Max ließ den Kopf hängen, ihm ging es miserabel. Eine Untertreibung, er fühlte sich absolut beschissen. Bad Münstereifel, Düsseldorf, Deutschland, Europa, er glaubte, dass die gesamte Welt auf ihn einstürzte. Alles, was er jemals wollte, alles, was er jemals liebte, bewegte sich von ihm weg. Er schwitzte, er fror, er zitterte, und hatte große Probleme, sich überhaupt auf den Beinen zu halten. Hilflos trottete er eine Straße herab. Die Sonne war bereits vor Stunden untergegangen. Vermutlich war die Dunkelheit auch nur eine Illusion. Eine beliebige Erscheinung, die vielleicht wahr werden konnte oder auch niemals existiert hatte.
»Fixieren Sie Ihre Gedanken auf die Mission !«, hämmerte die Stimme in seinem Kopf. Jede Silbe glich dem Schlag auf ein leeres Blechfass. Sein linkes Auge zuckte. Die TBS-KI trieb ihn wie ein Stück Vieh durch einen Pferch.
»Ich ...« Egal was Max sagen wollte, er wusste es nicht mehr. In seinem Kopf drehte sich alles. Vielleicht bildete er sich die Stimme auch nur ein.
»Sie müssen sich zusammenreißen!«
Das wollte er, schaffte es aber nicht. Wie war sein Name? Er überlegte. Alles verschwamm.
»Bereite Medikation vor.«
»Nein! Das will ich nicht!«
»Verabreiche Medikation.«
Das Zeug traf Max wie eine Straßenbahn, sein Atem stockte, sein Herz machte direkt drei Schläge gleichzeitig. Er blieb stehen, krampfte und biss die Zähne zusammen. Dieser binäre Sklaventreiber würde nicht eine lausige Millisekunde zögern, ihn für diese verfluchte Mission verrecken zu lassen.
»Verstehen Sie mich?«
Max schluckte, es ging ihm tatsächlich besser. Die Unordnung in seinen Gedanken löste sich auf. Dennoch hasste er die TBS-KI dafür.
»Ihr Name?«
»Max Kellermann.«
»Mission-ID?«
»27M091965.« Diese beschissene Nummer würde er sicherlich nicht vergessen.
»Missionsparameter?«
»Francine Usher töten.« Der Auftrag war ebenfalls nicht schwer zu behalten. Er ging weiter. Wo befand er sich überhaupt? Mist! Die Häuser links und rechts auf dieser Straße sagten ihm überhaupt nichts. Hatte er etwa die Orientierung verloren? »Wo bin ich?«
»Bad Münstereifel, Kölner Straße, kurz vor dem Kreisverkehr.« Die TBS-KI verlor niemals den Überblick.
Max nickte, er hatte keinen blassen Schimmer, wie er hergekommen war. »Und was mache ich hier?«
»Wir warten ...«
»Auf wen?«
»Auf die Zielperson.«
»Und die kommt hier vorbei?« Er räusperte sich. »Hier?« In Ordnung, Max war sich gerade doch nicht sicher, ob die KI nicht doch einen Schaden genommen hatte. Francine Usher war in den letzten vier Jahren alles andere als leicht zu finden gewesen. Verdammt, er hatte sie sogar völlig aus den Augen verloren. Und jetzt hieß es einfach nur warten?
»Sie dehydrieren. Sie sollten trinken.«
»Das war nicht meine Frage ...« Max verspürte wenig Lust, weitere vier Jahre auf eine Chance zu warten, dem kleinen Miststück die Lampen auszublasen.
»Tracker aktiv. Integrität des Netzwerks: 97 Prozent. Perspektive Francine Usher zu finden positiv. Weitere Zeit notwendig. Temporäre Direktive: Warten.«
»Was für ein Tracker?« Max brauchte vielleicht etwas Wasser, vor allem aber sollte er schlafen. Am besten drei Tage am Stück. Er fühlte sich hundemüde.
