Eugen beendete seine Erzählung über die Abenteuer im Mittelalter mit der Landung im Bett des Kleppers. Das Detail mit der Schweinescheiße hatte er ausgelassen, zur Rettung von Francine und der Welt erschien es ihm weder wesentlich noch sachdienlich.
Patrick rümpfte die Nase. »Du stinkst ziemlich. Vermutlich nach Mittelalter.«
»Ja, tut mir leid. Ich habe mich in der Polizeistation so gut wie es ging gewaschen, doch der Geruch steckt in den Klamotten.«
» Ich rekapituliere den aktuellen Status: Francine ist auf einem anderen Weg dem Mittelalter entkommen als du. Sie wurde während des Gewitters von einem Blitz getroffen und verschwand. Hatte sie in diesem Moment die Zeit gehabt, einen Riss aufzumachen? «
»Schwer zu sagen. Es ging alles so schnell, und stockdunkel war es auch noch. Wie eine zielgerichtete Aktion sah es nicht aus.« Er überlegte. »So ist es noch nie gelaufen. Ich hatte den Eindruck, das Unwetter habe sie regelrecht gejagt.« Nach einem kurzen Zögern ergänzte er: »Und schließlich erwischt und ...«
»Und?«
»... und förmlich aus der Zeit getilgt!«
Patrick schüttelte den Kopf. »Das klingt schräg.«
Eugen nickte. Sich mit der Zeit anzulegen, ging für sie bisher meistens nicht gut aus.
»Seit einiger Zeit verfolge ich die unerklärlichen Wetterphänomene. Es klingt nicht nach einem Zufall, dass zeitgleich sowohl in 1635 als auch in 2022 derart heftige Gewitter aufziehen. Es könnte sich um ein und dasselbe handeln.«
»Wie bitte?« Patrick zog die Augenbrauen hoch.
»Es macht den Eindruck, als würde die Schlechtwetterfront Francine gezielt folgen. Das Ganze begann, als wir beide in den Urlaub nach Texel aufbrechen wollten. Sie scheint das Unwetter regelrecht anzuziehen. Es muss etwas mit ihrer Zeitinstabilität zu tun haben. Es kommt auch nicht von ungefähr, dass dieser Max Kellermann ausgesandt wurde, Francine zu töten.«
Patrick Richter stöhnte. »Wo bin ich nur hineingeraten. Ich dachte, die wilden Zeitsprungeskapaden gehörten längst der Vergangenheit an und nun fliegt mir meine gemeinsame Zukunft mit Sophie um die Ohren.« Sogleich fasste er sich wieder: »Sorry, sieh es mir nach, ich mache mir halt Sorgen um Sophie.«
»Francine ist nicht dumm. Wenn sie in irgendeiner Weise Einfluss auf den Zeitsprung hat nehmen können, dann ist sie nach 2022 zurückgekehrt. Ich bilde mir ein, für einen kurzen Moment den Bad Münstereifeler Marktplatz gesehen zu haben – den heutigen Marktplatz. Für einen kurzen Augenblick konnte ich die Schaufensterscheiben und die elektrische Beleuchtung erkennen.« Eugen schluckte. »Sie wollte drei Tage heiß duschen. Doch im Haus von der Klepp ist sie nicht aufgetaucht. Jedenfalls nicht zur richtigen Zeit.«
»Stattdessen hat dort unser Freund Max auf ihre Rückkehr durch den Zeitschlitz gewartet.« Patrick knurrte: »Und mich in diese Zeitlinie gezerrt. Das nehme ich persönlich.«
»Wenn Francine tatsächlich in unserer Zeit gelandet ist, auf welchem Weg würde sie sich bei dir melden?«
»Da ich ihr Smartphone habe, müsste sie ein anderes Telefon finden. Oder einen Computer.« Ein unangenehmer Gedanke kreiste in Eugens Kopf. »Doch wenn Siggis Theorie mit dem Unwetter stimmt, müsste sie mit diesem im Gepäck bereits weitergezogen sein.«
Eugen blickte in den Nachthimmel. Sie hatten das Klepper-Haus verlassen und gingen auf Patricks Auto zu. »Ich kann die Sterne sehen, es ist fast wolkenlos. Nicht ein Tropfen zu spüren.«
»Es ist schon spät. Stellen wir die Lehnen nach hinten und probieren, ein Stündchen zu schlafen«, schlug Patrick vor, während er die Wagentür öffnete. »Im Moment können wir nichts tun.«
Gesagt, getan, der Liegesitz des Tesla war im Vergleich zu einem Strohbett in einem Mittelalterkloster recht gemütlich. Eugen zollte der Erschöpfung der letzten Tage Tribut. Er fiel in einen tiefen, traumlosen Schlummer. Das Ganze dauerte etwa fünf Minuten.
