XX. Ein lauter Kampf

Eugen wollte nur noch von hier verschwinden. Weg von der zerstörten Wohnung, weg von der Leiche. Weg aus dieser vermurksten Zeitlinie. Ein übler Gedanke machte sich in seinem Kopf breit. Was, wenn Siggi sich irrte. Wenn die Maßnahmen, die Paradoxen zu reduzieren, nichts nutzten? Wenn Siggi sich umsonst geopfert hätte? Wenn sie durch den Spalt schlüpften und in der gleich kaputten, korrumpierten Welt herauskämen – einfach nur vierunddreißig Stunden später? Im gleichen Chaos, nur, dass Kellermanns Leichnam noch mehr stinken würde ...

Er behielt den Gedanken für sich.

Mit hoher Konzentration zog Francine mit ihrem glühenden Zeigefinger den Riss größer.

»Ich fasse es nicht«, flüsterte Patrick, der diesem illustren Schauspiel zum ersten Mal beiwohnte.

»Ich muss es genauso hinkriegen wie letzte Woche, als wir Siggi diese dubiosen vierunddreißig Stunden in die Zukunft geschickt haben.«

»Und als ich ihn versehentlich losgelassen habe, sodass er auf den Boden gestürzt ist.« Eugen verzog den Mund. Damit hatte das Unglück seinen Lauf genommen.

»Ja, Captain Blue Screen ist berühmt für seine Abstürze.« Tatsächlich umspielte ein Lächeln ihren Mund. »Im Grunde war dieses Missgeschick nicht kriegsentscheidend. Die Katastrophe hatte längst ihren Lauf genommen.« Ihre Zungenspitze lugte zwischen den Lippen hervor, sie fokussierte ganz den Spalt. »Noch ein kleines Stück und dann etwa fünfzehn Millimeter aufklappen.«

Patrick kratzte sich den Hinterkopf. »Unglaublich. Und das von mir, als ehemaliger Zeitreisender.«

»Der gleich wieder reaktiviert wird«, grinste Eugen.

Kurze Zeit später trat sie zurück. »Fertig. Jetzt müssen wir warten, bis das Magnetfeld abschwächt, dann strecke ich zur Feinjustierung mein Handy hinein, bis es sich auf die dortige Zeit aktualisiert hat. Erst dann schlüpfen wir hindurch. Und zwar behutsam, ohne die Ränder zu berühren. Auf keinen Fall lande ich wieder im Mittelalter.«

Obacht – ein Plan von Francine! Einmal mehr hatte sich gezeigt: Mochten ihre Pläne auch noch so durchdacht und plausibel sein, stets wiesen sie einen klitzekleinen Schönheitsfehler auf. In der Regel gingen sie schief.

»Ich gehe als Erster hindurch«, sagte Eugen schnell, damit ein Teil des Planes von ihm stammte. Vielleicht brachte dies Glück.

Nach etwa zwei Minuten sagte Francine: »Das müsste reichen.« Sie zog ihr Smartphone aus der Tasche, schaltete es ein und hielt es durch den Spalt. »Mach schon!«, ermunterte sie das Handy, sich Datum und Zeit aus dem Netz zu ziehen. »Ha! Volltreffer. Nichts leichter als das. Dort haben wir übermorgen. Mittwoch, den 31. August 2022. Noch eine kleine Korrektur der Tageszeit, und dann durch.«

Eugen machte sich geistig bereit. Im Grunde müsste es ihn auf der anderen Seite des Risses wieder nur einmal geben. Das wäre logisch. Was war mit seiner Mutter? O ja, o nein, die hätte er dann seit vier Jahren nicht besucht. Über die konkreten Konsequenzen würde er sich später Gedanken machen.

Francine zog ihren Arm zurück. »Fertig!«

»Dann bin nun ich an der Reihe!« Eugen trat vor.

»KEINE BEWEGUNG. HEBEN SIE DIE HÄNDE! ALLE!«, ertönte es herrisch von der Seite.

Wo kam die Stimme her?

Eine Frau stand auf der Schlafzimmerschwelle und zielte mit einer Waffe auf sie. Auf den ersten Blick erinnerte ihr Aussehen an Francine, als sie noch lange Haare hatte. Schlank, dunkelblond, mit Rußflecken im Gesicht, in einer Polizeiuniform und gewaltig sauer. Na ja, es spielte auch keine Rolle, wie sie aussah, ihr erboster Gesichtsausdruck deutete auf neuen Ärger hin. Mist, das wars mit dem Plan, sich elegant aus der Geschichte herauszustehlen.

Ein Mann tauchte neben ihr auf. Mittelgroß, schwarze Haare. Ein Vollbart ließ wenig von seiner Gesichtshaut übrig, die den etwas dunkleren Teint eines Südeuropäers aufwies. Einige frische Wunden am Kopf ließen auch ihn alles andere als entspannt wirken. Egal was die beiden erlebt hatten, vergnügungssteuerpflichtig war es nicht gewesen.