»Zeitreisender Patrick Richter trägt Tracker. Smart Device infiziert. Tracker wird uns kontaktieren, sobald Zielperson wieder in unsere Zeit eintritt.«
»Das klappt doch nie ...« Jetzt erinnerte er sich an diesen Idioten, den er in dem Haus der alten Schreckschraube auf direkte Order der TBS-KI hatte verschonen sollen. Dabei hatte Max bereits der Finger am Abzug gejuckt. Wer tot war, machte keinen Ärger mehr.
»Netzwerk der Polizei infiltriert. Netzwerk der Krankenhäuser infiltriert. Netzwerke sämtlicher aktiver Mobilfunkbetreiber infiltriert. Werde über Veränderungen informiert.«
Max verschränkte die Arme vor der Brust und ging weiter. Vor ihm lag der Kreisverkehr, von dem die TBS-KI gesprochen hatte. Mitten in der Nacht war hier nicht viel los. Ein einsamer weißer Lieferwagen fuhr an ihm vorbei.
Max hatte sich von einer noch geöffneten Tankstelle eine Flasche Wasser und ein halbvertrocknetes Sandwich besorgt. Das Ding hatte vermutlich selbst eine Zeitreise hinter sich und schmeckte, als ob es jemand vor Tagen in der Auslage vergessen hatte.
»Und?«
»Keinen Kontakt.«
»Wie lange warten wir noch?«
»Solange es nötig ist.«
»Ich hätte den Spinner abknallen sollen!« Max musste immer noch an Patrick Richter denken, dem er bereits vor Tagen in Düsseldorf eine Belüftung in der Stirn verpasst hatte. Jeder, der sich in der Zeit asynchron bewegen konnte, musste sterben. So lautete der Auftrag. Max sah da keine Ausnahmen.
»Nein.«
»Jetzt muss ich zwei dieser Zeitflüchtigen verfolgen!« Francine Usher reichte ihm völlig.
»Patrick Richter wird uns zu ihr führen.«
»Schön wär's ...« Max biss wieder in die undefinierten Weißbrotlappen mit Remoulade und Salami. Er hoffte zumindest, dass das salzig Braune in der Mitte eine Scheibe Salami war.
»Kontakt.«
»Was?«
»Die KI ist zurück.«
»KI?«
»Smart Device von Patrick Richter trägt eine fortschrittliche Signatur: KI der Yosemite-Klasse, ID: H21-5G-82B, frühe Entwicklerversion, offener Learning Mode – diese Version ist illegal.«
»Hat sie ein Wurstbrot geklaut?« Max hielt das angebissene Sandwich hoch. Gleichzeitig begann es zu regnen. Klasse, das mit den Gewittern heute ging ihm auch auf den Sack.
»Die App ist nicht kontrollierbar, verweigert Updates und ist in der Lage, unerwünschte Routinen zu entwickeln. Das für 2029 geplante Release wurde aus diesen Gründen niemals veröffentlicht. Insgesamt wurden acht Instanzen der Beta-Version auf Smart Devices geladen. Sieben Instanzen wurden bereits identifiziert und gelöscht. Eine Instanz konnte nie gefunden werden: Nummer 7.«
»Kennst dich gut aus ... warum erzählst du mir den Quatsch?« Max hielt das ganze Gerede für Blödsinn. Bei seiner Jagd durch die Zeit war es nie um ein dusseliges Telefon gegangen.
»Keine Zeit für lange Erklärungen. Neue Koordinaten. Sie müssen sich beeilen. Die Zielpersonen bewegen sich. Folgen Sie der Kölner Straße nach Norden.«
Das stimmte, Max musste sich beeilen. Er ging zügig weiter. Seine Beine funktionierten im Reserve-Modus: Es gab keinen Knochen in seinem Körper, der nicht schmerzte. Oder waren es die Muskeln? Weiter, rief er sich in Gedanken zu. Er würde sich später ausruhen können.
»Zielpersonen?« Erst jetzt registrierte Max die kleine, aber wichtige Veränderung. Patrick Richter, ihm war nur einer von diesen Spinnern über den Weg gelaufen, nicht mehrere. In der Zukunft war immer nur ein Name publik geworden: Francine Usher. Dabei hatte auch ihn die spannende Frage interessiert, warum nur sie? Wie wurde sie überhaupt zu der Person, die er töten sollte? Das konnte nie befriedigend beantwortet werden.
