und Thronanwärter Nezahualcoyotl hatte gegen das Lager der Tepanekenfreunde zu kämpfen. Gemeinsam bildeten Tenochtitlan (mit Tlatelolco), Tlacopan und Texcoco einen Dreibund, der 1430 die entscheidende Schlacht gewann, wobei sich den aztekischen Quellen zufolge der neue Herrscher von Tenochtitlan, Itzcoatl, besonders hervortat. Der Dreibund bemächtigte sich im Folgenden der Tributzahlungen, die zuvor nach Azcapotzalco geflossen waren, das die Rache der Sieger zu spüren bekam und zur Strafe zum zentralen Sklavenmarkt degradiert wurde. Unter Einbindung der lokalen Herrscher erfolgte überdies eine Neuorganisierung des Tals von Mexiko; so wurden die Abgaben aufgeteilt und die Grenzlinien genau gezogen und auf Lienzos, leinenen Landkarten, verzeichnet, um Konflikte zu vermeiden. Rund neunzig Jahre lang, bis zur Ankunft der Spanier, sollte der Dreibund das Tal von Mexiko beherrschen.[8]
Innerhalb der Allianz stieg Tenochtitlan zur führenden Kraft auf. Auf einer Fläche von rund dreizehneinhalb Quadratkilometern lebten im 15. Jahrhundert rund mehrere hunderttausend Einwohner, die sich auf die vier großen Stadtteile Moyotlan im Südwesten, Teopan im Südosten, Atzaqualco im Nordosten und Cuepopan im Nordwesten sowie dem Sonderbezirk Tlatelolco im Norden verteilten. Damit zählte Tenochtitlan zu den zehn größten Städten der damaligen Welt. In Europa hatte nur Paris eine ähnlich hohe Einwohnerzahl, während Konstantinopel sie übertraf. Die Bewohner des gesamten Hochtals von Mexiko schätzt man auf zwischen einer und gut zweieinhalb Millionen. Die Genauigkeit dieser Schätzungen lässt sich aber nicht mit Gewissheit überprüfen. Letztlich basieren sie auf der Berechnung der möglichen Einwohnerdichte in Bezug auf die auf der Insel zur Verfügung stehende Fläche, welche jedoch durch die zahlreichen unbesiedelten und nur spärlich bewohnten Ritualbezirke stark eingeschränkt war.[9]
Um 1500 hatte das Tal von Mexiko eine lange Phase ausreichender Feuchtigkeit erlebt. Das Bevölkerungswachstum war dementsprechend sehr stark, wie neueste archäologische Forschungen belegen. Wahrscheinlich war die Bevölkerungsdichte gegen Ende des 15. Jahrhunderts höher als je zuvor in der mesoamerikanischen Geschichte und auf jeden Fall deutlich höher als auf der Iberischen Halbinsel, ein Faktum, das allerdings Konflikte und Kriege zur Folge hatte. Friedensphasen basierten auf einem prekären Gleichgewicht, das störungsanfällig war und durch die Spanier endgültig zerstört wurde.[10]
Dammbauten, Aquädukte und Bewässerungssysteme legten Zeugnis ab vom städtebaulichen Geschick der Mexica. Eine acht Kilometer lange Wasserleitung brachte für die auf einer Insel im Brackwasser liegende Stadt Tenochtitlan das so dringend benötigte Trinkwasser. Um auf die genannte städtische Grundfläche zu kommen, mussten die Bewohner dem See Land abringen, künstliche Inseln anlegen und diese durch Brücken und Kanäle miteinander verbinden. Unter der Leitung des Tlatoani von Texcoco, Nezahualcoyotl, ließen die Azteken Mitte des 15. Jahrhunderts den großen Damm zwischen Itztapalapa und Atzacoalco anlegen, um die Stadt vor Überschwemmungen zu schützen. Außerdem konstruierte man Schifffahrtskanäle, die zu Verteidigungszwecken geschlossen werden konnten. Im Süden des Seensystems führten der Chalco- und Xochimilco-See Süßwasser. Auch hier herrschte Überschwemmungsgefahr, der die Dammstraße von Itztapalapa nach Coyoacán entgegenwirken sollte.[11]
Wie Michael E. Smith herausgearbeitet hat, war Tenochtitlan jedoch eine Ausnahme in der aztekischen Städtelandschaft. Viel verbreiteter waren dagegen die kleineren Städte, die bereits in der Frühzeit nach ihrer Ankunft in der Region entstanden waren. Von den Vorgängerkulturen übernahmen die Azteken bestimmte Standards für den öffentlichen Raum wie zum Beispiel Pyramiden aus Stein, Ballspielplätze, Altarplattformen und Zeremonialzentren. Auf den Pyramiden befanden sich ein oder mehrere Tempel, die unterschiedlichen Gottheiten geweiht waren und Skulpturen und Abbilder enthielten. Die Altarplattformen dienten ebenfalls diversen Zwecken, die von der Fruchtbarkeit über die Zurschaustellung von Schädeln der Geopferten bis hin zur Verehrung bestimmter Götter reichten. Außerdem verfügte jede Stadt über einen eigenen Herrscherpalast, in dem der Tlatoani mit seiner Familie lebte. Architektonisch folgten diese Bauten trotz aller Unterschiede im Einzelnen demselben Schema; sie verfügten über einen großen Innenhof mit einer Altarplattform und anliegenden Gemächern für die Herrscherfamilie und Regierungsmitglieder. Weitere öffentliche Gebäude waren die Schulen, Calmecac für die Kinder der Adligen und Telpochcalli für die der Gemeinfreien. Die führenden Krieger versammelten sich in sogenannten Adlerhäusern.[12]
Der Haupttempel von Tenochtitlan
Auf der ovalen Insel, auf dem sich Tenochtitlan befand, bildete der Große Tempel mit seinem abgegrenzten Bezirk den Stadtmittelpunkt. Er war unter den verschiedenen Tlatoque immer wieder ausgebaut und vergrößert worden. Als Cortés ihn erstmals sah, war sein Staunen groß:
«… unter den Moscheen [Tempeln] ist eine, die der Haupttempel ist und für deren Größe und Besonderheiten es keine Worte gibt. Denn sie ist so groß, dass man auf ihrem Areal, das vollständig von einer hohen Mauer umgeben ist, sehr gut einen Ort für fünfhundert Einwohner errichten könnte. … Es gibt dort gut und gerne vierzig Türme, die alle so hoch sind, dass man im Fall des größten fünfzig Treppenstufen steigen muss, um überhaupt zur Basis zu gelangen. Der Haupttempel ist höher als die Kathedrale von Sevilla. Sie sind so gut gebaut sowohl in Stein als auch in Holz, dass es nirgendwo besser gemacht werden könnte …[13]
An der Westseite führte eine doppelte Treppe zu den beiden Heiligtümern an der Spitze der Pyramide hinauf, die im Westen dem Regengott Tlaloc und im Süden Huitzilopochtli gewidmet waren. Davor befand sich ein Altar, auf dem die Menschenopfer dargebracht wurden. Im Tempelbezirk standen mehr als siebzig Ritualgebäude, zu denen ein Schädelgerüst (Tzompantli), ein Ballspielplatz und ein runder, dem Quetzalcoatl geweihter Tempel zählten. Auch ein Ort für die Götterstatuen der unterworfenen Völker hatte dort seinen Platz.[14]
Die Pracht der Paläste mit ihren Gärten, Bibliotheken und sogar einem Zoo sollte die spanischen Eroberer ebenso stark beeindrucken wie die allgemeine Sauberkeit der Straßen, die laut Cervantes de Salazar täglich von tausend Männern gereinigt wurden. Der für europäische Städte typische Gestank war in Tenochtitlan weniger stark ausgeprägt mit Ausnahme des Tempelbezirks, wo die Gerüche der Menschenopfer den Europäern schier den Atem nahmen. Um diesen Gestank zu überdecken, trugen aztekische Adlige gerne duftende Blumen mit sich. Insgesamt hoben sich die hygienischen Zustände positiv von den ihnen bekannten europäischen Städten ab, nicht zuletzt weil die Mexica großen Wert auf körperliche Reinlichkeit legten. Hätten sie die Symbolsprache verstanden, so wäre den Europäern aufgefallen, dass diese ebenso bewusst Rückbezüge zum idealisierten Tula herstellte, wie sie selbst dies in ihren Städten mit Bezug auf Rom oder Jerusalem taten.[15]
Seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts wuchs der Reichtum der Mexica sprunghaft an, was sich an den öffentlichen Bauten und den beeindruckenden parkähnlichen Gartenlandschaften ablesen lässt, die immer monumentaler gerieten. Die ebenfalls von Nezahualcoyotl entworfene Anlage von Chapultepec war ein Vorläufer der botanischen Gärten der Neuzeit. Das äußere und sichtbare Zentrum der Macht eines jeden Stadtstaats bildete der Palast, der Tecpan. Und da Tenochtitlan die Hauptstadt des Reichs war, überstrahlte der erst 1502 nach einer Überflutungskatastrophe neu erbaute Tecpan des Moteuczoma alle anderen mit seiner Größe und seinem Gepränge. Folgt man López de Gómara, so verfügte er über drei Innenhöfe mit einem anmutigen Brunnen und mehr als einhundert Zimmer, die alle mit eigenem Bad ausgestattet waren. Die Wände – kunstvoll bemalt oder behangen – waren aus Alabaster, Jaspis und Porphyr und die Böden mit Fellen, Baumwoll- und Federteppichen ausgelegt. Im Erdgeschoss taten Verwaltungsbeamte und Handwerker aller Art ihren Dienst, während die Herrschaft darüber wohnte. Bei Nacht beleuchtete das Feuer von großen Kohlebecken den Palast, da man Kerzen noch nicht kannte.[16]