Eine Stimme schlich sich in sein Bewusstsein.
»Es tut mir leid, wenn ich euch wecke, doch ich bin einigen Hinweisen nachgegangen.«
Patrick gähnte. »Was ist los, Siggi?«
»Gestern hat ein Passant die Polizei auf einen merkwürdigen roten Fleck mitten in der Luft aufmerksam gemacht. Daraus scheint eine meterlange Linie zu entspringen. Zunächst wurde dieser für einen dummen Jugendstreich mit einem Laserstrahl gehalten, doch inzwischen stehen die Behörden vor einem Rätsel. Es gibt keine Lichtquelle, niemand kann sich dieses Phänomen erklären.«
»Das klingt nach den Resten eines Zeitrisses.« Eugen rappelte sich hoch. »Dieser Spur müssen wir nachgehen.«
»Ihr beide seid die Zeitriss-Spezialisten. Sehen wir es uns also an«, sagte Patrick.
»Was ist mit dem geklauten Auto? Wenn wir deswegen verhaftet werden, können wir Francine nicht mehr helfen.«
»Ich beobachte die eingehenden Meldungen im Server der Polizei. Bisher ist der Tesla nicht als gestohlen gemeldet. Vermutlich weil der Besitzer in einer Finka auf Mallorca Urlaub macht.«
»Das beruhigt mich.«
Patrick fuhr los, Eugen legte den Gurt an. In der Kiste gab es nicht einen Knopf oder Hebel, sondern nur einen großen Bildschirm in der Mitte.
»Dieses Auto ist für eine fortschrittliche KI bestens geeignet. Acht Kameras stehen rundherum zur Verfügung – selten habe ich eine solch gute Übersicht mein Eigen nennen dürfen.«
»Bilde ich mir das ein, oder schaffst du es, begeistert zu klingen, Siggi?«, fragte Patrick.
»Ich bin begeistert« , erklärte die KI. »Mein Learning Mode hilft mir, dieser Emotion Ausdruck zu verleihen. Durch die Erfahrungen mit euch habe ich verstanden, einige Dinge anders wahrzunehmen.«
Langsam näherten sie sich dem Stadtzentrum. Patrick suchte einen Parkplatz außerhalb der Stadtmauer, sie verließen den Wagen und gingen zu Fuß weiter. Nach nur wenigen Schritten erreichten sie eine Absperrung, die von zwei Polizeibeamten bewacht wurde.
Glücklicherweise zwei unbekannte Gesichter, Eugen verspürte wenig Lust, Jasmin und Armin über den Weg zu laufen. Wobei beide nach ihrer langen Schicht im Bett liegen dürften.
An einem Hauseingang starrte ein Pärchen neugierig auf einen ovalen Fleck, der hüfthoch in der Luft schwebte.
»Definitiv ein Überbleibsel eines Zeitrisses«, flüsterte Eugen. »Dort hindurch muss Francine verschwunden sein.«
»Wie können wir ihr folgen?«, fragte Patrick und machte Anstalten, sich dem roten Licht zu nähern.
»He, Sie da. Was meinen Sie, warum wir diesen Teil abgesperrt haben. Bleiben Sie hinter der Banderole«, meckerte prompt einer der beiden Polizisten.
»Es geschieht zu Ihrer eigenen Sicherheit«, erklärte der andere in etwas freundlicherem Ton. Nur Spezialisten mit Kontaminationsschutzanzügen und Atemschutzgerät dürfen sich nähern.«
»Verstehe. Ich dachte, es sei nicht gefährlich.«
»Sie können sich getrost schlafen legen. Wir haben hier alles im Griff.« Der Beamte setzte passend zu seinen Worten eine »Alles-im-Griff-Miene auf.
»Ja, danke.« Patrick signalisierte es Eugen mit den Augen: Rückzug.
Sie gingen zum Parkplatz und setzten sich ins Auto.
»Die Anomalie stammt also von Francine«, sagte Patrick.
»Korrekt!« , antwortete Siggi. »Eine andere Erklärung gibt es nicht.«
»Und nun? Ihr erwähntet doch immer Schlitze oder Risse. Das Ding hier besteht aus einem Lichtpunkt und einer roten Linie ... wie bei diesen Geräten auf Dreibeinen, mit denen die immer die Gegend vermessen. Was fangen wir damit an?«
»Üblicherweise öffnet Francine ein Portal nicht unter extremem Zeitdruck, sondern sie geht behutsam vor. Wobei sie einen Haufen elektrischer Energie benötigt, was ihre Finger rot glühen lässt«, erklärte Eugen.
