XIV. Fotobeweis

Nass bis auf die Knochen stand Eugen in der Dunkelheit. Der Gestank des verkohlten Hauptmanns wehte zu ihm herüber. Mit wachsender Verzweiflung suchte er in der Luft nach einem Zeitriss. Irgendetwas musste Francine doch hinterlassen haben, durch das er ihr folgen konnte. Nun denn, es hatte sich um eine völlig unkontrollierte Aktion gehandelt. Diesmal hatte seine Freundin mit ihren rotglühenden Händen kein Zeitportal geöffnet, sondern war mit Blitz und Donner von einem solchen verschluckt worden. Vielleicht konnte er aus diesem Grund nichts entdecken. Er verstand es nicht.

Der Regen wurde schwächer, es kam ihm beinahe so vor, als hätte Francine das Unwetter mitgenommen. Eugen musste hier schleunigst verschwinden, wenn die Stadtwache ihn jetzt in die Finger bekäme, könnte selbst der eloquente, reiche Hermann Löher ihn weder aus der Geschichte rausreden, noch rauskaufen.

Die Nässe schien den Gestank der Fäkalien in den Rinnen und Rillen der Straße zu verstärken. Unerträglich. Das Mittelalter kam ihm noch finsterer vor, als er sich vorgestellt hatte. Für Eugen gab es nur eine Rettung, wenn er nicht den Rest seines Lebens in dieser Trostlosigkeit verbringen wollte. Er musste den Riss finden, der ihn hergebracht hatte. Den Riss, der zurück in sein Schlafzimmer von 2022 führte.

Das Haus der Klepp wird in ein paar Hundert Jahren nordöstlich der Stadtmitte gebaut. Dort muss der Spalt noch sein, resümierte er.

Zur Orientierung drehte er sich im Kreis. Inzwischen war es dunkel geworden, zur Bestimmung der Himmelsrichtung fehlte die Sonne. Doch er wusste in etwa, wo sie untergegangen war. Genau diese Richtung schlug er nun ein.

Vom Marktplatz zu Fuß nach Hause hatte er früher keine fünfzehn Minuten benötigt. Der kürzeste Weg hatte ihn durch das Werther Tor im Osten geführt. Er taumelte Richtung Norden durch die Gasse und nach einer Viertelstunde wurde er fündig. Hinter einer Häuserecke beobachtete er den hohen Bau eine Weile. Immerhin konnte er am Werther Tor keine Wachen entdecken, doch ein mächtiges gusseisernes Gitter versperrte den Weg aus der Stadt. Etwa zehn Meter links davon führte ein Wehrgang auf die Stadtmauer. Die Wehranlage war in erster Linie darauf ausgelegt, Angreifer aus der Stadt fernzuhalten, doch das Herauskommen sollte möglich sein.

So leise wie möglich lief er die hölzernen Stufen hoch und schaute durch ein Zinnenfenster. Locker drei Meter ging es auf der anderen Seite hinunter. Mist, zu tief zum Springen, er würde sich die Beine brechen. Eugen ließ seinen Blick schweifen, wobei er nur in ewige Dunkelheit glotzte. Außerhalb der Stadtmauern schien es keine Häuser zu geben, alles stockdunkel, nicht eine einzige Kerze, Fackel oder Laterne konnte er sehen.

Auf den Fußballen schlich er den Wehrgang entlang. Die Bohlen unter seinen Füßen knarzten. Irgendwo in seinem Rücken wurde eine Tür aufgerissen.

»Lamprecht, bist du es?«, rief eine raue Stimme. Nein, Lamprecht war er nicht.

Eugen verlor die Nerven. Er rannte los. Auf der Außenseite der Stadtmauer tauchte der Schemen eines Daches auf – etwa zwei Meter tief. Das müsste er hinbekommen. Er kletterte über den groben Stein, drehte sich und hing plötzlich mit beiden Händen an der Außenmauer. Eugen ließ sich fallen. Als er aufkam, brachen ein oder zwei Dachschindeln unter seinen Füßen, das Dach hielt.