Die große Mehrzahl der Stadtbewohner lebte jedoch nicht in Palästen, sondern in den schlichten aus Adobeziegeln gebauten Behausungen der einfachen Leute. In Tenochtitlan und im Hochtal von Mexiko verfügten diese oft über mehrere Zimmer, während sie in den entlegeneren Provinzen in der Regel nur einen einzigen Raum aufwiesen. In der Hauptstadt waren die einstöckigen Häuser mit ihren Flachdächern um einen Hof herum platziert, wo sich die Bewohner eine Gemeinschaftsküche, Wasser- und Maisbehälter und ein Dampfbad teilten. Innerhalb der Städte lebte das gemeine Volk in klar umgrenzten Siedlungsverbänden oder Stadtvierteln, den Calpultin (Sing. Calpulli). In Tenochtitlan verteilten sich mehr als einhundert Calpultin auf die vier Stadtteile. Gemeinsam bebauten die Bewohner das Land, das einem Adligen gehörte. Ein Calpulli verfügte meistens über eine Schule und einen Markt. Im eigenen Tempel bewahrte man das Abbild der jeweiligen Schutzgottheit auf. Auf den Märkten, zu religiösen Hochfesten oder für Gemeinschaftsarbeiten kamen die Bewohner unterschiedlicher Calpultin zusammen. So musste jeder dem Tlatoani abwechselnd bestimmte Dienstleistungen erbringen und Arbeitskräfte für die großen Infrastrukturprojekte abstellen.[17]
Die Städte erfüllten politische, wirtschaftliche und religiöse Funktionen. In erster Linie waren sie das Zentrum eines Altepetl, einer auf ethnischer Abstammung basierenden politischen Einheit beziehungsweise eines Stadtstaats, dessen Herrschaftszentrum die Residenz des Tlatoani war. Von anderen Ortschaften unterschieden sich die Zentren des Altepetl durch die Existenz einer legitimen Dynastie, die Herrschaft über Land und Leute, eine Gründungslegende sowie eine eigene Schutzgottheit. Ihre Macht legitimierten die Herrscher durch übernatürliche Kräfte. Religiöse Rituale, die in der Stadt als sakralem Zentrum durchgeführt wurden, richteten sich an den gesamten Altepetl und die Teilnehmer kamen aus allen Gebieten des Reichs. Das Mächtegleichgewicht der Stadtstaaten im Tal von Mexiko war alles andere als stabil, sondern wurde kontinuierlich von Rivalitäten und Kriegen erschüttert. Wurde einer von ihnen von einem anderen erobert, kam es zu Umverteilungen von Tributen und Landbesitz. Darüber hinaus bildeten die Städte die Zentren des wirtschaftlichen Lebens. Hier fanden wöchentlich, in Tenochtitlan und Tlatelolco täglich, Märkte statt. Die handwerklichen Produktionsschwerpunkte unterschieden sich von Stadt zu Stadt. Während einige sich auf Obsidianbearbeitung oder Keramik spezialisierten, blieben andere bei der Herstellung von Textilien aus Agavefasern.[18]
Die wirtschaftliche Basis der aztekischen Gesellschaft bildete – wie in Europa – die Landwirtschaft, das heißt, dass die große Mehrheit der Bevölkerung von der Bewirtschaftung von Grund und Boden lebte. Unter den spezifischen naturräumlichen Gegebenheiten Mesoamerikas mit ihren großen Höhen- und Niederschlagsunterschieden kamen unterschiedliche Strategien zur Anwendung, um hunderttausende Menschen zu ernähren, die in den Städten lebten. Die aztekischen Bauern besaßen genaue Kenntnisse über Wetterbeobachtung, Bodennutzung und Wasserbewirtschaftung, die mündlich, aber auch schriftlich in ihren Büchern von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Immer wieder auftretenden Naturkatastrophen wie Erdbeben, Heuschreckenplagen, Vulkanausbrüchen, Frost, Hagel, Trockenphasen und vor allem Überflutungen konnte man jedoch nicht vollständig vorbeugen. Das bebaubare Land war ein höchst umstrittenes Gut und die Produkte galten als Währung der Tributzahlungen, die die Erzeuger an die lokalen Landbesitzer und die Herrscher des Reichs zu leisten hatten.[19]
Aufgrund der Gegebenheiten wurde der verfügbare Boden sehr unterschiedlich genutzt. Weit verbreitet war der Terrassenfeldbau. Hinzu kamen anspruchsvolle Bewässerungsmethoden, um das kostbare Wasser, das manchmal lange Zeit kaum oder gar nicht zur Verfügung stand und dann wieder in wolkenbruchartiger Überfülle, sinnvoll zu nutzen und zu verteilen. Über Kanäle und Dämme wurde das Wasser von Flüssen und Seen zu den Nutzflächen geführt. Dieses System kam im kleinen Rahmen zur Bewässerung nahe liegender Felder ebenso zur Anwendung wie bei groß angelegten Infrastrukturmaßnahmen bis hin zur Umleitung eines ganzen Flussbetts. Auch die Entwässerung von Sümpfen und Böden mit hohem Grundwasserspiegel zur Gewinnung neuer Anbauflächen zählte zu den Fertigkeiten der aztekischen Ingenieure und der zahllosen Arbeiter. Besonders beeindruckend waren zweifellos die sogenannten «schwimmenden Gärten», die Chinampas, künstliche Inseln, die an Untiefen insbesondere im Texcocosee angelegt wurden, indem man Erde und Schlamm vom Grund des Sees aufwarf und durch Pfähle und Schilf sicherte. Wahrscheinlich handelte es sich bei den Chinampas um eine staatlich angeordnete, konzertiert durchgeführte Infrastrukturmaßnahme, um die im 15. Jahrhundert stetig wachsende Stadtbevölkerung versorgen zu können. In den Chinampas waren vier bis sieben Ernten pro Jahr möglich. Um dies zu erreichen, legten die Bauern Saatbeete an, verwendeten eine ausgeklügelte Fruchtfolge und nutzten Naturdünger.[20]
Angesichts der hohen Bevölkerungszahl und der Insellage Tenochtitlans konnten die Chinampas aber nur einen kleinen Teil der Stadtbevölkerung ernähren. Die Hauptstadt hing von den Tributen der Untertanen und abhängigen Stadtstaaten ab, die in Naturalien abgeliefert werden mussten. So profitierte auch die nichtadlige aztekische Bevölkerung vom Tribut der unterworfenen Völker. Alle wichtigen Nahrungsmittel bis hin zum Trinkwasser mussten vom Festland beschafft werden. Auf dem Höhepunkt der Macht im 15. Jahrhundert bestand jedoch kein Mangel, wie die erhaltenen langen Tributlisten insbesondere in dem im Auftrag des ersten spanischen Vizekönigs entstandenen Codex Mendoza belegen. Der Tribut wurde für die einzelnen Provinzen des Reichs berechnet, wobei die nahe der Hauptstadt gelegenen Regionen vor allem Lebensmittel, die weiter entfernten eher Luxusgüter und wertvolle Rohstoffe zu liefern hatten. Beamte des Herrschers kontrollierten den pünktlichen Eingang der Abgaben in den Provinzen. Neben den Leistungen für die Hauptstadt waren überdies Abgaben an die jeweiligen Grundherren fällig, die in der Regel häufiger geleistet werden mussten.[21]
Die Kornkammer des Reichs befand sich im Hochtal von Mexiko, wo das kohlehydratreiche Grundnahrungsmittel Mais reiche Ernten einbrachte. Bohnen lieferten Proteine, Kürbis und Chilis versorgten die Menschen mit Vitaminen und Mineralstoffen. Amaranth und Chia, Früchte und Avocados, Nopalfeigen und Tomaten ergänzten die abwechslungsreiche Ernährung. An Gewürzen standen Vanille, Sirup, Honig, Salz, Blumen und Chili zur Verfügung. Fleisch wurde dagegen relativ wenig verzehrt, auch wenn Haustiere wie Truthähne und Hunde sowie Rotwild, Kaninchen, Fische, Salamander, Enten und Insekten das Nahrungsangebot bereicherten. Pulque, das beliebte Getränk, wurde aus dem Maguey-Kaktus hergestellt, während Kakao und Schokolade den adligen Konsumenten vorbehalten blieb.[22]