»Thema Energie – als wir uns dem Phänomen näherten, bemerkte ich beim K14 einen auffälligen Stromabfluss. Mein Akku hat in der kurzen Zeit vierzehn Prozent Ladekapazität eingebüßt. Jetzt sind nur noch dreiundfünfzig Prozent übrig.«
»Bei siebenundzwanzig Prozent.« Eugen betrachtete Francines Handy. »Auch hier gab es einen auffälligen Stromverlust.«
»Dieser Riss hat sich entweder wieder zum Teil geschlossen, oder hat nie die übliche Größe erreicht. Im jetzigen Zustand können wir ihn nicht benutzen.«
»Gibt es eine Möglichkeit, den Spalt zu vergrößern?«
»Ich studiere die Daten der Expertenuntersuchung vom gestrigen Abend. Eine abnormale magnetische Feldstärke von 40.000 Gauß ist festgestellt worden – etwa das hundertzwanzigfache über dem Normalwert.«
»Das klingt nach ziemlich viel.«
»Das täuscht, 40.000 Gauß sind gerade mal 4 Tesla.«
»Wie, Tesla? So wie das Ding, in dem wir sitzen?«
»Ich rede von der Maßeinheit für die magnetische Feldstärke, benannt nach dem Ingenieur und Erfinder Nikola Tesla.«
Ein Gedanke begann in Eugens Kopf zu rumoren. »Wenn ein Zeitportal sich öffnet, entsteht immer ein Magnetfeld. Ich habe schon erlebt, wie in diesem Moment ganze Autos und Nagelscheren angezogen wurden. Der darauffolgende Schritt ist die Energiezufuhr. Der rote Fleck auf dem Marktplatz scheint nach Strom zu gieren.«
»Eine plausible Überlegung.«
»Worauf willst du hinaus, Eugen?«, fragte Patrick mit neugierig funkelnden Augen.
»Wir geben dem Fleck das, was er benötigt.«
»Und was wäre das?«
»10.000 Gauß.«
Patrick sah ihn fragend an.
»Umgerechnet genau einen Tesla. Und zwar genau den, in dem wir sitzen.«
»Das ist ein brillanter Gedanke, Eugen. Ein Handy-Akku besitzt eine Ladung von 0,02 Kilowattstunden. Die 80 Kilowattstundenbatterie dieses Elektrofahrzeugs ist also demnach vier Millionen Mal größer. Um es exakt zu berechnen, muss ich natürlich den Ladezustand, der sich bei 81,7 Prozent befindet, einkalkulieren.«
»Nicht nötig, Siggi. Diese enorme Stromzufuhr müsste ausreichen, um den Spalt zu vergrößern.«
Mit beiden Händen klopfte Patrick auf das Lenkrad. »Wenn ich die beiden Spezialisten in diesem Auto richtig verstanden habe, diskutiert ihr gerade darüber, wie wir den komischen roten Fleck mit genügend Energie versorgen, um den Zeitriss zu aktivieren.«
»Korrekt.«
»Und wenn das gelingt, können wir Francine folgen – wo auch immer sie sich befindet?«
»Korrekt. Wir müssen die beiden Polizisten ablenken und dafür Sorge tragen …«
»Zu lang, zu umständlich, zu erklärungsbedürftig.« Mit einem Hebel am Lenkrad legte Patrick den Rückwärtsgang ein und fuhr aus der Parklücke. »Wenn das so weiter geht, fängt mein Sohn bald an zu sprechen. Ich will, dass er auch lernt Papa zu sagen. Jede andere Zeit ist so gut oder schlecht wie diese hier – ich habe nichts zu verlieren. Vor dem, was jetzt kommt, würde mich vermutlich selbst mein Kumpel Harry warnen. Und der ist sich für keinen Scheiß zu schade. Versorgen wir den Fleck mit Energie. Bis du dabei, Eugen?«
»Na klar, die Situation hat was von Marty und Doc im DeLorean.«
»Und du, Siggi?«
»Wie stets, bin ich euer folgsamer Assistent. Zumal mir die Beine fehlen, um auszusteigen und schnurstracks in die entgegengesetzte Richtung zu laufen.«
Patrick schielte auf das K14 auf der Mittelkonsole. »Hast du gerade einen Humor gemacht?«
»Einen kleinen, bescheidenen.«
Beeindruckt zog Patrick die Augenbrauen hoch und gab Strom.
Es blieb keine Zeit mehr für eine weitere Unterhaltung. Der Tesla passierte das Stadttor und fuhr auf die Absperrung zu. Die beiden Polizisten stellten sich ihnen entgegen – hektisch wedelten sie mit den Armen.
»Durchfahrt verboten! VERBOTEN!«, rief einer.
Mit gleichbleibendem Tempo fuhr Patrick auf die Beamten zu. Im letzten Moment sprangen sie laut fluchend zur Seite. Der eine zog die Pistole.