»WIDERLICHER GALGENSCHWENGEL!«, rief es von oben. Zong! Plock! Tock! Der Klang einer Sehne, das Pfeifen eines Geschosses dicht an ihm vorbei, das Eindringen in Holz. Der schoss mit einem Bogen auf ihn.

Unkontrolliert rutschte Eugen die Dachschräge hinunter. Im letzten Moment konnte er sich an einem Vorsprung festhalten. Er stierte in die Dunkelheit – von hier aus konnte er den Boden nicht erkennen – er würde sich den Hals brechen.

Was soll es, dachte er, kletterte weiter bis zum Dachrand, legte sich bäuchlings auf die Lehmziegel, rutschte vor, bis die Beine ins Leere baumelten. Dann ließ er los und sprang hinunter. In den Konjunktiv, denn allzu tief dürfte es nicht mehr hinuntergehen.

Nach geschätzten vierzig Zentimetern freiem Fall landete er. Mit federnden Knien rollte er sich geschickt ab. Ein echt cooler Move – so wie es James Bond nicht hätte besser machen können. Glücklicherweise fühlte sich der Boden angenehm weich an.

Ha, ein Mann darf auch mal Glück haben. Kaum hatte er diesen heroischen Gedanken zu Ende gedacht, stand er der nächsten Gefahr gegenüber. Drei riesige Schatten näherten sich. Kampfhunde? Die Schatten erinnerten an bullige Bulldoggen. Verflucht, kannten die im Mittelalter schon solche Viecher? Und noch eine, nun umzingelten die Biester ihn. Eugen hatte keine Chance, die würden ihn zerfetzen. Grunzen von allen Seiten. Moment? Grunzen, kein Knurren. Die Schweine beschnüffelten ihn neugierig, fast so als freuten sie sich über den nächtlichen Besuch. Jetzt stieg es Eugen auch in die Nase. Schön, wie elegant er sich in der Schweinekacke abgerollt hatte. »Jetzt rieche ich wie ihr. Wir sind eine Familie«, flüsterte er. Die Schweine quiekten zustimmend.

»Er ist im Schweinestall«, ertönte es von oben.

Eugen stürzte aus dem Pferch, er rannte so schnell er konnte von der Mauer weg. Erst als ihm die Luft wegblieb, verschnaufte er einen Augenblick.

Mit langen Schritten marschierte er über eine Wiese. Der viele Regen hatte den Boden aufgeweicht. So groß konnte das Areal gar nicht sein, in dem in vierhundert Jahren das Haus der Klepp stehen würde. Systematisch ging er hin und her. Inzwischen hatten sich die Regenwolken verzogen und ein blasser Halbmond lugte höhnisch zu ihm hinunter.

Die Wachen verfolgten ihn offenbar nicht. Eugen setzte seine Suche fort. Die Beine taten weh, die nasse, kalte Kleidung klebte an seinem Körper, und er stank nach Schweinescheiße.

Wo war der Hermann-Löher-Weg? Oder besser, wo würde er sein? Hier gab es nur Acker, Wiese, Wald und Gräben. Rechts von ihm lag ein Steinhügel. Es durchzuckte ihn. Kein Hügel, ein gigantischer Findling, wie ihn nur Gletscher während einer Eiszeit transportieren können.

Ich sollte darüber nachdenken den Kapuzinern beizutreten, denn es ist an der Zeit für ein Stoßgebet, dachte Eugen.