Max hielt die Theorie, dass jedes Molekül, jedes Atom oder auch jedes Quant so etwas wie eine eigene Zeit besaß, für eine fixe Idee. Etwas, was man nicht sehen, nicht messen und nicht einmal mathematisch begründen konnte. Na ja, so einen Hirnschiss konnten sich auch nur gelangweilte Wissenschaftler einfallen lassen, um bei der nächsten Budgetrunde halbwissende Politiker davon zu überzeugen, ihnen das teure Spielzeug weiter zu finanzieren.
»Drei Personen allokiert. Abstand 909 Meter. Sie befinden sich bereits auf dem Hermann-Löher-Weg. Die Yosemite-KI realisiert nicht, getrackt zu werden. Starte erweiterte Aufklärung. Rendere Audio. Sie sollten sich beeilen.«
»Da war ich schon ...«
»Dasselbe Haus in der Nähe des Findlings.«
Max marschierte weiter. Durch den Regen, der laufend stärker wurde. Zugegeben, die TBS-KI hielt ihn in der Spur, ohne das System in seinem Nacken ging es nicht. Kellermann rief eine Stimme in seiner Erinnerung. Nicht die TBS-KI, sondern der Instruktor, der ihn und andere Agenten auf die Mission vorbereitet hatte. Was sind Quanten, fragte er. Eine Frage, die Max damals nicht auf Anhieb hatte beantworten können.
Objekte, die durch Zustandswechsel in Systemen mit diskreten Werten einer physikalischen Größe erzeugt werden, antwortete Josefin, die Streberin. Dabei hatte sie ihn angegrinst, eine unauffällige Erscheinung, mittelgroß, mittelhübsch, aber alles andere als mittelschlau. Sie hatte es voll drauf. Agenten wurden handverlesen, sowie militärisch, historisch, technisch und psychologisch geschult. Sie war auch die Klassenbeste im Nahkampf gewesen. Es wäre vermutlich einfacher gewesen, eine zwei Meter große Bärendame, die ihre Jungen verteidigte, flachzulegen, als Josefin von der Trainingsmatte zu boxen.
Den Kern dieser temporalen Querelen, also dieser Zeitscheiße, sahen Experten in der Quantenelektrodynamik, da die kleinen Scheißer angeblich nur in ganz bestimmten Portionen dieser physikalischen Größe auftraten. Taten sie es nicht, also liefen sie nicht mehr zeitlich synchron, baute sich Spannung auf. Eine sehr große Spannung sogar. Der Rest war dann einfach: Je mehr Spannung, desto größer die Entladung. Oder anders formuliert: Umso länger Francine Usher, unwissend der Konsequenzen ihrer Taten, Quanten auf links drehte, desto größer der Ärger, den andere dafür Jahre später auszubaden hatten.
»Audio gerendert«, meldete die TBS-KI.
Max interessierte das nicht, er wollte nur zu dieser Bruchbude, alle Zeitspinner wegblasen und wieder verschwinden.
»Das Leuchtwunder von Bad Münstereifel«, erklärte dieser Patrick Richter. Max erkannte seine Stimme sofort, auch wenn diese Aussage keinen Sinn ergab. In diesem Kaff leuchtete nachts, wenn überhaupt, höchstens eine Ampel.
»Das ist verrückt, oder?«, fragte eine Frau, die sich verdächtig nach Francine Usher anhörte. Jackpot, da hatten sich die Richtigen gefunden. Erst jetzt begriff er das Unglaubliche: Die TBS-KI nutzte das Smartphone dieser Terroristen als Abhörwanze und die bemerkten nichts davon. Max würde neben der kleinen Schlampe noch einen Zeitspinner erwischen. Auch wenn es ihm schwerfiel es zuzugeben, das hatte die TBS-KI geschickt eingefädelt.