»Die werden doch nicht etwa auf uns schießen?« Eugen stöhnte.
»Ich denke nicht, da wir weder ihr Leben noch das Leben anderer gefährden. Genau wissen kann man es jedoch nie. Wenn es ernst wird, steigen wir besser mit erhobenen Armen aus.«
Der Tesla kam unter dem roten Schimmer zum Stehen. Wie gebannt starrte Eugen in das sanfte Leuchten. Ein Flackern, wie von einer Kerzenflamme. Tatsächlich. Die Anomalität wurde heller und vergrößerte sich. »Es funktioniert. Was tun wir jetzt?«
Patrick drehte ihm den Kopf zu. »Du bist der Experte. Wenn du glaubst, dass die Energie ausreicht, steigen wir aus dem Auto und springen durch den Spalt.«
Nur noch wenige Sekunden, dann hätten die beiden Polizisten den Tesla erreicht. Im Wagen wurde es unerträglich heiß, Qualm stieg im Fußraum hoch. Der Riss verlängerte sich zusehends, es verblieb keine Zeit, noch länger zu warten, zumal es im Tesla kaum noch auszuhalten war. Blaue Flammen schlugen an den Reifen in die Höhe.
»Jetzt! Ich zuerst!«, rief Eugen, schnappte sich das K14, stopfte es in die Hosentasche und stürzte hinaus in Richtung Spalt. Er hob beide Arme in die Luft und rief: »Ich ergebe mich. Bitte nicht schießen! Ich ergebe mich!«
Auf der anderen Seite des Autos tat es ihm Patrick gleich. Inzwischen brannten die hinteren Räder. Der Riss verschlang die Ladung aus der Batterie schneller als die Technik sie hergab.
Die Polizisten erreichten das Auto. »Sie sind verhaftet!«, brüllte einer.
»Kommen Sie vom Auto weg!«, rief der andere.
Immerhin zielten sie nicht mit ihren Waffen auf sie, die Flammen lenkten sie offensichtlich ab.
Der Innenraum des Teslas fing Feuer. Jetzt wurde die Geschichte sehr heiß. Mit aller Entschlossenheit sprang Eugen in das rötliche Licht. Direkt dahinter kam die Mauer, daher riss er beide Arme nach vorn, um sich zu schützen. Eine überflüssige Bewegung, da er durch das feste Gestein hindurchzufliegen schien und mit beiden Beinen auf dem Boden landete. Hinter ihm rief eine Stimme: »Zur Seite!« Patrick war ihm auf dem Fuße gefolgt und stolperte ihn beinahe um.
Sie drehten sich zu den Beamten und dem lichterloh brennenden Tesla um, doch vor ihnen lag nur eine dunkle Fläche. Es hatte tatsächlich funktioniert. Sie hatten den Spalt aktiviert und befanden sich nun auf Francines Spuren. Blinzelnd sahen sie sich um. Sie befanden sich nicht mehr in der Innenstadt, sondern außerhalb der Stadtmauer von Bad Münstereifel – somit hatte es wieder einen örtlichen Versatz gegeben. Die Umgebung wirkte aufgeräumt und neu, in der Ferne rauschte eine vierspurige Schnellstraße. Wenig überraschend regnete es.
Siggi meldete sich zu Wort: »Wir befinden uns im Osten von Bad Münstereifel. 22. August 2031. 21:24 Uhr.«
»Au Backe, wie habe ich das vermisst«, stöhnte Patrick. »Immerhin nicht der Düsseldorfer Flughafen.«
»Nein, ein kleines Städtchen, das nach der schlimmen Flutkatastrophe vor zehn Jahren mit Fördermitteln von Land und Bund modernisiert wurde.«
»Ob uns die Polizisten folgen?« Unwillkürlich blickte Eugen sich in alle Richtungen um. Das schlechte Wetter ging ihm bereits nach einer halben Minute auf den Keks.