Für die Mexica war die landwirtschaftliche Arbeit eng verbunden mit ihrer Weltanschauung. Pflanzen erfüllten spirituelle Zwecke für den eigenen Haushalt, den Calpulli oder den Staat. Es gab genaue Vorstellungen von der Sakralität bestimmter Landschaften und vor allem von mit den Jahreszeiten und landwirtschaftlichen Arbeiten verbundenen religiösen Zeremonien und Ritualen. Der Ursprung der Arbeit lag dem Glauben der Mexica zufolge in der Schöpfung der ersten Arbeiter durch die Götter, wobei dem Mann die Bodenbewirtschaftung und der Frau das Spinnen und Weben zugeteilt wurde. Wichtig war die Vorstellung der Reziprozität, die allem Handeln zugrunde lag, auch dem zwischen Menschen und Göttern. Wie die Götter hatten auch die Menschen eine bestimmte Rolle im kosmischen Kreislauf zu erfüllen, um die Fruchtbarkeit des Bodens und damit das Überleben zu garantieren. Dazu waren Menschenopfer notwendig, als eine Art Vorleistung an den heiligen Berg, den Quell des Lebens, da von ihm das Wasser kam, das die Flüsse, Seen und Meere füllte, und die Fruchtbarkeit, die die Saat aufgehen und wachsen ließ. Daher fanden teils staatlich angeordnete und gesteuerte, teils kleinere dezentrale Opferrituale, etwa Kinderopfer, um Regen zu erbitten, regelmäßig statt. Diese Rituale galten nicht als Dank für empfangene Wohltaten, sondern waren auf die Zukunft ausgerichtet.[23]
Die landwirtschaftlichen Produkte und andere Waren wurden auf den Märkten gehandelt, wobei das schlechte Transportwesen einschränkend wirkte, denn die Mexica verfügten weder über Nutztiere noch über das Rad. Lastenträger mussten Waren über weite Strecken befördern. Während die kleinen Erzeuger ihre Produkte selbst zum Markt schleppten, verfügten Adlige und Großkaufleute über Berufsträger, Tameme, und Sklaven, die auch den spanischen Invasoren wichtige Dienste leisten sollten. So entwickelte sich eine rege Handelstätigkeit auch über weite Distanzen, denn kein Mexica-Haushalt war völlig autark. Unter den Märkten in den städtischen Zentren, auf denen täglich Waren angeboten wurden, stach der von Tlatelolco heraus, der größte Markt im damaligen Amerika, von dem die Spanier sehr beeindruckt waren. Daneben gab es kleinere Märkte, die in unterschiedlichen Taktungen abgehalten wurden. Dass der Warenaustausch an diesen Orten stattzufinden hatte, war gesetzlich geregelt und Wächter kontrollierten das Marktgeschehen.[24]
Am zahlreichsten waren die Bauern vertreten, die Teile ihrer Überschussproduktion an Nahrungsmitteln oder Textilien auf dem Markt anboten. Hinzu kamen die Handwerker, die ihr Handwerk zumeist im Nebenerwerb betrieben. Eine Sonderkategorie bildeten die Produzenten von Luxusgegenständen für den Adel. Manche Handwerker gingen nicht selbst auf den Markt, sondern verkauften ihre Produkte an Kaufleute, die teils über feste Verkaufsstände auf den großen Märkten verfügten, teils aber auch als Krämer über Land zogen. Eine kleine privilegierte und gut organisierte Gruppe waren dagegen die reichen Fernhandelskaufleute, die Pochteca, die einen eigenen Calpulli besaßen.[25]
Der Warenaustausch ermöglichte die Entstehung einer arbeitsteiligen Gesellschaft. So erreichte das Handwerk im Aztekenreich ein hohes Maß an Perfektion und Spezialisierung und es zeichnete sich durch das vielfältige Angebot aus. In der Frühzeit waren es vor allem Luxuswaren für den Adel und die Priester, die aus kostbaren Federn, Edelmetallen und Edelsteinen, Muscheln und wertvollen Stoffen hergestellt wurden. Diese Luxusgüter und Kunstwerke blieben dem einfachen Volk gemeinhin vorenthalten. Im Laufe des 15. Jahrhunderts produzierten die aztekischen Handwerker jedoch immer mehr auch für die breiten Bevölkerungsschichten, was den steigenden Wohlstand der Bewohner vor allem Tenochtitlans widerspiegelt. Metallhandwerk, Steinbearbeitung und Töpferei waren weit verbreitet. Ein alltägliches Handwerk übten die aztekischen Frauen und Mädchen mit der Herstellung von Textilien aus, die sie teils über den Eigenbedarf hinaus für den Marktverkauf anfertigten.[26]
Aufgrund der Nähe zu den Rohstoffvorkommen entwickelte sich beispielsweise Otumba zu einem Zentrum der Obsidianverarbeitung, während die Pulqueproduktion besonders im Hochland florierte, wo der Maguey in großen Mengen wuchs. Manche Stadtstaaten oder ethnische Gruppen waren berühmt für bestimmte Erzeugnisse und Fertigkeiten, so etwa Xochimilco für Edelsteine, Texcoco für polychrome Töpferwaren oder Coyoacán für seine Maurer. Als Experten für die Bearbeitung der von den Spaniern am heißesten begehrten Ware, Gold, erwiesen sich aufgrund der Nähe zu den Vorkommen dagegen die Mixteken in Oaxaca weit südlich vom Hochtal von Mexiko. Produziert wurden die Erzeugnisse entweder direkt auf dem Markt oder in den Haushalten hoch spezialisierter Fachleute, die ihr handwerkliches Wissen und ihr Werkzeug über Generationen hinweg weitergaben. Oftmals konzentrierte sich ein Calpulli auf ein bestimmtes Handwerk, wie etwa die berühmten Federhandwerker aus Amantlan in Tlatelolco, oder besonders qualifizierte Handwerker wurden in eigenen Calpultin angesiedelt wie die Edelsteinschneider aus Xochimilco in Tenochtitlan. Adlige und Herrscher verfügten darüber hinaus über eigene privilegierte und hochangesehene Handwerker, die aufwendige Luxusgegenstände aus seltenem und besonders kostbarem Material direkt in den Palästen herstellten, wo sie auch wohnten. Bei der Anfertigung einiger dieser Luxusprodukte und bei der Baumwollverarbeitung waren auch arbeitsteilige Prozesse notwendig.[27]
Überhaupt bildeten Textilien das zentrale Element im aztekischen Wirtschaftsleben, weil sie unter anderem als Zahlungsmittel dienten. Die luxuriösen Kleidungsstücke aus Baumwolle hatten einen höheren Wert als die einfachen aus Agavefasern, musste doch der Rohstoff Baumwolle aus der wärmeren Region, der Tierra caliente, ins Hochtal eingeführt werden. Dort wurde er in den einzelnen Haushalten weiterverarbeitet. Hergestellt wurden Lendenschurze und Schulterumhänge für Männer sowie lange mit einem Gürtel gebundene Röcke und Blusen für Frauen. Obwohl sich diese Grundausstattung bei allen Mexica fand, regelten strenge Kleiderordnungen die Details. So konnte man an der unterschiedlichen Länge oder Tragweise des Schulterumhangs den sozialen Status ablesen. Darüber hinaus gab es besonders prachtvolle Gewänder für hochgestellte Krieger und natürlich für den Herrscher und seinen Hof. Das Weben und Spinnen war, wie schon gesagt, Frauenarbeit und die dazu notwendigen Werkzeuge galten als ihre «Waffen», die nach den aztekischen Wertvorstellungen denen der Krieger gleichkamen.[28]
Die Stellung eines oder einer Mexica in der Gesellschaft wurde durch die Geburt bestimmt. Soziale Abstammung, Geschlecht und die astrologischen Vorzeichen bedingten den Lebensweg. Entweder wurde man in das gemeine Volk oder in den Adel hineingeboren. Dieser grundlegende Unterschied prägte die aztekische ebenso wie die frühneuzeitlichen europäischen Gesellschaften. Innerhalb dieser beiden sozialen Schichten gab es jedoch große Unterschiede, die sich an der unterschiedlichen Verteilung von Wohlstand, Freiheit, Macht und Lebensstil festmachen ließen. Die Klassenunterschiede verbanden sich mit religiösen Vorstellungen und politischen Realitäten. So diente die Religion der Legitimierung von sozialen Ungleichheiten, die als von den Göttern gegeben und zur Aufrechterhaltung der Ordnung der Welt notwendig gedeutet wurden, während die politische Macht diese Ordnung zu bewahren hatte.[29]
Grundlage der sozialen Ungleichheit im Aztekenreich war die Kontrolle über Land, Arbeit und die Regierungsgewalt, die in der Hand des Adels lag. Die Zahl der Adligen ging in die Zehntausende, sie machten wahrscheinlich rund zwei Prozent der Bevölkerung aus. Ihre privilegierte Stellung legitimierten sie mit der Abstammung von den Königen der Tolteken in Tula und von der Schöpfergottheit Quetzalcoatl. Sie betrachteten sich nicht als gewöhnliche Sterbliche, weshalb Nichtadlige nicht in diese Schicht aufsteigen konnten. Zwar gab es phasenweise eine Art Verdienstadel, der jedoch dem Geburtsadel nicht gleichgestellt war und von Moteuczoma II. wieder abgeschafft wurde. Der Adel genoss Privilegien, die ihn auch äußerlich vom einfachen Volk abhob. Bestimmte Nahrungsmittel wie vor allem Fleisch, Schmuck- und Kleidungsstücke – insbesondere die aus Baumwolle – waren diesem Stand vorbehalten. Natürlich zeigte sich seine Macht an der Größe der Paläste.[30]