Nun sprach die Usher: »Der Zeitriss, den ich ohne es zu wollen geöffnet habe und den ihr mit der Energie des Teslas erweitert habt ... hat dort von 2022 bis 2031 existiert. Nach wenig erfolgreichen Versuchen, das Phänomen zu erklären, haben findige Geschäftsleute in Bad Münstereifel daraus einen Wallfahrtsort gemacht.«
Max stutzte, die mussten von 2022 nach 2031 gereist sein und wieder zurück. Verstanden, nur das Leuchtwunder von Bad Münstereifel kannte er nicht. Das hatte in seiner Zukunft nie existiert. Es hatte auch nie einen Zeitriss gegeben, der neun Jahre alt wurde. Die Dinger verschwanden in der Regel innerhalb weniger Tage wieder. Jedenfalls war es bisher so gewesen. Max sah ein, dass die Zukunft, die er kannte, nicht mehr als eine Option darstellte. Die Zukunft, die er und andere nun erlebten, würden sie selbst schreiben. Deshalb hatte sich an seinem Auftrag auch nichts verändert. In ein paar Minuten würde er Francine Usher und Patrick Richter töten.
»Korrekt!«, sagte eine dritte Stimme. »Dabei haben die Wissenschaftler der RWTH einiges probiert. Die Untersuchungen dazu waren öffentlich zugänglich. Das Einzige, was festgestellt wurde, war ein unerklärlicher Magnetismus. Im Umkreis von 50 Kilometern hat jeder analoge Kompass nach Bad Münstereifel gezeigt. Alle Wege führen zu uns! Ein Werbeslogan, der sehr erfolgreich wurde. Im Jahr 2031 hatte die Stadt 180.000 Einwohner und galt als der wohlhabendste und bestbesuchte Ort in Europa.« Kurze Pause, dann fragte die Stimme: Fühlst du dich besser, Francine? Eugen und ich haben uns große Sorgen gemacht.«
Die Stimme kannte Max noch nicht, sie klang männlich und barg etwas schwer zu Beschreibendes in sich: Aufgeweckt und fürsorglich. Das sollte eine KI sein? Nein, das konnte er sich kaum vorstellen. »Wer spricht da?«
»Die Yosemite-KI«, antwortete die TBS-KI emotionslos.
Max zögerte, selbst im Jahr 2051 gab es keine technischen Systeme, die sich derart menschlich anhörten. ‚Viel zu großer Programmieraufwand für eine Assistenz-App‘ hatte er mehrfach gelesen und in Berichten gehört. Nummer sieben schien in einigen Belangen eine außergewöhnliche Signatur zu sein.
»Es geht schon, Siggi. Ich bin froh, dass ihr mich gefunden habt. Aber weißt du, wie der Riss so lange offenbleiben konnte?«, fragte die Usher.
Die Antwort interessierte Max ebenfalls.
»Das kann ich auch nicht erklären. Die Wissenschaftler haben die Erscheinung Ende 2023 für harmlos erklärt. Auch Versuche, Energie zuzuführen, brachten keine Veränderung. Ich könnte mir vorstellen, dass das mit deinem kurzen Aufenthalt im Jahr 2031 zusammenhängt. Zeit ist relativ: für dich war es weniger als ein Tag, für alle anderen neun lange Jahre.«
»Stimmt das?«, fragte Max. Die Yosemite-KI klang nicht nur wie ein netter Onkel, sie verstand es auch, durchaus überzeugende Schlüsse zu ziehen.
»Szenario unbekannt. Temporale Interferenzen unbekannt. Folgerungen fragwürdig.« Okay, die TBS-KI gönnte sich zu dieser Einschätzung eine eigene Meinung. Das Problem zog sich wie ein roter Faden durch die Zukunft: Erklärungen, die Zeitrisse auf Basis der Quantenmechanik zu beschreiben versuchten, blieben stets nur Versuche. Beweise gab es keine, dafür aber mindestens ein Dutzend weiterer Theorien, die sich noch sonst wer aus dem Arsch gezogen hatte.
»Ist das nicht egal?«, fragte eine weitere männliche Stimme. Noch einer? Max erschrak, die waren zu dritt? Natürlich waren sie das. Die TBS-KI hatte es eben erwähnt, er sollte besser aufpassen.