»Glaub ich nicht. Die trauen sich nicht an der brennenden Elektrokiste vorbei und springen in ein undefinierbares Portal. So bekloppt ist niemand.«
Eugen schluckte. »Wir schon.«
»Wie auch immer – wir sind nun hier, wo mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Francine gelandet ist. Jetzt heißt es, sie zu finden.«
»Bedauerlicherweise kann ich mich jetzt nicht mehr in sämtliche Server der Behörden hacken. In 2031 sind sowohl die Firewalls als auch andere Schutzmaßnahmen deutlich verbessert. Ich verfüge über keinen technologischen Vorsprung mehr.« Siggi machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr. »Obgleich ich einige Routinen aus unserem Besuch im Jahr 2051 abgespeichert habe, doch zurzeit finde ich keine sinnvolle Anwendung dafür. Erinnerst du dich an unsere Erlebnisse, Patrick?«
»Wie könnte ich diesen Ausflug jemals vergessen, zumal du in jener Zukunft deine innige Freundin, die Werbe-KI Lea, kennengelernt hast, alter Siegfried.«
»Das war jetzt kein guter Humor. Lalla war nicht meine Freundin. Ich habe vergebens versucht, alle Erinnerungen an sie aus meinem Speicher zu löschen.«
»Ich werde sie nie wieder erwähnen, Siggi. Vergessen wir die Zukunft. Wir müssen Francine finden, nur sie kann mich zu der Sophie, die ich liebe, zurückbringen.«
Eugen überlegte und ließ sich vom Regen durchnässen. »Wo Francine auftaucht, herrscht Aufruhr und Chaos. Durchforste das Internet nach merkwürdigen Ereignissen.«
»Schon geschehen. Gaby007 schreibt auf Instagram, dass eine glatzköpfige Frau in einem nassen Kartoffelsack wild fluchend an ihr vorbeigelaufen sei.«
»Eindeutiger kann man sie nicht beschreiben«, konstatierte Eugen. »Gibt es weitere Hinweise?«
»Bisher nicht. An die Informationen auf dem Polizeiserver komme ich nicht ran. An dieser Stelle wäre ein Fluch angebracht, oder?«
»Definitiv!«, erklärte Eugen. »Nur mir fällt kein passender ein. Wo beginnen wir mit der Suche? Ich könnte mir vorstellen, dass sie aus alter Gewohnheit zum Hermann-Löher-Weg 6 gegangen ist.« Er streckte den Arm aus. »Ich denke, dort entlang ist der kürzeste Weg.«
Nach einem kurzen Fußmarsch kam das Haus in Sicht. Das Wetter wurde nicht besser. Von allen Seiten wurde es von LED-Flutern bestrahlt wie ein Hochsicherheitsgefängnis. Sie durchschritten den Vorgarten und betrachteten das beleuchtete Schild an der Haustür. Es ließ keinen Zweifel, wer hier das Sagen hatte. KLEPP! Einen anderen Namen gab es nicht, die Wohnung im ersten Stock schien leer zu stehen. Was nun? Die Frage beantwortete sich von selbst, denn die Wohnungstür flog auf.
Eine äußerst resolute Dame jenseits der siebzig rüffelte los: »Ich habe gedacht, meine Video-Überwachung spinnt. Kommissar Grünzwerg und Herr Schulze persönlich.« Ihre Nasenflügel bebten und zuckten gefährlich. In ihrer rechten Hand hielt sie einen massiven Stockschirm zum Schlagen bereit.
»Sie haben uns direkt erkannt?«, fragte Eugen etwas lahm.
»Natürlich. Meinen ehemaligen Mieter würde ich allein am Geruch erkennen. Er stinkt immer noch so elendig wie vor zehn Jahren. Es hat Monate gedauert, bis der Gestank in meinem Schlafzimmer verflogen war.« Sie guckte etwas grimmiger als ein hungriger Dobermann.
»Entschuldigen Sie die Störung, Frau Klepp. Wir suchen Francine Usher.« Patrick versuchte es mit einem freundlichen Lächeln.
»Da kommt ihr zu mir? Sehe ich aus wie die Auskunft? Oder wie jemand, der nichts Besseres zu tun hat, als anderen zu helfen? Verschwindet, oder ich hole meinen Bogen.«
Eugen platzte der Kragen: »Hören Sie mal gut zu, Frau Klepp. Ich wollte es Ihnen niemals erzählen, aber Sie sollten sich bewusst sein, dass ich Sie 2022 vor einem schweren Unfall bewahrt habe.«
»Wovon spricht der Stinker?«, fragte die Klepp und wandte sich Patrick zu, so als existiere Eugen überhaupt nicht.
»Sie wären beim Wechseln der Glühbirne im Flur schwer von der Leiter gestürzt und hätten sich Bein und Becken gebrochen. Genau diesen Unfall habe ich verhindert. Daher habe ich eine solche Behandlung nicht verdient.« Eugens Empörung war nicht gespielt.
»Hätte, wärste, wennste! Was sind das denn für Taschenspielertricks? So ein Blödsinn! Das kann ja jeder behaupten.«
»Ihr Bruder Hartmut schellte bei Eugen und bat darum, dass er sich um das Haus kümmert, solange sie im Krankenhaus liegen, Martha.«
»Ich … ich heiße Katrin.«
»Ihr Bruder nannte sie Martha.«
Einen kleinen Augenblick bröckelte ihre Zementfassade. »Nur … meine Mutter und Hartmut nannten mich Martha. Es ist mein Zweitname.« Sie schnaubte. »Ich weiß nicht, was ihr wollt und was dies alles bedeutet. Doch sei's drum. Ich gebe euch einen Hinweis, wenn ihr versprecht, mich nie wieder zu belästigen.«
Patrick und Eugen nickten synchron. Und schwiegen. Sie wollten Frau Klepp genügend Raum für ihren Hinweis geben.