Allerdings gab es auch unter den Adligen Abstufungen. Die meisten Pipiltin (Sing.: Pilli) verfügten nicht über besonderen Reichtum und Einfluss. Sie besetzten die niederen Ämter als Beamte, Lehrer, Schreiber, Offiziere oder Priester. Höher standen dagegen die Tetecuhtin (Sing.: Tecuhtli), die beispielsweise als Richter, Botschafter oder Gouverneure ausgedehnte Ländereien besaßen und Oberhäupter der großen Häuser waren, denen auch Pipiltin angehörten. Je bedeutender die Ämter und je näher am Tlatoani, desto höher war das Ansehen. Der Tlatoani (Plural: Tlatoque) stand als Herrscher eines Stadtstaats an der Spitze der Pyramide und wurde nur noch übertroffen von den Huey Tlatoque, den Herrschern des Dreibunds. Die Adligen waren in jeglicher Hinsicht privilegiert, doch mussten sie einem strengen Ehrenkodex folgen und sich stets vorbildlich verhalten, sonst drohten schwere Strafen. Handarbeit war unter ihrer Würde, dafür oblag ihnen der Erhalt der Sicherheit, der religiösen Riten, des sozialen Friedens und die Kriegführung.[31]
Ermöglicht wurde das privilegierte Leben des Adels von den tribut- und arbeitspflichtigen Gemeinfreien, den Macehualtin (Sing.: Macehualli), was im Nahuatl nicht nur Gemeinfreier, sondern auch Untertan bedeutete. Sie stellten die überwältigende Bevölkerungsmehrheit. Viele aztekische Bauern lebten in den Städten und bearbeiteten ihre Felder dort und außerhalb. Im Hochtal von Mexiko wohnten sie in den Calpultin und lieferten ihrem Beruf entsprechend die Tribute in Naturalien oder Werkstücken ab. Außerdem mussten sie im Rotationsverfahren Arbeitsdienste für öffentliche Aufgaben leisten. Dazu gehörten zum Beispiel die Bebauung des Landes des Tlatoani, Tätigkeiten für den Tempel, die Armee oder beim Kanal- und Dammbau sowie Kriegsdienste. Daneben gab es noch direkt adligen Häusern unterstehende Gemeine, die nicht der öffentlichen Arbeitspflicht unterworfen waren, aber auch keinem Calpulli angehörten. Im Vergleich zu europäischen Leibeigenen zeigen sich durchaus Ähnlichkeiten, jedoch bestand ein entscheidender Unterschied darin, dass ein aztekischer Bauer den Herrn und den Calpulli wechseln konnte, wenn diese ihn aufnahmen.[32]
Der Wohlstand und der Grad an persönlicher Freiheit innerhalb des einfachen Volks variierten und hingen von der Qualität und der Größe des bebauten Landes ab. Besitzen durften die Gemeinen das Land nicht, jedoch brachte die Zugehörigkeit zum Calpulli Vorteile. Dieser bestimmte nämlich selbst über die Verteilung und Nutzung des Landes, das ihm von einem zumeist nicht vor Ort ansässigen Adligen zur Verfügung gestellt worden war. Das Leben der Handwerker und Kaufleute, die ebenfalls zu den Nicht-Adligen zählten, unterschied sich teils erheblich von dem der einfachen Bauern. Die Pochteca und die hoch spezialisierten Feinhandwerker häuften teils so großen Reichtum an, dass sie ihre Häuser mit hohen Mauern umgaben, um nicht den Neid weniger begüterter Adliger zu erwecken. Auch im Priesteramt und im Kriegswesen sowie bei den niederen Beamten – etwa den Tributeintreibern in Provinzstädten – gab es begrenzte Aufstiegschancen für Gemeine.[33]
Am untersten Ende der sozialen Skala Mesoamerikas standen die Sklaven. Im Gegensatz zu europäischen Formen der Sklaverei war der Status nicht vererbbar. Sie behielten das Recht zu heiraten und ihre Kinder wurden frei geboren. Zum Sklaven wurde man, wenn man sich etwa in einer Notlage selbst in die Sklaverei verkaufte und dafür Schutz erhielt. Auch Verschuldung oder Missetaten wie Diebstahl konnten ins Sklavendasein führen. Manche tributpflichtigen Städte mussten darüber hinaus eine bestimmte Anzahl an Sklaven abliefern. Weibliche und männliche Sklaven wurden zu vielfältigen Arbeiten oft auch als Hausdiener herangezogen. Die Besitzer konnten sie verschenken oder als Menschenopfer darbringen lassen. Darüber hinaus zählten sie zu den Handelswaren, die die Pochteca über weite Strecken zu den Märkten brachten.[34]
Eine weitere durch die Geburt festgelegte Kategorie sozialer Ungleichheit war das Geschlecht. In der Außendarstellung zeigte sich das Aztekenreich als von Männern dominierte Kriegergesellschaft. In der Binnenorganisation gestalteten sich die Geschlechterbeziehungen jedoch ausgeglichener, als es auf den ersten Blick erscheinen mochte. Dies entsprach dem geheiligten Prinzip der Komplementarität, das in den religiösen Vorstellungen der Mexica eine zentrale Rolle spielte. Demnach erfüllten Männer und Frauen unterschiedliche Aufgaben und Rollen in getrennten eigenen Sphären, die jedoch grundsätzlich äquivalent und für das Funktionieren der Gesamtgesellschaft essentiell waren. Eine Frau, die bei der Geburt eines Kindes starb, galt dem Krieger gleich, der sein Leben auf dem Schlachtfeld verlor. Der Beitrag von Frauen zum militärischen Erfolg durch die Geburt von Kriegern, durch die Versorgung der Truppe mit Nachschub und durch Gebete wurde als ebenso wichtig erachtet wie der der Männer, denen das Schlachtfeld vorbehalten blieb. Dem männlichen Neugeborenen wurden Spielzeugwaffen, dem weiblichen ein Besen und Webwerkzeuge in die Wiege gelegt. Während Männer die höchsten Positionen politischer, wirtschaftlicher und militärischer Macht innehatten, verfügten Frauen in medizinischen, sozialen und administrativen Bereichen über Einfluss. Beide Geschlechter waren erbberechtigt. Frauen hatten dieselben Rechte wie Männer, konnten über individuellen Besitz verfügen und sich scheiden lassen.[35]
Außerdem gab es im Hochtal von Mexiko und im Aztekenreich insgesamt eine Vielzahl von Ethnien. Nur rund die Hälfte der Bevölkerung gehörte zu den nahuasprachigen Völkern, die andere Hälfte war Teil der Sprachfamilie der Otomí, die wiederum in zahlreiche Untergruppen zerfiel. Sie lebten vor allem in den Bergen und den trockeneren Zonen des Landes und galten als einfache, bäuerliche Bevölkerung. Ihre Siedlungen waren deutlich kleiner und ihre Behausungen einfacher als die der Azteken. Die Gesellschaft der Otomí zeigte sich weniger stark geschichtet. Die nahuasprechenden und meist in Städten lebenden Mexica schauten auf sie herab, Otomí war bei ihnen geradezu ein Schimpfwort. Respekt zollten sie ihren Nachbarn jedoch aufgrund ihrer kriegerischen Fertigkeiten.[36]
In der Kindererziehung wurde die strenge Trennung der Geschlechtersphären verstärkt, indem sich die Väter vor allem den Jungen, die Mütter den Mädchen widmeten. Je älter die Kinder wurden, desto mehr Aufgaben und Verantwortung in der Familie mussten sie übernehmen. Die aztekische Gesellschaft verfügte über ein hoch entwickeltes Schulwesen für Jungen, das in eine Krieger- und eine Priesterausbildung getrennt war. Mädchen lernten ihre Aufgaben dagegen weiter zuhause. Erst in der Pubertät kamen die Jugendlichen in den sogenannten Gesangshäusern zusammen, wo sie auch gemeinsam lernten, bestimmte Aufgaben während der öffentlichen Zeremonien zu übernehmen. Mit Ausnahme der zölibatären Priester gingen die Mexica arrangierte Ehen ein, die die Familien aushandelten, wobei die Frauen in den Haushalt des Ehemanns aufgenommen wurden. Das junge Ehepaar wurde in den Calpulli eingegliedert und ging seinen geschlechtsspezifischen Aufgaben nach, wobei es im Marktgeschehen und im Handel durchaus zu Überschneidungen kam. Die Einehe war die Regel, nur hohe Adlige konnten sich polygame Beziehungen leisten und hielten sich neben diversen legitimen Ehefrauen oft noch zahlreiche Konkubinen.[37]
In den aztekischen Haushalten lebten und arbeiteten in der Regel mehrere Generationen zusammen, wenngleich es durchaus auch Kernfamilien- und Einzelhaushalte gab. Im Durchschnitt wohnten wohl zwischen fünf und fünfzehn Personen in einem gemeinsamen Haus, das je nach ethnischer Gruppe, sozialer Stellung und geographischer Lage eine große Vielfalt aufwies. Der Haushalt wirkte im Alltagsleben der Mexica identitätsstiftend. Dort wurden auch die ethischen Werte vermittelt, die die aztekische Gesellschaft zusammenhielten. Doch nicht alle Mexica hielten sich daran. Antisoziales Verhalten wie Verbrechen und Unehrlichkeit wurden mit drakonischen Strafen sanktioniert, die wegen der abschreckenden Wirkung häufig auf dem Marktplatz zum Vollzug kamen. Die Todesstrafe wurde häufig vollstreckt beispielsweise für die Todsünde der Trunkenheit.