Nun wusste er, wo sein Zuhause der letzten vier Jahre in vierhundert Jahren stehen würde. Hundertmal hatte Eugen vom Balkon aus auf den Stein gestarrt. Er benötigte nur noch wenige Schritte, bis er an der richtigen Stelle stand. Doch hier war weder Spalt noch Riss zu entdecken. Trotz der Kälte brach ihm der Schweiß aus. Es tat weh, wenn die letzte Hoffnung schwand. Bitte, hier musste das Zeitportal doch sein. Der Riss war lang gewesen. Erneut suchte er kreisförmig nach einer Anomalie. Nichts. Er schritt den Boden ab. Balkon, Wohnzimmer, Schlafzimmer. Nichts. Mit der Zeit verblassten die Risse zwar, doch es waren nicht einmal drei Tage vergangen, seit er hier angekommen war. In seinem Gehirn rumorte ein Gedanke, ohne in sein Bewusstsein vorzudringen. Reflexartig legte Eugen den Kopf in den Nacken. Francine und er wohnten in der Dachwohnung. Etwa einen halben Meter über ihm schwebte etwas in der Luft. Ein Flimmern, wie von einem Glühwürmchen. Tatsächlich. Eugens Herz sprang auf und nieder. Zweifelsohne, der Riss! Oder das, was davon über war. Passte er dort überhaupt hindurch? Er sprang hoch und konnte mit einer Hand den unteren Teil berühren. Nein, so funktionierte das niemals. Jetzt könnte er die vierstufige Haushaltsleiter gut gebrauchen, mit der er die Glühbirne im Flur gewechselt hatte – genau hier, nur ein bisschen später. Erneut hüpfte er so hoch er konnte – ohne Erfolg. Die Entdeckung des Zeitportals verlieh ihm neue Kraft, er schaute sich um. Nicht einmal ein Meter fehlte. Direkt unter dem Spalt stampfte er mit der Hacke ein Kreuz in den Boden. Er machte drei Schritte zurück, zog Francines Smartphone aus der Tasche und fotografierte von hier aus das Grundstück mit dem Findling im Hintergrund.

Erst jetzt lief er los, um nach einer Lösung für sein Problem zu suchen. Kaum hatte er ein paar Schritte getan, entdeckte er am Rand eines kleinen Wäldchens einen Ast, vielleicht vom Unwetter dorthin geweht. Mit beiden Händen hievte er ihn hoch – ein bisschen zu schwer war das Ding schon, doch er brauchte nur das Mittelstück. Eugen machte sich daran, die seitlichen Blätterzweige abzubrechen. Übrig blieb ein Stecken von gut zwei Meter Länge. Damit ging er zurück zum Spalt. Nur der Mond schien ihm bei seinem Treiben zuzusehen, dies jedoch mit viel Neugierde.

Jetzt gilt es, dachte Eugen.

Er nahm etwa zehn Schritte Anlauf, packte den Ast an einem Ende und hielt das andere waagrecht vor sich. Fest entschlossen rannte er los. Etwa einen Meter vor dem Kreuz rammte er den Ast in den Boden und schwang sich wie ein Stabhochspringer in die Lüfte. Naja, so vom Prinzip her. Er musste aber auch nicht sechs Meter hochspringen, sondern nur anderthalb. Während des Anlaufes arbeitete sein Kopf auf Hochtouren. Denn tief in sich drin, wusste Eugen, dass er Eugen war und dieser verwegene Plan niemals funktionieren würde. Noch sieben Schritte. Er würde vorher stolpern und sich die Nase brechen. Noch vier Schritte. Er würde am Spalt vorbeisegeln. Der Zweig würde brechen. Noch zwei Schritte. Er würde nicht hoch genug kommen und wie ein Sack Zement auf die Erde klatschen. Dann geschah es. Er erwischte den richtigen Punkt im Boden, krallte sich mit der Kraft der Verzweiflung mit beiden Händen ins Holz, Stab und Schwung hoben sein Gewicht an, er flog mit den Füßen voran genau in den flimmernden Spalt. Doch leider erfasste ihn nicht die merkwürdige Schwerelosigkeit, die er sonst beim Reisen durch die Portale verspürte. Schon machte er sich auf eine schmerzhafte Landung gefasst. Fluchend ließ er den Ast los, Eugen drehte sich wie bei einem Salto, ihm schwindelte, er fiel – jedoch nicht auf die Erde, sondern weich und flauschig, wie eine Landung auf Wolke sieben.