»Die feine Dame, die ihr sucht, weilt in unserer neuen Klinik. Um ein Haar hätte ich sie nicht erkannt, denn sie trug keines mehr auf dem Kopf. Doch das Nörgeln und Zetern war unverwechselbar ... die ... die Sicherheitskräfte mussten sie festhalten!«
»Danke, Frau Klepp. Hiermit verabschieden wir uns freundlichst von Ihnen.« Eugen machte eine Verbeugung.
»Denkt an unsere Vereinbarung.« Sie machte einen Schritt zurück und knallte ihnen die Tür vor der Nase zu.
Eugen spürte Patricks Blick auf sich. »Ich weiß zwar nicht, was es mit diesem Unfall auf sich hatte, jedoch hast du zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Worte gefunden. Genial.«
Für einen Handschuhschneeballwerfer nicht schlecht, dachte Eugen und freute sich über das Lob.
Patrick und Eugen betrachteten das fünfstöckige Bauwerk mit den beiden Flügeln, die in einem Winkel von mindestens hundert Grad aufeinanderstießen. Der Regen nahm an Intensität zu.
»Um dort hineinzukommen, benötigen wir einen Plan. Es ist schon viel zu spät, die Besuchszeit ist lange vorbei und ausweisen können wir uns auch nicht. Und du siehst, gelinde gesagt, etwas verwildert aus. Und stinkst nach Rattenscheiße.«
»Schweine. Es waren Schweine. Ich konnte mich seit drei Tagen weder waschen noch rasieren, habe kaum geschlafen, kaum gegessen und fühle mich noch schlechter als ich rieche.«
Patrick betrachtete ihn wie eine verstopfte Toilette. »Das ist doch mal eine gute Nachricht. Mir kommt da eine verruchte Idee.«
Eine Viertelstunde später lag ein verschmutzter, übelriechender und nasser Mann vor der Notaufnahme des Krankenhauses auf der Straße. Mit angezogenen Beinen wand er sich vor Schmerzen.
»Sie müssen ihm helfen. Ich habe ihn im Straßengraben gefunden und hierhergebracht«, erklärte Patrick. »Vermutlich obdachlos.«
Ein Arzthelfer in einem grünen Kittel beugte sich über ihn.
»Können Sie mich hören?«
»Es tut so weh, mein Bauch, mein Bauch«, jammerte Eugen und hielt sich selbigen mit beiden Händen.
»Schaffen wir ihn rein«, sagte der Mann.
Ein zweiter Grünkittel kam hinzu und rief: »Drei, zwei, eins!« Mit geschicktem Griff hievten sie ihn auf eine Trage.
»Wie heißen Sie?«, fragte einer der Helfer.
»Mein Bauch, mein Bauch«, ächzte Eugen.
»Bringen wir ihn zur Inneren«, sagte der erste. »Sind Sie ein Verwandter?«
»Nein, ich habe ihn nur gefunden und hergebracht.«
»Gehen Sie mit rein und hinterlassen Sie Ihre Personalien auf dem Aufnahmebogen.«
Vor Aufregung vergaß Eugen beinahe das Stöhnen. Bis hier hin schien es zu funktionieren, sie hatten es tatsächlich zu dieser nächtlichen Stunde ins Innere des Krankenhauses geschafft.
»Vielleicht Nierenversagen durch Dehydration«, mutmaßte der zweite.
»Lass die Frau Doktor darüber entscheiden. Du weißt, wie allergisch sie auf voreilige Diagnosen reagiert. Miss lieber den Blutdruck, danach fragt sie als erstes.«
»Wetten, dass sie eine subkutane Infusion anordnet. Und eine Ultraschalluntersuchung.«
Der andere schwieg. Sie erreichten einen großen Raum mit den typischen fahrbaren Krankenhausbetten.
»Haben Sie äußere Verletzungen?«
»Mein Bauch, mein Bauch.«
»Ich denke, die hat er nicht«, erklärte Patrick.
»Geben Sie mir Ihren Arm zum Messen des Blutdrucks.«
Nach wie vor schmerzverkrümmt hielt Eugen ihm den rechten Arm hin.«
»Immerhin ist er ansprechbar und reagiert«, meinte der zweite Arzthelfer und schob ihm die Manschette über, die sich im nächsten Moment aufpumpte. »Bevor wir ihn auf das Bett legen, entkleiden wir ihn. Die Klamotten stinken entsetzlich.« Der Arzthelfer zog Gummihandschuhe an. »Für solche Fälle bräuchten wir zusätzlich Kneifzangen.«
Wenige Griffe später trug Eugen nur noch einen Operationskittel mit dem Schlitz am Rücken.