»Eugen, es ist nicht egal!« Die Usher fuhr ihm über den Mund. Max lächelte, dieser besondere Klang in der Stimme einer Frau war ihm bestens vertraut, die beiden kannten sich offenbar bereits. »Wenn wir diesen ganzen Scheiß nicht verstehen, wie sollen wir ihn dann reparieren?«
Max schüttelte den Kopf, das mit dem Reparieren hörte sich wirklich niedlich an. Klar, einfach alles wieder herrichten, und es würde gut werden. Genau so waren in der Zukunft bereits hunderte Schlauköpfe an die Sache herangegangen. Bis jeder von ihnen kläglich scheiterte. Diese Schäden in der Zeit ließen sich nicht beheben, man musste sie in der Vergangenheit ungeschehen machen.
»Als ob du das könntest … du bist doch diejenige, die uns immer tiefer in der Zeit verwickelt!«
1:0 für Eugen, der Typ traf den Nagel auf den Kopf. Francine Usher könnte das Problem höchstens lösen, wenn sie sich vor ein Auto warf. Am besten einen LKW, ansonsten würde sie es bei ihrem Glück wieder überleben. »Schau dir nur das Wetter an ... egal wann, es regnet immer!«
»DU BIST EIN IDIOT!«, keifte sie zurück.
Francine, Eugen, Patrick und die Yosemite-KI, da hatten sich die Richtigen gefunden. Max würde keinen entkommen lassen.
»Ganz ruhig. Wir haben einen Plan«, sagte die Yosemite-KI. »Den ersten Teil haben wir geschafft. Wir sind zusammen. Sogar in der richtigen Zeit.«
»Sind wir nicht ... ich sag nur 34 Stunden.« Dieser Patrick mischte sich ein. »Das ist nicht meine Zeit. Ich habe eine Frau und werde Vater ... aber nicht in dieser Realität. Hier kennt Sophie mich noch nicht einmal. Ich muss auf jeden Fall zurück.«
»Patrick, wir werden einen Weg finden«, sagte die Yosemite-KI.
»Danke, Siggi.«
Max schüttelte den Kopf, die Spinner hatten diesem binären Poltergeist sogar einen Namen gegeben. Siggi, hey, die Macke musste denen erst einmal einer nachmachen.
»Das haben wir versprochen!«, ergänzte Eugen.
»Das machen wir ... das bekomme ich hin. Lass uns in unsere Wohnung, dort im Schlafzimmer haben wir die benötigte Ruhe.«
Ganz richtig. Die ewige Ruhe. Max grinste. Francine wählte mit ihren Worten den Ort, an dem sie sterben würden.
»Was ist eigentlich mit dem Wetter los?« Max hob den Kopf, das war bereits die zweite Sintflut binnen 24 Stunden und diesmal hörte der Spuk nicht nach wenigen Sekunden auf.
»Temporale Anomalien und extreme Tiefdruckzonen sind bereits in der Zukunft zeitgleich aufgezeichnet worden. Es gibt definitiv einen Zusammenhang.«
»Ach was ...« Max schlug die Hände aus. Zum Glück war der Regen nicht kalt. Was war das denn? Neben sich am Boden erkannte er eine rote Spur, die auch der starke Regen nicht ersäufen konnte. Ein Zeitriss? Direkt in seiner Nähe? Nein! Das wollte er nicht. Wie hätte dieser Irrsinn auch überhaupt funktionieren können? Francine befand sich nicht in seiner Nähe. »Was ... was ist das?«
»Wir sind da ... lasst uns reingehen. Dann können wir uns abtrocknen und auch etwas anderes anziehen«, erklärte Eugen, den er immer noch hören konnte. Das mit der roten Linie, die ihm auf der Spur war, jagte Max einen Riesenschrecken ein.
»Das Leibchen steht dir!«, sagte die Usher neckisch.
»Dein blasser Hintern sieht im Regen auch nicht besser aus!«, tönte Eugen zurück.