 

»HERR SCHULZE! SIND SIE VON SINNEN?«

Mit äußerster Anstrengung öffnete Eugen die Augen. Er lag in einem großen Bett auf einem schneeweißen Laken. An der Decke leuchtete ein zwölfarmiger Lüster. Glühbirnen, ganz klar Glühbirnen und keine Kerzen. Mittelalter ade! In dem Zimmer stank es nach Schweinescheiße, doch das war das geringste Problem.

»WAS MACHEN SIE PERVERSLING IN MEINEM BETT?« Frau Klepp tobte mit lieblicher Stimme. »UND DIESER GERUCH!«

Die gute Nachricht: Offenbar war er wieder zuhause. Die schlechte Nachricht, der örtliche Versatz des Risses hatte ihn in die jetzige Lage portiert.

»Wie sehen Sie überhaupt aus? Und dann dieser Gestank. Es reicht mir – Sie sind ein Verbrecher.«

»Nein, Frau Klepp, Sie missverstehen das.«

»Zu viel ist zu viel. Sie gehören eingesperrt. Genau wie Blondie, das freche Miststück. Glauben Sie etwa, ich kriege nicht mit, wenn sie Klepper zu mir sagt?«, wieherte die Vermieterin.

»Aber … aber ich kann alles erklären.« Eugen erhob sich. Im Bett zeichnete sich eine deutliche Spur der Schweinehinterlassenschaft ab. Er wollte überhaupt nicht wissen, was die Viecher gefressen hatten, um so zu stinken.

Die Klepp rastete aus – sie stand ganz und gar nicht auf Schweinereien im Schlafzimmer. Von irgendwoher hielt die Dame plötzlich einen Bogen in der Hand und zielte mit einem Pfeil auf ihn. Das konnte doch kaum wahr sein, gerade war er den Pfeilen im Mittelalter entkommen und schon drohte er, abermals mit diesen langen, spitzen Dingern an die Wand genagelt zu werden.

»Ich bezahle Ihnen alles. Suchen Sie sich neue Bettwäsche aus. Ich ... ich mache auch sauber!«

»Nein, Sie müssen eingesperrt werden. Der Gipfel ist das riesige Loch in der Wand.«

»Was für ein Loch?«, fragte Eugen.

»EIN RIESIGES LOCH VON IHREM SCHLAFZIMMER INS TREPPENHAUS«, spuckte sie wütend.

»Ich verstehe nicht …«

»Auch noch lügen!« Sie hob den Bogen, das Ding sah professionell und richtig gefährlich aus, wie man sie von der Olympiade kennt. »Wegen des Schadens habe ich die Polizei bereits gerufen, sie ist unterwegs. Kaum verlasse ich mal für wenige Stunden mein Haus, um mit meinem Bruder essen zu gehen, dann passiert sowas. Erst meine Wand und dann dies hier. Wie sind Sie überhaupt in mein Schlafzimmer gelangt? Oh, dafür wandern Sie ins Gefängnis!«

Eugen blieb eine Antwort erspart, denn in diesem Moment fuhr ein Auto vor.

Die Klepp warf einen Blick durchs Fenster. »Wird auch Zeit, ich habe die vor einer Ewigkeit angerufen. Nun kann ich der Polizei nicht nur den Schaden, sondern auch den Täter präsentieren.«

Vom Mittelalter in die Neuzeit bedeutete vom Regen in die Traufe. Eugen überlegte, fluchtartig loszustürmen. Auf der Hinterseite des Hauses gab es eine Terrassentür, durch die könnte er in die Nacht flüchten.

Zong! Plock! Tock! Fast schon vertraut. Ein Pfeil zischte an seinem Kopf vorbei und blieb tief im Putz der Wand hinter ihm stecken.

»Denk nicht mal dran wegzulaufen, Kerlchen. Das war nur ein Warnschuss. Der nächste trifft.« Tatsächlich spannte sie den Bogen bereits wieder und zielte auf seine Nase. Auch wenn der alte Klepper ewig brauchte, um die Treppe heraufzukommen – mit dem Bogen ging sie um, als ob sie den ganzen Tag nichts anderes tun würde.