Die Moralvorstellungen der Mexica waren streng und die Kontrolle starker Gefühle wie Wut erachteten sie als wichtig für den Erhalt der körperlichen Gesundheit, eine Ausnahme bildete das ausgiebige Weinen und Wehklagen als Ausdruck von Trauer und Betrübnis. Rigide Regeln galten in sexueller Hinsicht. Die Kleiderordnung der Azteken sah im Gegensatz zu manchen anderen ethnischen Gruppen in Mesoamerika die Bedeckung der Scham bei Männern und Frauen vor. In künstlerischen Darstellungen wurde auf die Abbildung von Nacktheit und Sexualität weitgehend verzichtet. Abweichendes Sexualverhalten war nur geduldeten, sozial geächteten Gruppen wie Prostituierten oder Transvestiten gestattet, die der Mehrheit als schlechtes Beispiel dienten. Ansonsten wurden etwa eheliche Untreue oder Promiskuität streng geahndet. Von Adligen erwartete man auch in sexueller Hinsicht eine besonders vorbildliche Lebensführung. Die Sexualmoral der Mexica ähnelte also in einigen Aspekten dem frühneuzeitlichen europäischen Pendant, war in mancher Hinsicht jedoch restriktiver.[38]
Der Alltag der Stadtbewohner war durch den durchdringenden Ton der großen Trommeln auf dem Haupttempel klar strukturiert. Am Morgen erfüllte geschäftiges Treiben die Stadt. Die Menschen trafen sich auf den öffentlichen Plätzen, Märkten und vor allem im Gemeinschaftsgebäude des Calpulli. Dort wurde nicht nur gemeinsam gearbeitet und gebetet, man lachte, spielte, feierte und tanzte auch. Man kümmerte sich um Witwen und Waisen oder um verarmte Familien, schlichtete Streit und schottete sich gegen Fremde ab. Verfehlungen Einzelner wurden gedeckt, um den Calpulli nicht in Ungnade fallen zu lassen. Dabei herrschte eine Ideologie der Gleichheit, die jegliche Ambition ächtete. Wenn gegen Abend der Ton erklang, wurden alle Geschäftstätigkeiten eingestellt, man zog sich zur Nachtruhe zurück und spätestens mit dem Klang der von den Priesternovizen danach auf den Tempeln gespielten Flöten und Perkussionsinstrumente herrschte eine Ausgangssperre, die aus Sicherheitsgründen genauestens überwacht wurde. Nur die großen öffentlichen Feierlichkeiten unterbrachen die Stille der Nacht. Doch die Überwachung hatte auch Grenzen. So gab es durchaus marginalisierte Gruppen wie Obdachlose, Alkoholiker oder Verbrecher in der Stadt.[39]
Das Alltagsleben der Mexica war ebenso wie die Sphären von Politik und Wirtschaft untrennbar verbunden mit religiösen Vorstellungen und Praktiken, die sich nicht auf geistliche Eliten beschränkten, sondern alle Menschen betrafen. Eine Trennung von geistlicher und weltlicher Sphäre gab es nicht. Die hoch entwickelte religiöse Dimension der aztekischen Kultur brachte monumentale Tempel, ein differenziertes Priesterwesen und einen Glauben hervor, der jahrhundertealte Wurzeln hatte und im gesamten mesoamerikanischen Raum verbreitet war. Dabei handelte es sich nicht um eine Orthodoxie, sondern um Symbole und Riten, die sich im Lauf der Zeit an unterschiedlichen Orten in unterschiedlicher Art und Weise ausdifferenziert hatten. Prinzipien wie das der Dualität von sich ergänzenden Gegensätzen, des unendlichen Kampfs der Götter oder der kosmischen Zyklen kennzeichneten die Glaubensvorstellungen.[40]
Die Mexica stellten sich ihre eigene natürliche Welt als einen Zwischenraum vor, der wie eine flache Scheibe zwischen der übernatürlichen Unterwelt und dem Himmel lag. Die Scheibe war demnach ein Krokodil oder Kaiman, das Erdmonster, das von Wasser umgeben war. Der Himmel wurde nach aztekischer Ansicht von in Bäume verwandelten Göttern gestützt, sodass die Erde mit ihm in Verbindung blieb. Er bestand aus dreizehn Schichten, wohingegen die Unterwelt sich aus neun Schichten zusammensetzte. Vor allem durch Höhlen blieb auch die Unterwelt mit der Erde verbunden. Eine moralische Unterscheidung von Ober- und Unterwelt wie in den christlichen Vorstellungen von Himmel und Hölle gab es nicht. Den Himmelsrichtungen kam eine symbolische Bedeutung zu. Die Hauptstadt Tenochtitlan mit ihrem Haupttempel galt als kosmisches Zentrum, als heiliger Ort und Weltenachse, an dem sich die Energie von Himmel und Erde konzentrierte.[41]
Auch die aztekischen Zeitvorstellungen folgten der Idee kosmischer Zyklen. Ihr Zeitalter, ihre «Sonne», hatte nach Vorstellung der Mexica mit einem Selbstopfer der Götter begonnen, das die Sonne erstmalig in Bewegung gesetzt hatte. Dieser Ära waren demnach bereits vier weitere Zeitalter vorausgegangen, die die Götter jedoch durch verschiedene Naturkatastrophen wieder zerstört hatten. Ihre eigene Sonne war die Sonne des Erdbebens, die ebenfalls zum Untergang verdammt war, wenn die Menschen durch ihre Blutopfer nicht für deren Fortdauer sorgten.[42]
Die Kalender der Mexica waren in ganz Mesoamerika verbreitet. So folgte der Jahreskalender mit seiner 365-Tage-Zählung für das Sonnenjahr einem 52-jährigen Zyklus. Durch ihn wurde der Alltag strukturiert, etwa indem er den Markttag der fünftägigen Woche und den Tag der größeren Messen einmal im zwanzigtätigen Monat bestimmte. Parallel und ergänzend dazu lief der 260-Tage-Zyklus des Wahrsagejahres. Jeder Tag und jedes Jahr hatte einen eigenen Namen und eine eigene Bedeutung, die die Wahrsager auslegten, denen eine überaus wichtige Funktion für den Alltag der Mexica zukam. Sie wurden konsultiert, wenn es darum ging, den richtigen Zeitpunkt zum Säen oder Ernten, zum Reisen oder Heiraten, zum Bau eines Hauses oder zur Wahl eines Herrschers zu bestimmen. Es herrschte die Vorstellung, dass der Geburtstag die Persönlichkeit und das Schicksal der Menschen beeinflusste und dass sie die ihnen drohenden Gefahren durch bestimmte Verhaltensweisen wie zum Beispiel durch die auch in Europa bekannte Selbstkasteiung abwenden konnten. Letztlich galt es, die Götter zu beeinflussen und zufriedenzustellen, um das ständigen Gefahren ausgesetzte Leben zu sichern.[43]
Diesem Zweck dienten auch die zahlreichen öffentlichen Feste und Rituale, die an Zahl und Aufwand wohl noch die Feiern im katholischen Spanien übertroffen haben dürften. Sie wurden mit Prozessionen, Schaukämpfen, Tänzen, Gesängen, Banketten und Opferzeremonien zelebriert. Die Kalender fixierten die Festtage ebenso wie die Arbeiten je nach Jahreszeit. So feierte man in jedem der achtzehn Monate des Kalenderjahres ein Fest, das unter einem bestimmten Motto, etwa einem Naturphänomen («Sprießender Mais»), oder einem Ritual («Fegen des Weges») stand. Auch die natürliche Abfolge der Vegetationszyklen, die Erntezeit oder der Beginn der Regenzeit, wurde gefeiert. Neben den Monatsfesten gab es auch solche, die nicht jedes Jahr stattfanden. Als wichtigstes Fest galt dasjenige der Neufeuerbohrung am Ende eines 52-jährigen Zyklus, das 1507 letztmals stattfand. Nach dem Löschen aller Feuer im Land und anderen rituellen Handlungen entzündete der Oberpriester auf einem Berg nahe Itztapalapa das neue Feuer auf einem geopferten Menschen. Von dort wurde es an die Tempel und danach an die Haushalte weitergegeben. Die Feste im Umfeld des Wahrsagekalenders fielen demgegenüber schlichter aus und wurden beispielsweise nur von bestimmten Berufsgruppen begangen. Grundsätzlich fanden die Festrituale nicht nur im öffentlichen Raum statt, sondern wurden zum Beispiel durch Opfer und Gesang in den Einzelhaushalten vorbereitet und fortgesetzt.[44]
Bestimmte Gottheiten herrschten über dreizehntägige Perioden des Wahrsagekalenders, während derer sie besonders verehrt wurden. Überhaupt gab es im Pantheon der Mexica eine Vielzahl von Göttern, die über die drei räumlichen Dimensionen des Kosmos geboten. Nach den aztekischen Vorstellungen konnten die einzelnen Gottheiten unterschiedliche Gestalt und Form annehmen sowie unterschiedliche Rollen und Funktionen erfüllen. Die Mexica stellten sich ihre Götter in anthropomorpher Gestalt vor und schrieben ihnen menschliche Eigenschaften wie Vernunft, Leidenschaft oder Willen zu. Man huldigte ihnen durch mit Reliquien gefüllte heilige Bündel, geschmückte Figuren und Götterbilder. Die Götter waren «weder unfehlbar noch omnipotent und im Übrigen auch keine moralischen Vorbilder.»[45] Menschen und Götter waren wechselseitig aufeinander angewiesen. Die Vorstellung der komplementären Dualität galt ebenso für die Gottheiten, bei denen sich weibliche und männliche Eigenschaften ergänzten. Dinge oder Menschen konnten vorübergehend als göttlich beziehungsweise göttlich inspiriert betrachtet werden.[46]
Die altamerikanistische Forschung hat die aztekischen Gottheiten nach ihren Hauptfunktionen klassifiziert: Schöpfung und Schutz, Regen und landwirtschaftliche Fruchtbarkeit sowie Krieg und Opferung. Zur ersten Kategorie zählte der Gott Tezcatlipoca, der rauchende Spiegel, dem man großen Einfluss auf das Alltagsleben beimaß. Angesichts der Krisenanfälligkeit der Landwirtschaft widmeten die Mexica ihren unzähligen Fruchtbarkeitsgottheiten die meisten Feste. Als Regengott stach insbesondere Tlaloc hervor. Wie bei Tezcatlipoca konnte auch die Wirkung Tlalocs positiv und negativ sein. Die Kriegsgottheiten wiederum stellten hohe Ansprüche an die Menschen und forderten Opfer zur Erneuerung von Sonne und Mond, von Tag und Nacht. Für die Azteken waren vor allem die Sonnengottheiten Tonatiuh und Huitzilopochtli von größter Bedeutung. Dem Gott Quetzalcoatl kommt aufgrund seiner zahlreichen Bezüge zu allen drei Dimensionen eine eigene Kategorie zu. Er galt als den Menschen zugewandte wohlwollende Gottheit. Zentrum des Quetzalcoatl-Kults war die Stadt Cholula. Von den unterschiedlichen ethnischen oder Berufsgruppen wurden bestimmte Götter in besonderem Maße verehrt. Außerdem war die aztekische Götterwelt keineswegs statisch. Mit jeder Eroberung wurden ihr neue Gottheiten einverleibt.[47]