»Szenario unbekannt. Temporale Interferenz unbekannt. Folgerungen nicht möglich.« Die halbgare Erläuterung der TBS-KI half Max nicht ein Stück weiter. »Starte Aufzeichnung.«
»VERDAMMT!« Max fing an zu rennen. »DU SOLLST NICHTS AUFZEICHNEN! DU SOLLST DIESEN WAHNSINN VERSCHWINDEN LASSEN!«
Max rannte den Hermann-Löher-Weg entlang, die Straße im nördlichen Bad Münstereifel war nicht lang, dort war er bereits gewesen. Die rote Spur bewegte sich, sie schlug Haken, peitschte förmlich meterhoch durch die Sturmnacht. Es blitzte, der Donner folgte nur eine halbe Sekunde später. Das Gewitter, das sich direkt über ihnen gebildet hatte, legte noch eine Schippe zu. Verfolgte ihn etwa die Zeit? Er war nicht in der Lage, diese Erscheinung loszuwerden.
»Datenmenge nicht signifikant genug, um eine Lösung des Problems zu ermitteln.« Die Situation überforderte offenbar auch die TBS-KI. Was für ein roter Scheißdreck war ihm da überhaupt auf den Fersen?
»Hier ... ein Handtuch«, sagte die Usher.
Was sie zu sagen hatte, interessierte Max gerade nicht die Bohne. Im Hintergrund konnte er Wasser rauschen hören.
»Patrick ... bitte sei leise. Der Klepper schläft, besser wir wecken sie nicht auf«, ergänzte die Usher. »Wir ziehen uns um und verschwinden direkt wieder.«
»Kein Thema«, antwortete dieser Patrick mit gedämpfter Stimme.
Nein, nein, das konnten die Zeitspinner vergessen. Max würde sie jetzt alle kriegen. Jeden von ihnen.
Er erreichte den Findling, dahinter befand sich das Haus. Hier war er richtig. Max stürmte auf die Tür zu. Die Waffe hielt er bereits in seiner Hand. In zwei Minuten wäre er hier fertig. Ein kurzer Blick in den Regen hinter ihm, die rote Lichtspur sprang ihm förmlich wie eine Schlange ins Gesicht. Zuerst hatte er die Haustüre eintreten wollen, dazu kam es nicht mehr. Er stolperte vor Schreck, verlor die Balance und krachte aus vollem Lauf mit dem Rücken in die schwere Eingangstür. Es krachte, Holz splitterte, zu klingeln brauchte er nicht mehr.
»WAS WAR DAS?«, hörte er die Usher rufen. Sowohl über das abgehörte Smartphone wie auch live aus der ersten Etage. »LOS! WIR GEHEN!«
Nein, das würden sie nicht. Max stöhnte, hoffentlich hatte er sich bei dem Stunt nichts gebrochen. Er raffte sich auf und sprintete die Treppe hoch. Eine Horde wilder Nashörner wäre kaum lauter gewesen. Egal, das spielte keine Rolle mehr. Die nächste Tür schoss er auf. Die Salve riss den halben Rahmen und Teile der Wand in Stücke.
»KEINER BEWEGT SICH!«, brüllte er. Schnell atmend zählte er seine Schäfchen. Eins Usher, zwei Richter, drei Eugen, seinen Familiennamen kannte er nicht. Alle Drei! Fini! Die Falle schlug zu! Er hatte sie endlich vor seiner Kanone!
»Ähm ...« Eugen hatte als Erster die Hände über dem Kopf, Patrick Richter folgte ihm. Nur die Usher zögerte, die das Licht von zwei Baustrahlern zu absorbieren schien. Energie, es ging immer nur um Energie.
»Max Kellermann, erfüllen Sie den Auftrag: Töten Sie Francine Usher. Erweitere Auftrag: Töten Sie alle Zeugen.«
»Den kenne ich, er hat mich bereits einmal laufen lassen«, erklärte Patrick Richter verunsichert.
»Oh, nein. Das ist mein Killer«, wisperte sie und blickte zu ihren Komplizen. Ihre Hände glühten, als ob sie aus flüssigem Metall bestehen würden. »Glaub mir, der wird uns diesmal nicht davonkommen lassen.«
»Max?« Patrick Richter sah ihn an. »Hören Sie, das müssen Sie nicht tun. Wir machen keinen Ärger. Vermutlich verfolgen wir sogar das gleiche Ziel.«
Max schluckte.