»Schon gut, schon gut.« Ergeben ergab sich Eugen.

Sie warteten, bis eine Frau und ein Mann, beide in Uniform, das Zimmer betraten.

»Nehmen Sie sofort die Waffe herunter!«, rief die Dame.

Endlich ließ die bekloppte Klepp den Bogen sinken.

»Mein Name ist Jasmin Wegreiter, Polizeihauptmeister in. Erklären Sie mir, was hier los ist.« Auf den ersten Blick erinnerte sie mit ihren langen, blonden Haaren entfernt an Francine. Ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen war, vermochte Eugen noch nicht zu sagen.

»Der perverse Mistkerl …«, der Klepper blähte demonstrativ die Nüstern auf, »… ist in dieser Montur in meine Wohnung eingedrungen und hat sich in mein Bett gelegt. Und vorher hat er mein Haus ruiniert. Sehen Sie sich das Loch in der Wand an.«

»Langsam. Frau Klepp, Sie sind mir bekannt. Nehmen wir erst einmal die Personalien des jungen Mannes auf.« Sie wandte Eugen den Kopf zu. »Können Sie sich ausweisen?«

»Nicht so direkt«, entgegnete er.

»Wie heißen Sie?« Die Polizistin betrachtete ihn mit stechendem Blick.

»Ich bin Eugen Schulze. Ich wohne hier. Äh, ich meine nebenan. Ich bin der Mieter.«

»Überprüf das, Armin!«, nickte die Dame ihrem Partner zu. Der verschwand umgehend in Richtung Polizeiauto.

»Stellen Sie sich hier hin, Hände an die Wand, Herr Schulze.«

»Auf keinen Fall! Wollen Sie etwa, dass der Schmutzfink meine Tapete ruiniert?«, fragte Frau Klepp.

»Hören Sie, ich mache meinen Job. Ich muss wissen, ob er bewaffnet ist.«

»Bin ich nicht«, erklärte Eugen. Alles, was ich bei mir trage, ist das Handy meiner Freundin. Ich bin harmlos.« Er strengte sich an, lieb zu gucken.

»Ich bin fast geneigt, Ihnen zu glauben. Aber nur fast«, entgegnete die Polizistin.

Ihr Kollege kam zurück. »Seit wann wohnen Sie hier, Herr Schulze?«

»Im Dezember werden es vier Jahre«, antwortete die Klepp für ihn.

»Jasmin, stell dir vor, er ist nicht gemeldet. Und Eugen Schulzes gibt es eine Menge, ich brauche das Geburtsdatum.« Mit finsterer Miene beäugte er Eugen. »Wann sind Sie geboren, Herr Schulze?«

Was für ein Mist, der würde natürlich nur sein unbedarftes zweites Ich in Düsseldorf entdecken, was den hier anwesenden perversen Mistkerl noch tiefer in den Schlamassel ziehen würde. »Das ist so lange her, und ich war noch sehr klein. Ich kann mich nicht erinnern.« Er versuchte, nicht patzig zu klingen.

»Wissen Sie denn noch, in welcher Stadt dieses wunderbare Ereignis stattgefunden hat?«, fragte Armin wie eine Zuckerwaffel mit Sahne.

Eugen schwieg.

»Halt ihn in Schach«, sagte Polizeihauptmeisterin Wegreiter. Im nächsten Moment tastete sie ihn ab. »Das ist ja widerlich. Ist das wirklich Schweinekot?«

War es – knapp vierhundert Jahre alt. »Ich … ich kann es erklären«, stotterte Eugen und konnte es nicht erklären.

»Wir nehmen ihn mit«, entschied Jasmin Wegreiter. »Es ist spät. Kommen Sie morgen Vormittag zur Wache, Frau Klepp. Dann nehmen wir Ihre Aussage auf.«

»Und wer bezahlt mir meinen Schaden?«

»Das regeln wir später. Stopfen Sie die Bettwäsche in die Waschmaschine. Guten Abend.«

Der Mann legte Eugen Handschellen an. Die beiden Beamten führten ihn ab wie einen Schwerverbrecher.