Aus dem Augenwinkel sah er, dass Patrick sich bewusst im Hintergrund hielt. Oh, nein – im nächsten Augenblick war er ganz verschwunden, vermutlich hatten sie ihn fortgeschickt.
»Herzfrequenz erhöht, bei 110.«
Kein Wunder bei der Aufregung, dachte Eugen.
Den Hilfsärzten schien dies kein Wimpernzucken Wert zu sein.
»Schieben wir ihn in den Warteraum. Wer sagt ihr Bescheid?«
»Ich war beim letzten Mal der Dumme, diesmal bist du an der Reihe«, beeilte sich einer zu sagen.«
»Ja, ja – schon gut.«
Eine Stimme in einem elektronischen Gerät rauschte. »Wir kriegen den nächsten Notfall rein, tiefe Schnittwunde am Oberarm, hoher Blutverlust. Peter, komm mit mir.«
Kurze Zeit später waren die beiden verschwunden, auch Patrick war nirgends zu sehen. Somit lag Eugen im Bett auf dem Klinikflur vor einem Behandlungszimmer mit der Zahl III.
Was nun? Sollte er aufstehen und sich allein auf die Suche nach Francine begeben?
Leise Schritte näherten sich. Ein Mann in einem weißen Arztkittel sprach ihn an: »Los. Wir suchen Francine.« Patrick schob das Krankenbett vor sich her.
»Wo hast du den her?«
»Der hing in der Umkleide. Nur geborgt.«
»Die Patientenzimmer sind in der dritten und vierten Etage , meldete sich Siggi aus Patricks Kitteltasche. »Glücklicherweise ist der Zugang zur aktuellen Bettenbelegung nur durch ein vierstelliges Passwort geschützt. Einen Moment noch.«
»Dort hinten sind die Aufzüge.«
»Treffer! Stockwerk 3, Zimmer 314. Francine Usher.«
Die Aufzugstür öffnete sich. Eugen zog die Bettdecke bis zur Nase hoch. Heraus traten eine Dame mit einem kleinen Mäppchen in der Hand sowie ein freundlich lächelnder Herr, groß mit dichtem Bart. Er trug einen blauen Blouson und beachtete sie nicht weiter.
In den riesigen Aufzug passten bestimmt vier von den Schiebebetten, doch nun waren sie allein. Patrick drückte die Taste mit der Drei, sanft ging es aufwärts. Als sich die Tür öffnete, lag ein langer, leerer Gang vor ihnen. Es roch nach Bohnerwachs und Desinfektion. Und nach Hoffnung, Francine zu finden. Es ging auf Mitternacht zu, der Regelbetrieb des Krankenhauses schlief tief – nur die Notaufnahme arbeitete.
Schneller, schneller, rief Eugen gedanklich, als Patrick ihn den Korridor entlangschob. So musste sich Theodor Storms kleiner Häwelmann gefühlt haben. Nummer 308 – nur noch ein Stück. Drei Türen weiter hielt es ihn nicht mehr unter seiner Decke. Er sprang heraus und riss die Tür auf. Im Zimmer stand nur ein Patientenbett auf der rechten Seite. Und tatsächlich – dort lag sie. Bewegungslos, mit einer Injektionsnadel im linken Handrücken, deren Schlauch zu einem halbvollen Tropf führte. Fuß- und Armgelenke waren mit breiten Lederschnallen fixiert. »Wie im Mittelalter«, fluchte Eugen. »Francine, wach auf. Wir holen dich hier raus«, flüsterte er laut in ihr Ohr.
Sie reagierte nicht – lag sie etwa in tiefer Ohnmacht?
»Mit einem erstaunlich einfachen Hack erhalte ich gerade Zugriff auf ihre Krankenakte. Der Bericht klingt nicht besorgniserregend, zumindest was ihren körperlichen Zustand angeht. Der behandelnde Arzt macht sich mehr Sorgen um ihren mentalen Zustand. Verdacht auf schwere Psychose mit Symptomen wie Verfolgungswahn, gesteigerte Aggression und Depression.
»Kein Wunder, nach dem was sie alles erleben musste.«
»Machen wir sie los und dann bloß weg«, raunte Patrick.
Gemeinsam schnallten sie Francine los. Sie reagierte nicht, sie schien tief zu schlafen.
»Laut Akte haben sie ihr eine Kochsalzlösung verabreicht« , erklärte Siggi.
Mit einer schnellen Bewegung zog Eugen die Injektionsnadel aus der Hand.