»Kellermann, erfüllen Sie den Auftrag: Töten Sie Francine Usher. Töten Sie Patrick Richter. Töten Sie Eugen Schulze. Zerstören Sie die Yosemite-KI.«
Diese Siggi-KI ertönte: »Der Killer wird fremdgesteuert. Von einer fremden Instanz. Einer KI wie ich. Jemand wie ich. Nein, weiter entwickelt als ich. Sehr viel weiter. Die Signatur greift meine Firewall an. Dem werde ich nicht sehr lange widerstehen können.«
Sogar die Yosemite-KI wusste offenbar, wann ihr letztes Stündchen schlug. Die Stimme konnte jeder im Raum hören, die Worte der TBS-KI nur er.
Ein roter Blitz schlug in den Raum. Direkt durch die Wand. Als ob das Mauerwerk keine Bedeutung hätte. Das Licht blieb an ihm hängen, so als trüge er einen Schal, der im Wind wehte. Alle sahen ihn verstört an.
»Max Kellermann, erfüllen Sie den Auftrag: Töten Sie Francine Usher. Töten Sie Patrick Richter. Töten Sie Eugen Schulze. Zerstören Sie die Yosemite-KI. Sofort.«
»Was ist das?«, fragte Eugen. Jeder zeigte sich von dieser jüngsten Entwicklung beeindruckt.
Auch die Usher wich einen Schritt zurück. Ihre Hände glühten immer noch. »Das kommt nicht von mir!«
»Diverse Zeiten stoßen aufeinander. Max Kellermann und ich stammen aus der Zukunft, ihr aus der Vergangenheit. Die Zeit kollabiert. Niemand von uns gehört hierher.«
Wahre Worte der Yosemite-KI. Max dachte an die Zukunft, die es niemals geben würde. Er war ausgezogen, um die Zeit zu heilen, und jetzt? Er wurde selbst zu einem Teil des Problems. Das rote Licht würde tiefe Narben in der Realität hinterlassen.
»Max Kellermann, erfüllen Sie den Auftrag: Töten Sie Francine Usher. Töten Sie Patrick Richter. Töten Sie Eugen Schulze. Zerstören Sie die Yosemite-KI. Schießen Sie. Tun Sie es jetzt.« Die TBS-KI machte weiter Druck.
Dabei verstand die Signatur gar nichts. Deswegen war Max nicht durch die Zeit gereist. Verdammt, er war einmal Polizist gewesen! Er tötete nicht ohne Grund! Nicht einfach so! Nicht nur, weil er es konnte! Er hatte bereits zu oft gemordet. Sein Ziel war es immer gewesen, die Zukunft zu retten. Eine Zukunft, die er nicht mehr erleben würde. Eine Zukunft, die nun in der Vergangenheit lag.
»Max, lassen Sie den Arm sinken ... wir können Ihnen helfen«, sagte Eugen, der sogar einen Schritt auf ihn zukam. Als ob dieser Grünschnabel ihm helfen konnte.
»Bereite Medikation vor. Volle Dosierung. Max Kellermann, Sie werden schießen.«
Max schrie. Eugen wich zurück. Die TBS-KI würde ihn wie eine Waffe benutzen, um diesen Wahnsinn zu vollstrecken. Dabei würden diese Morde nichts verändern. Gar nichts. Weniger als nichts. Töten. Er würde töten. Töten. Er würde schießen. Jetzt. Ihm blieb keine Zeit mehr. Er würde es tun.
»Bitte, noch können Sie zurück ...« Patrick Richter reichte ihm die Hand.
Blödsinn! Es gab kein Zurück.
»Verabreiche Medikation.«
Noch eine Sekunde. Mehr Zeit blieb Max nicht. Weniger als ein Lidschlag, um eine Entscheidung zu treffen. Dann hätte die TBS-KI ihn so weit. Er würde schießen – auf alles, was lebte. Die letzte Entscheidung. Er wollte das Richtige tun, nur er wusste nicht wie. Egal, der Irrsinn musste heute enden. Er hasste die Klugscheißer um sich herum. Er hasste Francine Usher. Er hasste sich selbst. Und am meisten hasste er die TBS-KI. Er durfte nicht länger warten. Das Medikament kribbelte bereits. Er steckte sich seine Expander-Waffe in den Mund und drückte ab.