 

Die Gefängniszelle sah aus wie sonntagsabends im Tatort. Klein und zweckdienlich, mit Gitter und Pritsche und Langeweile. Seit einer Stunde saß er hier – Francines Smartphone hatten sie ihm abgenommen. Standhaft weigerte er sich, sein Geburtsdatum oder -ort oder weitere Details zu seiner Person zu nennen. Es hätte nur neue Fragen aufgeworfen.

Jasmin Wegreiter schloss die Zellentür auf. Begleitet wurde sie von zwei weiteren Beamten. »Kommen Sie.«

Nur wenige Schritte später fand sich Eugen in einem Vernehmungszimmer wieder. Der Raum sah aus wie sonntagsabends im Tatort. Drei Stühle, ein Tisch, eine Kamera, eine Lampe.

»Hören Sie, wir halten Sie nicht für einen Verbrecher. Wir wollen Ihnen helfen. Dazu brauchen wir als erstes Ihre Identität.«

Eugen glaubte ihr, dass er nicht als gefährlich eingestuft wurde, denn die beiden Männer verschwanden und sogar die Tür blieb offen. »Egal, was ich Ihnen erzähle, Sie werden es nicht glauben«, begann er.

»Versuchen wir es.« Sie lächelte knapp.

Nach all den fürchterlichen Erlebnissen war Eugen es leid. Er wollte sich nicht neue Lüge ausdenken, sondern beschloss, die schlichte Wahrheit zu erzählen. »Mit dem Loch in der Wand habe ich nichts zu tun. Ich habe ein Alibi, zu dieser Zeit war ich im späten Mittelalter. Im Jahr 1635, um genau zu sein. Hunderte von Menschen können das bezeugen.«

Verdutzt sah die Beamtin ihn an. Mitleid schlich sich in ihre Miene. »1635?«

»Genau. Im Herbst. Bei schlechtem Wetter.«

»Dann sind Sie ein Zeitreisender! Und das soll ich glauben.«

»Ich hoffe es. Ich kann es beweisen, wenn Sie mir mein Smartphone wiedergeben. Ich habe Fotos gemacht.« Hoffnung durchströmte Eugen.

»Halten Sie mich nicht zum Narren, Herr Schulze. Wenn das überhaupt Ihr richtiger Name ist.«

»Ist er. Geben Sie mir die Gelegenheit, es zu beweisen.«

Schnaubend erhob sie sich. »Ich schlage ein Tauschgeschäft vor. Ich hole Ihr Smartphone, Sie geben mir Ihr Geburtsdatum.«

»Einverstanden«, antwortete Eugen.

Frau Wegreiter verschwand und kam drei Minuten später mit dem Handy zurück. Eugen nahm es entgegen und schaltete es ein. »Es gehört meiner Freundin, aber ich kenne den Code. 0815 – eine andere Zahlenkombination kann sie sich nicht merken.« Er rief die Fotogalerie auf und präsentierte einen edlen Herrn in Tuch und Seide. »Das ist Hermann Löher höchstpersönlich. Ein netter Kerl. Ihn habe ich im Kapuzinerkloster getroffen. Er hat Francine vom Scheiterhaufen geholt. Die wollten sie als Hexe verbrennen!«

»Aha«, machte die Polizistin.

»Sehen Sie ihn genau an. Achten Sie auf die mittelalterliche Kleidung. Die Aufnahme ist echt.«

»Sie meinen … der Mann auf dem Foto ist der Hermann Löher?«

»Wie? Sie kennen ihn auch?«

»Ein Kind dieser Stadt. Er hat ein Buch gegen die Hexenverfolgung geschrieben. Eines der Originalwerke wird in unserer Stiftsbibliothek verwahrt.«

»Er hat mir erzählt, dass er es tun wollte. Toll, dass er es getan hat.« Eugen freute sich.