Neben den Göttern gab es in der Vorstellungswelt der Mexica noch übernatürliche Kräfte, die nicht die Form einer Person annahmen. Der Kosmos spiegelte den Austausch zwischen der natürlichen Welt und den Göttern und übernatürlichen Kräften wider. Letztere hatten die Aufgabe, die zyklische Wiederkehr des Jahresverlaufs, von Tag und Nacht sowie von Himmel und Erde zu garantieren und somit die Menschen mit den Mitteln zu versorgen, die sie zum Überleben benötigten. Durch ihre Opfer und Feiern mussten diese jedoch dazu beitragen und hatten daher Teil an der Verantwortung für das Funktionieren des kosmischen Ganzen. Für ihre Leistungen durften die Menschen göttliche Gegenleistungen erwarten. Die Vorstellung einer Belohnung oder Strafe im Jenseits für die eigene Lebensführung fehlte jedoch. Das Leben musste gut gelebt werden, um die Welt zu erhalten. Für die Auslegung dessen, was religiös gut und richtig war, beschäftigte die aztekische Gesellschaft eine hierarchisch gegliederte Priesterkaste, der Männer und Frauen angehörten, die in speziellen Schulen von Jugend an auf ihren Dienst vorbereitet wurden und die von staatlichen Tributen lebten. Sie hatten eine große Bandbreite an Aufgaben zu erfüllen, vom Putzen der Tempel über tägliche Gebete und Opfer bis zur Gestaltung der großen Festzeremonien.[48]
Hohe und erfahrene Priester führten auch das Ritual des Menschenopfers durch, indem sie den Ausgewählten die Brust mit einer scharfen Obsidianklinge öffneten und das Herz herausrissen. Über diese Praxis waren die spanischen Conquistadoren schockiert und begründeten unter anderem damit ihre Überzeugung, einen gerechten Krieg zu führen. Menschenopfer waren in Mesoamerika seit Jahrtausenden verbreitet. Aus Sicht der Mexica hatten sie eine zentrale Bedeutung für den Erhalt des Kosmos. Sie hingen eng mit dem Mythos von der Erschaffung von Sonne und Mond durch das Selbstopfer zweier Götter zusammen. Nach den Glaubensvorstellungen der Azteken bewegte sich die Sonne allein deswegen und es konnte nur so zum Wechsel von Tag und Nacht kommen. Die Menschen erhielten demnach den Auftrag, dieses Opfer mit ihren Körpern und ihrem heiligen Blut zu wiederholen, damit die kosmische Ordnung erhalten blieb. Auch die einzelnen Götter verlangten an ihren Hochfesten Menschenopfer für ihre Dienste. Der Sonnengut Huitzilopochtli etwa benötigte das Blut der Geopferten als Nahrung, um seinen täglichen Kampf gegen die Nacht erfolgreich zu führen.[49]
Opfer konnten zudem im Zusammenhang mit Schwüren von Gruppen oder Individuen oder zu politischen Zwecken dargebracht werden. Die Opferung war Bestandteil komplizierter Rituale, die sich je nach Anlass unterschieden. Manche Götter forderten Kinder oder Jungfrauen. Je mehr das Reich expandierte, desto höher wurde die Zahl der Menschenopfer. Die Kriegführung der Mexica war darauf angelegt, Gefangene für die Opferung zu machen. Laut Durán sollen bei der Einweihung des großen Tempels mehr als 80.400 Menschenopfer dargebracht worden sein, was allerdings unwahrscheinlich erscheint.[50] Auf jeden Fall stellte die massenhafte Opferung von Kriegsgefangenen eine politische Machtdemonstration dar, an der die Herrscher der tributpflichtigen Stadtstaaten wohl oder übel teilnehmen mussten. Das Verspeisen von Teilen – unter anderem Arm- und Beinfleisch – der Geopferten war fester Bestandteil der Opferrituale, die wiederum untrennbar zu den zahllosen öffentlichen Zeremonien gehörten.[51]
Ein zentrales Element in den Glaubensvorstellungen, die die Azteken mit ihren Ritualen bekräftigten, war der Umgang mit Geschichte, die konstruiert wurde, um die eigene soziale Gegenwart zu legitimieren. Die Mexica kombinierten zirkuläre und lineare Zeitvorstellungen und datierten historische Ereignisse so, dass sie eine kosmische Legitimation bekamen. Dabei ging es ihnen nicht um historisch akkurate Daten, wenngleich ihnen eine nach ihrem Kalender eindeutige Datierung problemlos möglich gewesen wäre. In der Geschichte, die sie tradierten, manifestierte sich ihre Weltsicht in erzählerischer Form. Sie diente damit ebenso wie die Feiern zur Erklärung der Entstehung und zum fortgesetzten Funktionieren des Kosmos.[52] Performativ weitergegeben wurde diese Geschichte in Liedern, Reden, Hymnen und Gebeten. Darüber hinaus stellten die Mexica auch Bücher her, deren Kunstfertigkeit schon den Humanisten Pietro Martire begeisterte. Das überraschte die Spanier, die eine derartige Kulturleistung in den bis dahin vor allem als barbarisch wahrgenommenen Indias nicht vermutet hatten.[53]
Wie wichtig den Mexica diese Bücher waren, zeigt sich daran, dass der Tlatoani Itzcoatl nach der Konsolidierung der aztekischen Macht zwischen 1428 und 1440 sowohl die bilderschriftlichen Überlieferungen der unterworfenen Völker als auch die eigenen verbrennen ließ, um eine Geschichte zu erfinden, die dem gewachsenen Machtanspruch der Azteken entsprach. Ähnlich wie die Europäer der Renaissance mit ihren Bezügen zur Antike, so konstruierten auch die Azteken eine imperiale Vergangenheit, die, je weiter sie zurückreichte, umso bedeutsamer erschien. Dass sie Elemente der historischen Überlieferung eroberter Völker in die eigene integrierten, entsprach dem allgemeinen Umgang mit den Errungenschaften anderer Ethnien. Damit legitimierten sie ihre politischen Herrschaftsansprüche und Ambitionen. Die Bezugnahme auf das Prestige und den Ruhm von Teotihuacan und Tula diente der Herstellung einer historischen Kontinuität zu diesen in Mesoamerika hoch verehrten vergangenen Stadtstaaten. Jedoch vergaßen die Mexica darüber nicht ihre nomadische und chichimekische Herkunft.[54]
In ihren Büchern konnten die mexikanischen Schreiber viele militärische Ruhmestaten verzeichnen, denn seit den 1430er-Jahren expandierte das Reich fast kontinuierlich. Auf dem Höhepunkt seiner Macht reichte das Territorium bis zur heutigen Grenze zwischen Mexiko und Guatemala. Mit dem politischen Aufstieg ging die Durchsetzung der eigenen Sprache, des Nahuatl, als Lingua franca einher. Das Ziel der Eroberungen bestand darin, dem Machtanspruch in ganz Mesoamerika Geltung zu verschaffen. Dabei traten die Mexica in die Fußstapfen der Vorgängerreiche. Krieg und Expansion waren seit langem integraler Bestandteil der mesoamerikanischen Welt und die Azteken definierten sich bereits während der Vorherrschaft der Tepaneken als besonders kriegerisches Volk. Damit konnten sie sich auf die altehrwürdige Tradition berufen, der sie sich als legitime Nachfolger der ruhmvollen Altvorderen geradezu verpflichtet fühlten. Eroberungen waren demnach eine von den Göttern vorgegebene Aufgabe. Das galt insbesondere wegen der religiösen Notwendigkeit, den Kosmos durch die Opferung von Menschen und Gegenständen, die als Tribute von militärisch unterworfenen Völkern eingetrieben wurden, zu erhalten.[55]
Die enorme militärische Dynamik des Aztekenreichs hatte auch profane Gründe, waren Herrscher und Adlige doch auf Erfolge im Krieg angewiesen, um ihr Ansehen und die Legitimität ihrer Herrschaft abzusichern und unter Beweis zu stellen. Je mehr das Reich expandierte, umso mehr wuchs die Gefahr von Aufständen, vor allem in den von Tenochtitlan weit entfernten Provinzen. Die ständigen Kriegszüge dienten damit auch zur Abschreckung, um einer Rebellion vorzubeugen. Für die Mexica hatten die Eroberungskriege zudem eine wirtschaftliche Bedeutung, bei der es um Raub und die Sicherung von Tributen ging. Schließlich konnten aztekische Herrscher durch erfolgreiche Kriege innenpolitische Spannungen abbauen, die durch unzufriedene Adlige entstanden.[56]
Wenn ein Feldzug anstand, musste der Herrscher seine Truppen mobilisieren, da er über kein stehendes Heer verfügte. Im Kriegsrat, dem Generalstab der aztekischen Armee, dem neben dem Tlatoani noch zahlreiche andere hohe Würdenträger angehörten, wurde die Verproviantierung geplant und der Aufmarsch vorbereitet. Man schätzt, dass Tenochtitlan bis zu zwanzigtausend und der gesamte Dreibund bis zu sechzigtausend Krieger mobilisieren konnten. Verbündete und tributpflichtige Städte stellten Hilfstruppen, vor allem Träger. Normalerweise wurde die Armee vom Herrscher selbst und in dessen Abwesenheit von einem der Generäle des Kriegsrats, dem Tlacatecatl, ins Feld geführt. In den Kampfeinheiten dienten Macehualtin aus einem Calpulli gemeinsam. Man erkannte sie an ihren leuchtenden Feldzeichen, die dem einzelnen Krieger im Kampfgetümmel zur Orientierung dienten. Fiel ihr Träger aus, war die Verwirrung in der Einheit groß, eine Tatsache, die sich die Spanier später zunutze machen sollten.[57]