»Wir machen es so. Francine kommt auf dein Bett, du legst dich dicht neben sie. Mit der Decke darüber fällt es kaum auf.«
Eugen schob seine Arme unter ihren Körper, Patrick unter die Schultern und den Kopf – und als hätten sie nie etwas anderes gemacht, hoben sie Francine auf das Rollbett.
Ganz eng lag sie neben ihm unter der Decke, während Patrick sie zum Aufzug schob. Er spürte ihren schlanken, zerbrechlichen Körper und die darin wohnende Hilflosigkeit. Eine Krankenschwester kam ihnen entgegen, sah zunächst an Bett und Patrick vorbei, drehte sich dann jedoch um und fragte: »Sagen Sie – wo bringen Sie den Patienten zu dieser Nachtzeit hin?«
Auch das noch.
Patrick rief den Aufzug. »Ins Erdgeschoss«, sagte Patrick, in einem Ton als würde dies alles erklären.
»Ich habe Sie noch nie gesehen. Sind Sie neu auf der Station?«
»Ja, seit letzter Woche.«
Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnete sich die Tür. Hurtig schob Patrick das Bett hinein. Die Türen schlossen sich und die Krankenschwester verschwand wie hinter einem Bühnenvorhang.
»Ich fürchte, die hat Verdacht geschöpft. Sie könnte das Sicherheitspersonal verständigen.«
»Wir sollten den Haupteingang vermeiden und bis K2 hinunterfahren« , schlug Siggi vor. »Im Süden gibt es einen Zugang zur Tiefgarage des Klinikpersonals. Von dort kommen wir am schnellsten heraus.«
Als die Aufzugtür sich öffnete, fanden sie sich in einem langen, grauen Korridor wieder.
»Letzte Tür auf der rechten Seite.«
Mit langen Schritten schob Patrick das Bett vor sich her. An einer orangenen Stahltür mit der Aufschrift Parkdeck 2 hielt er an.
Eugen warf die Decke auf den Boden und schüttelte Francine sanft an den Schultern. »Wach auf!«
Ihre Wimpern flackerten, öffneten sich jedoch nicht.
»Ich trage sie.« Patrick hob sie hoch und hielt sie wie ein Riesenbaby. »Wir müssen hier weg.«
Im Parkhaus war es warm und stickig, so kam es Eugen zumindest vor. Autos standen nur wenige herum – die meisten Modelle kannte Eugen gar nicht. Sie erreichten eine Ausgangstür, hinter der eine steile Treppe nach oben führte.
Vielleicht lag es an der frischen Luft, jedenfalls stöhnte Francine vernehmlich. Behutsam stellte Patrick sie auf ihre Beine, hielt sie unter den Achseln fest. »Kannst du stehen?«
»Francine, ich bin es!«, rief Eugen. »Wach auf! Wir haben dich da rausgeholt.«
Auf einmal strömte Leben in den schlaffen Körper, sie öffnete die Augen. »Captain«, flüsterte sie. »Du … bist mein Held.« Francine fiel ihm in den Arm, er spürte heiße Tränen in ihrem Gesicht. Ihr Körper zuckte. »Sie … sie wollen mich töten. Alle wollen mich töten. Egal wo, egal wann. Sie wollen mich immer töten!«
»Das lasse ich nicht zu. Alles wird gut«, sagte Eugen und drückte sie an sich. So was sagen die Helden in den Filmen immer, doch nie hatte es einer so ernst gemeint wie er.
Eine Weile standen sie nur still da.
Leise mahnte Patrick: »Wir sollten von hier verschwinden, Francine, kannst du gehen?«
Sie nickte und machte einen tapsigen Schritt nach vorn, blieb jedoch auf den Beinen.
Eugen stützte sie und sagte: »Übrigens, das ist Patrick. Ein guter Freund von Siggi. Er hat mir geholfen, dich zu finden und zu befreien.«
Sie warf ihm einen wirren Blick zu. »Die Frau und der Mann wollten mich umbringen. Wir müssen fort von hier!«
»Kannst du einen Riss aufmachen?«, fragte Eugen.
Francine schüttelte den Kopf. »Für einen neuen Riss fehlen mir Energie und Kraft. Und selbst wenn, würde der uns niemals genau an das Datum zurückbringen, von dem wir aufgebrochen sind.«
»Dazu habe ich gute Nachrichten: Es ist schon interessant, wie sich die Dinge entwickeln. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 97,5 Prozent bin ich auf eine Möglichkeit gestoßen, wie wir punktgenau nach 2022 zurückkommen« , sagte Siggi. »Vermutlich wäre es gut, wenn wir uns einen Schirm besorgen.«
Francine, Patrick und Eugen lauschten gespannt den weiteren Ausführungen der KI.