»Herr Schulze, dieser Herr ist seit fast vierhundert Jahren tot.«

»Auf dem Foto lebt er.«

Jasmins Mund wurde schmal wie der Grat, auf dem Eugen gerade balancierte. »Hören Sie, Herr Schulze. Für so ein Foto brauche ich mit Photoshop keine fünf Minuten. Und dann sind da auch noch Elvis und Julius Cäsar mit drauf.«

»Ich … ich habe noch einen Beweis.« Eugen zeigte ihr die Aufnahme vom leeren Grundstück mit Findling im Mondlicht. Zugegeben, viel erkennen konnte man nicht.

Das befand auch die Polizistin, wenn er ihr qualvolles Stöhnen richtig interpretierte. »Wissen Sie was? Ich merke, dass Sie selbst glauben, was Sie erzählen. Das macht es jedoch nicht zur Wahrheit. Sie brauchen ärztliche Hilfe. Wenn wir Ihre Identität nicht ermitteln können, werde ich Sie morgen früh vom Amtsarzt untersuchen lassen – mit der Bitte, Sie einzuweisen.«

»Worein einweisen? Ich habe keine Zeit, was zu lernen.«

»Ich rede von einem Krankenhaus. Es gibt in Bonn eine renommierte psychiatrische Klinik mit hervorragenden Neurologen.«

»Halten Sie mich für bekloppt?«

»Nennen wir es nervenkrank. Doch erst muss Ihre Identität zweifelsfrei feststehen.«

»Das ist nicht trivial. Mich gibt es zweimal. Denn eigentlich sehen Sie sich dem Eugen Schulze aus der Vergangenheit gegenüber – einer vierunddreißigstündigen Vergangenheit.«

Die Polizeihauptmeisterin fasste sich an die Stirn. »Ich habe Kopfschmerzen.«

Das Smartphone auf dem Tisch klingelte.

»Darf ich dran gehen?«

Sie nickte.

»Hier Eugen«, meldete er sich.

»Das ist vorzüglich, dass ich dich erreiche.«

Erleichterung durchströmte ihn – es tat gut, Siggis Stimme zu hören.

»Ich habe Francines Smartphone geortet. Was machst du in der Polizeistation? Ist Francine bei dir?«

»Die haben mich verhaftet und halten mich für verrückt. Die wollen mich … einweisen. Francine hat sich bei der Flucht aus dem Mittelalter in einem Gewitter in Luft aufgelöst.«

»Ist das ein Verwandter? Jemand, der uns und Ihnen helfen kann?«, knurrte Frau Wegreiter.

»Nein, es ist Siggi. Eine Handy-App aus dem Jahr 2028.«

Die Dame warf beide Hände in die Luft. »Mir wird das zu bunt! Geben Sie mir das Handy.«

»Sprich mal mit der Beamtin, die mich verhaftet hat. Die glaubt nicht, dass ich Zeitreisen kann«, sagte Eugen, bevor er das K14 weiterreichte.

»Polizeihauptmeisterin Wegreiter. Mit wem spreche ich?«

Aus dem Lautsprecher des Smartphones ertönte eine neue Stimme, die Eugen noch nie zuvor gehört hatte – tief und sympathisch. »Mein Name lautet Dr. Siegfried Fronberg, Uniklinik Köln, Psychiatrie und Psychotherapie. Schön, dass Sie Eugen gefunden haben. Seit seiner Kindheit betreue ich ihn; er leidet an katatoner Schizophrenie, die harmloseste Form dieser Psychose. Seien Sie versichert, er ist ungefährlich. Ich komme ihn holen.«

»Tun Sie das. Und dann erklären Sie uns, warum er seit vier Jahren ungemeldet in Bad Münstereifel lebt.«

»Kein Problem – nur so viel vorweg, es ist nur sein Zweitwohnsitz. Ich bin gleich bei Ihnen.«

»Erklären Sie es meinen Kollegen, ich habe seit fünf Stunden Feierabend.«

»Danke für Ihr Verständnis.« Der Fremde legte auf.