Die Schlacht begann gewöhnlich bei Sonnenaufgang. War sie nicht innerhalb eines Tages beendet, zogen sich die Parteien bei Sonnenuntergang zurück, um am nächsten Morgen weiterzukämpfen. Kleinere nächtliche Überfälle waren allerdings durchaus üblich. Bei großen Truppenaufmärschen dienten Rauchzeichen der Verständigung und der Klang von Trommeln und Trompeten leitete die Frontalangriffe ein, während die Unterführer ihre Einheiten mit anfeuernden Reden ermunterten. Mit Pfeil und Bogen sowie Steinschleudern, die vor allem zu Beginn der Schlacht eingesetzt wurden, mit Keulen, Holzschwertern und -speeren mit Obsidianklingen gingen die Truppen aufeinander los. Die sozial höhergestellten Krieger führten die Schwerter, galten die auch zur Jagd benutzten Bogen und Schleudern doch als gewöhnlich, da für deren Einsatz im Gegensatz zum Schwertkampf kein aufwendiges Training vonnöten war. Zum Schutz des eigenen Körpers trugen die aztekischen Soldaten Baumwollpanzer, die die Spanier später übernehmen sollten. Je höher der Status des Kriegers, desto leichter war er an seiner prächtigen Bekleidung und seinem kostbaren Schmuck zu erkennen. Das galt besonders für die Eliteeinheiten der Adler- und Jaguarkrieger, die die Ehre hatten, sich als Erste in den Kampf Mann gegen Mann zu stürzen.[58]
Da die Feldzüge der Azteken nicht zuletzt dazu dienten, Gefangene zu machen, die später geopfert werden konnten, war die Kriegführung darauf ausgelegt. Den höchsten Ruhm konnte ein Krieger erreichen, wenn er möglichst viele Feinde gefangen nahm. Dennoch kamen in den Schlachten auch zahllose Kämpfer ums Leben, denn gerade in den Eroberungskriegen stand die Einnahme des Marktplatzes des angegriffenen Stadtstaats, die Zerstörung seiner Tempel sowie die Entführung seiner Gottheiten im Mittelpunkt des militärischen Kalküls. Insbesondere die Inthronisationskriege, mit denen sich ein Thronanwärter Ruhm und Ansehen verschaffen und damit seine Fähigkeit zum Regieren unter Beweis stellen musste, kombinierten die beiden Aspekte. Krieg war eine hoch ritualisierte Angelegenheit, die durch sakrale Tänze, Opfer und Fastenübungen vor- und nachbereitet sowie mit symbolischen Geschenken an den Feind offiziell erklärt wurde. Es handelte sich um eine heilige Handlung unter Gleichen, bei der herausgefunden wurde, welcher Stammesgott der Stärkere war. Daher sollten die Gegner auch ungefähr gleich stark sein, denn es brachte keine Ehre, einen eindeutig unterlegenen Feind zu besiegen.[59]
Eine Sonderfunktion kam demgegenüber den sogenannten Blumenkriegen zu. Bei dieser Art der Kriegführung, die die Mexica erfunden hatten, ging es um die Gefangennahme feindlicher Krieger zu Opferzwecken, wenngleich dabei durchaus auch viele Krieger den Tod fanden. Die Eroberung der Stadt des unterlegenen Gegners war nicht das Ziel eines Blumenkriegs. Das Schlachtfeld und die Zahl der beteiligten Kämpfer wurden vorab ausgehandelt. Zum Sieger erklärte sich die Seite, die mehr Feinde gefangen genommen hatte. Auch um die militärischen Einheiten zu trainieren, wurden Blumenkriege durchgeführt. Wie im Fall Chalcos konnten sie in Eroberungskriege umschlagen. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts gerieten die Städte des Hochtals von Tlaxcala – obschon Partner in den Blumenkriegen – immer stärker unter den Druck der großen Nachbarn. Es war wohl nur noch eine Frage, bis der Dreibund die Spielregeln änderte, ehe sich die Lage für die Stadtstaaten Tlaxcala, Huexotzinco und Cholula mit der Ankunft der Spanier drastisch wandelte.[60]
In der Regel zogen die Mexica in den Krieg, um sich gegen Angriffe zu verteidigen, was jedoch im Laufe des 15. Jahrhunderts immer seltener vorkam. Der Kampf gegen das benachbarte Tlatelolco 1473 wurde als Vergeltungsschlag dargestellt, da dessen Herrscher Moquihuix seine Ehefrau, eine Tochter des Tlatoani von Tenochtitlan, Axayacatl, misshandelt hatte. Der Krieg endete mit dem Sieg Axayacatls, der seinen Widersacher persönlich tötete. Seitdem bestimmte Tenochtitlan die beiden Gouverneure der Nachbarstadt. Auch Übergriffe gegen aztekische Gesandte oder Fernkaufleute, die oftmals militärische Spionageaufgaben erfüllten, galten als Kriegsgrund. Der Beistand für Verbündete oder die Unterdrückung von Aufständen führten ebenso häufig zu militärischem Eingreifen. Überdies wurde die Ablehnung mehr oder weniger getarnter Erpressungsmanöver als Grund für eine Kriegserklärung herangezogen. Dazu zählte etwa die als Beleidigung empfundene Absage einer Einladung zu einem hohen aztekischen Fest. Schließlich konnte die schlichte Langeweile der Krieger oder der Spaß am Kämpfen in einen veritablen Krieg münden.[61]
In der aztekischen Gesellschaft hatte der Kriegserfolg des Einzelnen eine zentrale Bedeutung für sein soziales Ansehen. Auch ein begrenzter sozialer Aufstieg war durch militärische Erfolge möglich, wenngleich die wichtigsten Positionen in der Armee den Adligen vorbehalten blieben. Die große Mehrzahl der Krieger arbeitete zu Friedenszeiten als Bauern, der Krieg bot ihnen eine Möglichkeit zur Verwirklichung von Ambitionen. Jugendliche wurden planmäßig auf den Militärdienst vorbereitet und zogen zunächst als Träger und Beobachter mit auf die Schlachtfelder. Der Krieg galt als Bewährungsprobe und eine Belohnung winkte demjenigen, der viele Gefangene nach Hause brachte. Je höher der militärische Dienstgrad oder der Adelsrang, desto größere kriegerische Leistungen wurden vom Einzelnen erwartet, um seine Privilegien zu halten. Der Kampf an sich war hochgradig individuell, weil alle Krieger miteinander im Wettbewerb um Gefangene standen. Sobald die Kriegsmuschel ertönte, kämpfte jeder für sich selbst, ohne dass die Schlachtenordnung aufgegeben wurde. Der einzelne Krieger suchte sich gleich- oder höherrangige Gegner, um sich zu beweisen. Gelegentlich übertrug sich die kriegerische Gewalt auch in den Alltag zu Friedenszeiten, wenn etwa arrogante junge Krieger gemeinfreie Händler oder Bauern gängelten und misshandelten, was allerdings schwere Strafen nach sich zog.[62]
Nach dem Sieg im Konflikt mit Azcapotzalco führte der Dreibund – zumeist siegreich – zahlreiche größere und kleinere Kriege mit Ausnahme des Feldzugs gegen die Tarasken im heutigen Michoacán um 1471. Das Vorgehen der Azteken folgte einer Sprungbrett-Taktik. Sie nutzten die Ressourcen und Truppen aus den eroberten Städten und zogen so gestärkt zur nächsten Schlacht. Auf diese Weise konnten sie das ihnen tributpflichtige Gebiet schrittweise erweitern. Diese Vorgehensweise sollten die spanischen Eroberer später erfolgreich kopieren. In den neu unterworfenen Regionen sicherte man die Macht durch die Stationierung von Garnisonen, die jedoch nicht auf Dauer angelegt waren, und die Einsetzung von Gouverneuren, denn Aufstände der Unterworfenen waren angesichts der drückenden Tribute und der Lasten zur Versorgung der Besatzer keineswegs selten.[63]
Die Mexica organisierten die eroberten Gebiete in Provinzen, die aus diversen Stadtstaaten bestanden und einem Hauptort untergeordnet waren. Manchmal übernahmen sie eine bereits vor der Eroberung bestehende Herrschaftsordnung und setzten sich an deren Spitze. Die Provinzeinteilung diente der effektiveren Eintreibung der Tribute. Jeder Dreibundpartner hatte ein bevorzugtes Einflussgebiet. Dabei handelte es sich nicht um eine direkte, sondern um eine hegemoniale Form der Herrschaft, bei der lokale, von den Mexica-Herrschern geduldete Eliten die Geschicke ihrer Städte steuerten. Wo notwendig setzten die Invasoren ihnen genehme Herrscher neu ein. Eine dauerhafte militärische Präsenz war in den meisten Fällen nicht notwendig, in der Regel genügte schon die Gewaltandrohung, um Gehorsam zu erzielen. Jedoch musste die Macht immer wieder neu demonstriert werden, weshalb die Kriegführung notwendig blieb. Diese Herrschaftsform erwies sich als effektiv, solange es keine ernstzunehmenden Konkurrenten gab. Erst als 1519 die Spanier eintrafen, sollte sich die Lage ändern.[64]
Der Dreibund blieb ein heterogenes Gebilde, dessen Existenz belegte, dass die Mexica von Tenochtitlan trotz ihrer Übermacht eben nicht das gesamte Tal von Mexiko absolut beherrschten.[65] Es handelte sich um ein Bündnis dreier Stadtstaaten, die jeweils eigene Einflusssphären hatten und lokal autonom blieben, wenngleich ein kompliziertes Geflecht aus ehelichen Verbindungen, diplomatischen Übereinkünften, Geschenkaustausch und gemeinsamen Feiern sie zusammenhielt. Eine Reichseinheit nach europäischen Vorstellungen mit einem Gemeinschaftsbewusstsein gab es zu Beginn des 16. Jahrhunderts in den von den Mexica besiegten Territorien nicht. Dem historisch noch jungen und stetig neue Gebiete erobernden ethnisch heterogenen Gebilde fehlte es an Integrationskraft. Insbesondere weit entfernte Völkerschaften außerhalb des Tals von Mexiko, die erst in jüngerer Zeit unterworfen worden waren, neigten dazu, Gelegenheiten und Bündnispartner zu suchen, um sich vom aztekischen Joch wieder zu befreien. Insofern ist der Begriff Aztekenreich trügerisch, zumal die Mexica selbst eine solche Bezeichnung nicht kannten.[66]
Den Krieg erklärte der Tlatoani, der an der Spitze des Herrschaftsverbands stand und mit seinem Ansehen und dem seiner Dynastie den Status seines Altepetl garantierte. Historisch belegbar sind neun Tlatoque der Mexica, die zwischen 1372 und 1520 regierten und die Verantwortung für das Staatswesen trugen. Das galt sowohl im Kriegswesen und in den diplomatischen Außenbeziehungen als auch im religiösen Bereich, wo sie im Rahmen wichtiger Zeremonien bei Menschenopfern selbst Hand anzulegen hatten. Den Respekt ihrer Untertanen mussten sie sich durch vorbildliche Haltung und Benehmen, militärische Erfolge und Führungsstärke idealerweise täglich verdienen, wenngleich längst nicht alle Throninhaber dem Ideal entsprachen.[67]
Das Aztekenreich war ein Wahlkönigtum. Zur Wahl standen die nahen – und von wenigen Ausnahmen abgesehen – männlichen Verwandten des vorherigen Herrschers im Mannesalter. Die Mutter des künftigen Throninhabers sollte idealerweise die vornehmste Ehefrau des Vorgängers sein, spielte doch die Kontinuität der Dynastie in den Vorstellungen der Mexica eine zentrale Rolle und sollte unbedingt gesichert werden. Nur Altepetl, die ihre Unabhängigkeit im Krieg verloren hatten, mussten oftmals genealogische Brüche verkraften. Ein Erstgeborenenrecht gab es dagegen nicht. Von zentraler Bedeutung war der Nachweis militärischer Fähigkeiten, die der Kandidat in der Regel auf Feldzügen und als Mitglied im Kriegsrat wiederholt unter Beweis gestellt hatte. Häufig empfahl der Tlatoani einen Nachfolger, doch war dies nicht bindend. In der Regel kamen daher mehrere Männer in Frage. Das Wahlrecht hatten hohe Adlige und Priester Tenochtitlans sowie die Herrscher der anderen Dreibundstädte.[68]
Moteuczoma, der zweite Tlatoani dieses Namens – daher der Beiname Xocoyotzin, ‹der Jüngere› – erfüllte die Voraussetzungen eines Thronanwärters in hervorragendem Maß. 1467 kam er als Kind des Prinzen und späteren Herrschers Axacayatl und einer Prinzessin aus Texcoco zur Welt. Sein Urgroßvater, Moteuczoma I., hatte das Aztekenreich während seiner Regierungszeit von 1440 bis 1469 konsolidiert und erheblich erweitert. 1469 folgte ihm sein Enkel Axacayatl im Herrscheramt, auf den 1481 dessen Bruder Tizoc und danach 1486 ein weiterer Bruder, Ahuizotl folgten. Bevor die Wahl 1502 auf Moteuczoma II. fiel, durchlief dieser die Stationen eines Prinzen von königlichem Geblüt, absolvierte die Adelsschule Calmecac und avancierte zum hohen Priester des Tempels des Huitzilopochtli. Unter Ahuizotl bekam er ein Amt im Kriegsrat und konnte bald auch Erfolge – sprich Gefangene – auf dem Schlachtfeld vorweisen.[69]
So war es auch nicht erstaunlich, dass sich Moteuczoma im Moment seiner Wahl auf einem Feldzug gegen Tolocan im Westen des Landes zur Niederschlagung einer Rebellion befand. Die Investitur eines neuen Herrschers war ein aufwendiger und mehrere Tage andauernder Prozess, begleitet von zahlreichen religiösen Ritualen, verwandelte er sich doch von einem einfachen Prinzen unter vielen in einen einzigartigen Herrscher und Halbgott, dessen Person mit besonderen Kräften ausgestattet war, die eine besondere Behandlung erforderte. Bei seiner Krönung erhielt er ein türkisfarbenes Cape, Ohren-, Nasen- und Lippenstecker sowie ein Diadem aus Türkis, das als Krone diente. Türkis stellte die Nähe zum Feuergott Xiuhtecuhtli her und gewährleistete die Übertragung der göttlichen Eigenschaften auf den Herrscher. Außerdem trug der Tlatoani kostbare Arm- und Wadenbänder sowie prachtvolle Federn. Den Thron bildete eine Matte aus gewebtem Schilf, die sich in einem riesigen und geschäftigen Palast befand, der eigens für ihn erbaut wurde. Mit dem Neubau folgte er der Tradition seiner Vorgänger, die ebenfalls jeweils neue Paläste hatten errichten lassen, deren Pracht die der bestehenden Herrenhäuser überstrahlte. Neben den Gemächern des Herrschers fanden sich zahlreiche Räume für Hofstaat und Besucher, Vorräte, Handwerker und für Besprechungen. Der Tlatoani verfügte auch über parkähnliche Gärten und einen Zoo, in dem wilde Tiere gehalten wurden, sowie über einen Trakt in seinem Palast, in dem Menschen mit körperlichen Deformationen lebten.[70]
Moteuczoma im Codex Ramírez
Die Etikette am Hof war bis ins kleinste Detail geregelt. Körperlicher Kontakt mit dem Tlatoani wurde auf ein Minimum eingeschränkt; so schaute man ihm nicht in die Augen und sprach ihn, wenn überhaupt, mit verhaltener Stimme an. Bei Audienzen und Besuchern gegenüber gab sich Moteuczoma unnahbar und streng. Seine Ernährung wurde umgestellt, denn der Herrscher musste auf seine Kräfte achten und seinen Körper pflegen und erhalten. Die von jungen Adligen aufgetragenen üppigen Mahlzeiten mit zahllosen Gängen und exquisiten Gerichten nahm der Tlatoani in einem gravitätischen Ritual zu sich, bei dem nur er aß und trank. Die übrig gebliebenen Speisen wurden danach unter den Palastbewohnern verteilt.[71]
Der Tlatoani verfügte über die größte Macht und entschied über Leben und Tod, Krieg und Frieden. Doch diese Macht war ihm zum Wohl seines Volkes verliehen worden, weshalb er sie gewissenhaft auszuüben hatte, um sich den Gehorsam seiner Untertanen zu verdienen. Der Tlatoani trug allumfassende Verantwortung für das Wohlergehen des Staates und seine Pflichten umfassten auch die Aufsicht über die religiöse Sphäre. Er sorgte für die Priester und die heiligen Stätten, ließ neue Tempel bauen und den großen Tempel erweitern. Bei zahllosen öffentlichen religiösen Feiern, bei denen er zum Teil auch im Gewand eines Gottes tanzen musste, übernahm er den Vorsitz. Im Fall von Naturkatastrophen war es an ihm, die Götter durch Wallfahrten oder Selbstopfer zu besänftigen. So war er Mittler zwischen Erde und Himmel und Sprecher der Götter. Auch Staatsbesuche bei fremden Herrschern und natürlich der militärische Oberbefehl zählten zu seinen Aufgaben. Ein erfolgreicher Herrscher musste seinen Reichtum, der exemplarisch für den seines Volkes stand, bei Feiern und Festessen, die sich über Tage hinziehen konnten, und durch Geschenke als Beweis seiner Macht zur Schau stellen. Auch dies war grundlegend für die Sicherung von Ordnung und Legitimität.[72]
In militärischer Hinsicht trat Moteuczoma in die Fußstapfen seines Vorgängers und führte zahlreiche Eroberungskriege, die das Reich weit nach Südosten in die heutigen Bundesstaaten Chiapas und Soconusco bis an die Grenze Guatemalas ausdehnten. Doch nicht überall gelang es den aztekischen Truppen, den Widerstand der Einheimischen endgültig zu brechen. Wo sie fern der Hauptstadt ihre Garnisonen einsetzten, schwelte der Widerstandsgeist oft unter der Oberfläche weiter oder der Krieg konnte wie in den unwegsamen Gebirgsregionen gar nicht zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht werden.[73]
Ab 1508 ließ Moteuczoma auch wieder Blumenkriege gegen Huexotzinco und Atlixco durchführen, bei denen die Mexica hohe Verluste zu beklagen hatten. So fielen unter anderem mehrere Brüder des Tlatoani, darunter Macuilmalinaltzin, der 1502 Favorit auf die Thronfolge gewesen war. Letztlich hatte Nezahualpilli, der Herrscher von Texcoco, mit seiner Stimme den Ausschlag zugunsten Moteuczomas gegeben. Der nicht berücksichtigte Bruder hatte seitdem eine Bedrohung für den neuen Herrscher dargestellt. Laut Alva Ixtlilxochitl ließ Moteuczoma seinen Bruder und dessen Gefolge im Kontext des Feldzugs gegen Atlixco 1508 ermorden. Außerdem veranlasste er die Säuberung der höchsten Staatsämter von den Gefolgsleuten seines Vorgängers und besetzte sie mit ihm treu ergebenen Beamten. Des Weiteren schloss er die unter seinen Vorgängern aufgestiegenen Verdienstadligen zugunsten des Erbadels wieder von der Macht aus.[74]
Die Konflikte, die Moteuczoma auf unterschiedlichen Ebenen durch sein hartes Vorgehen heraufbeschwor, hatten besonders fatale Auswirkungen im Umfeld des Dreibunds. Nezahualpilli war über den Tod seines Schwiegersohns Macuilmalinaltzin verärgert und wollte den immer offener zur Schau getragenen Vormachtanspruch des Tlatoani von Tenochtitlan nicht einfach hinnehmen. Während eines Blumenkriegs ließ er die Truppen Texcocos abziehen, woraufhin Moteuczoma den Texcoco tributpflichtigen Städten im Tal von Mexiko untersagte, ihren Zahlungsverpflichtungen weiter nachzukommen. Als Nezahualpilli 1515 starb, setzte Moteuczoma seinen Neffen Cacama gegen Widerstände in Texcoco als Nachfolger durch. Der noch junge Prinz Ixtlilxochitl, einer der legitimen Söhne Nezahualpillis, rebellierte daraufhin offen gegen den neuen Tlatoani und konnte diverse Städte einnehmen beziehungsweise auf seine Seite ziehen.[75]
Das Bild Moteuczomas II., das uns die Quellen übermitteln, die alle aus der Zeit nach dem Untergang Tenochtitlans stammen, ist zweifellos getrübt, machte man doch den Tlatoani für den Niedergang verantwortlich, denn er hatte es nicht vermocht, den Zorn der Götter zu besänftigen und die Ordnung der Welt wiederherzustellen. Wie stark man die Rolle Moteuczomas auch bewerten mag, die Welt der Azteken war bereits zuvor in Unordnung geraten. Innenpolitisch hatten sich Gräben aufgetan und außenpolitisch hatte das Reich zwar eine neue Größe erreicht, sich jedoch auch militärisch überdehnt und der Hass auf die Eroberer blieb vielerorts stark. Mit der Ankunft der Spanier 1519 bot sich den unzufriedenen Tributpflichtigen im Aztekenreich eine Gelegenheit, auf die sie schon gewartet hatten.