Jasmin gab ihm das Smartphone zurück. »Da auf einmal der Lautsprecher von dem Ding anging, konnten Sie mithören. Ihr Arzt ist auf dem Weg hierher. Wir machen nun an dieser Stelle Schluss.«

»Ja, ich bin so müde. Im Kloster bei den Kapuzinern habe ich schlecht geschlafen.«

Jasmin Wegreiter stand auf und rief zur Tür hinaus: »Armin, überprüfe mal bitte einen Dr. Siegfried Fronberg, Uniklinik Köln. Psychiatrie. Ich will wissen, ob es den gibt.«

Dieser Siggi Fronberg war die durchtriebenste KI auf diesem Planeten, doch Eugen fürchtete, dass er als netter und hilfsbereiter Seelenklempner einer polizeilichen Verifizierung keineswegs standhalten würde.

Weitere fünf Minuten verbrachte er allein im Vernehmungsraum, die Tür öffnete sich erneut und Frau Wegreiter stand auf der Schwelle. »Alles in Ordnung. Wenn Herr Dr. Fronberg uns noch ein paar Fragen beantwortet, kann er Sie mitnehmen. Kommen Sie, Sie können vorn warten. Das ist einfacher.«

Tatsächlich? Die Dame hatte ihm kein Wort geglaubt und nun sah es so aus, als lande er nicht im Gefängnis? Er lief hinter ihr her und setzte eine Miene auf, wie jemand der an akuter katatoner Schizophrenie litt. Obgleich er keine Ahnung hatte, was das genau war.

 

Eine Stunde später verließ er die Polizeiwache in Begleitung eines Fremden, der sich als Dr. Siegfried Fronberg ausgegeben hatte. Er war schlank, durchschnittlich groß, mit schwarzen Haaren. Inzwischen war es zwei Uhr morgens. Der Mann hielt auf ein schnittiges Auto zu – ein Tesla Model 3. Die Türen entriegelten sich, als er nah genug war. Eugen nahm auf dem Beifahrersitz Platz.

»Hallo Eugen. Schön, dich kennenzulernen. Ich heiße Patrick Richter. Wir haben einen gemeinsamen guten Freund.« Die grünen Augen des Fremden hinter dem Lenkrad musterten ihn freundlich.

Eine vertraute Stimme meldete sich: »Ich habe dir von unseren Abenteuern erzählt. Patrick ist der Beta-Tester 7, der mich aus dem Jahr 2028 mitgebracht hat.«

»Wie habt ihr es geschafft, mich da rauszuholen?«, fragte Eugen.

»Improvisation« , erklärte Siggi. »Natürlich musste ich die Uni-Klinik Köln hacken und dort einen Doktor Fronberg in die Personaldatenbank einfügen – eine der Koryphäen in Deutschland für katatonische Schizophrenie.«

»Du siehst, du bist in besten Händen«, meinte Patrick. »Ich musste ein paar Formulare ausfüllen, durfte dich dann aber mitnehmen, zumal die Polizei zurzeit sehr beschäftigt ist.«

»Unglaublich. Ich dachte schon, die würden mich einweisen.«

»Damit das nicht geschieht, hat Siggi ganze Arbeit geleistet: Francines Handy geortet und meine Identität gefälscht. Der Rest war Charme und Überzeugung.«

»Unglaublich.«

»Und dann hat er noch dieses Auto besorgt. So konnten wir schneller hier sein.«

»Ein Kinderspiel, denn bei diesem Wagen wird alles elektronisch geregelt. Patrick benötigte keinen Schlüssel oder kurzgeschlossene Drähte. Ich musste nur die Tesla-App herunterladen und ein wenig überreden, uns zu helfen.«

»Dann ist das Auto also geklaut?«

»Geliehen.« Mit ernster Miene sah Patrick ihn an. »Eugen, wir müssen unbedingt Francine finden. Nur sie kann mir in meine korrekte Zeitlinie zurückhelfen. Wie kommst du an ihr Smartphone? Wo ist sie?«

»Eine lange Geschichte – die bis ins Mittelalter reicht.«

»Dann schieß mal los«, erklärte Patrick und sah ihn erwartungsvoll an. »Bevor uns die Zeit wegrennt!«