»Es ist nicht so, wie es aussieht«, sagte Patrick.

»Nein, schlimmer. Es sieht nach einem Schwerverbrechen aus. So nennt man das, wenn eine Leiche ohne Kopf im Zimmer liegt und alles hirn- und blutverklebt ist. Halten Sie still! Ich warne Sie, nur eine hektische Bewegung und ich schieße.«

»Er hat sich selbst erschossen.«

»Und anstatt die Polizei zu rufen, stehen Sie in seinem Blut und fummeln in der Luft herum? Das Ganze kommt mir vor, wie ein perverser Ritualmord. Keiner rührt sich!«

So ein verdammtes Pech. Wenige Sekunden später hätten die Bullen ein leeres Zimmer vorgefunden, dachte Eugen. So viel zu Francines grandiosen Plänen.

»Halten wir sie in Schach, bis die Verstärkung eintrifft?«, fragte ihr Begleiter.«

»Nein, verflucht! Wir müssen hier raus, damit diese Bande nicht noch mehr Spuren an diesem Tatort zerstört.« Die Laune der Dame war schlechter als die von Francine, wenn Gute Zeiten, schlechte Zeiten aufgrund einer Live-Sport-Übertragung ausfiel. »Wir machen nun Folgendes: Sie verlassen ganz brav mit erhobenen Armen das Zimmer. Ganz langsam und brav die Hände hochstrecken. Sie als Erster.« Die Polizistin zeigte auf Patrick. »Dann die Dame und zum Schluss Sie.«

Mit Letzterem meinte sie wohl Eugen, denn mehr waren nicht hier.

Was sollte er nun tun? Er könnte durch den Spalt springen. Doch die beiden anderen würden nicht folgen können. Nein, er würde Francine nicht noch einmal allein lassen.

Der fremde Mann trat vor und schob Patrick aus dem Schlafzimmer. »Arme hoch!«, mahnte er.

Die Polizistin machte einige Schritte zurück, so hatte sie alle drei besser im Blick. Und vor der Mündung ihrer Waffe.

Ihr Begleiter trat auf Francine zu, um sie hinauszuführen. Plötzlich riss er die Augen auf. »Jasmin! Dort wabert ein roter Riss in der Luft. Vermutlich die Ursache für die magnetische Kennlinie, die uns hergeführt hat. Die haben damit zu tun!«

»Zum Teufel, Bernat. Was für eine Scheiße läuft hier ab?«, fluchte die Dame undamenhaft.

»Eine lange Geschichte, die Sie uns ohnehin nicht glauben werden«, sagte Patrick. »Nur eins vorweg: Wir sind keine Verbrecher. Ganz im Gegenteil – eher Weltenretter.«

Die Polizistin schnaufte. »Das höre ich von durchgeknallten Wutbürgern jeden Tag. Bei solchen Behauptungen wird mir schlecht. Sie werden jetzt die Wohnung verlassen!«

»Bei denen schlägt das Wetter aber nicht diese Kapriolen. Sie haben die Unwetter doch selbst erlebt. Vergessen Sie einfach Ihre bisherigen Maßstäbe.«

»Was ist das für ein Ding?«, fragte dieser Bernat und deutete mit dem Kinn auf den Spalt. Ob der komplexen, fragwürdigen Situation schien er ganz gefasst und machte einen vertrauenserweckenden Eindruck auf Eugen.

»Ein Portal in Form eines Risses. Wer hindurch geht, landet in einer anderen Zeit.«

»Schlimmer als die Verschwörungstheoretiker. Normalerweise müsste ich Sie für so einen Blödsinn erschießen – ohne Verhandlung«, fauchte die Polizistin.

»Nach dem was wir heute erlebt haben, erscheint mir der Blödsinn durchaus plausibel«, sagte Bernat und wurde Eugen noch sympathischer. »Wie auch immer das Ding funktioniert, ich halte es für möglich, denn es könnte einiges erklären.«

»Bernat, hör auf damit! Erst einmal alle raus hier. Vielleicht fliegt uns gleich alles um die Ohren, so wie eben gerade.« Sie fuchtelte mit ihrer Dienstwaffe.

Jasmin und ihr Freund schienen keinen guten Tag gehabt zu haben. Mit vorgehaltener Pistole verließen sie die Wohnung, gingen die Treppe hinunter und traten vor das Haus. Ein verkratzter Polizeiwagen stand in der Einfahrt. Es regnete.

»Hören Sie«, versuchte Patrick es. »Wir sind keine Kriminellen. Lassen Sie uns durch das Portal verschwinden, dann sind Sie uns los. Ansonsten schreiben Sie einen viertausend Seiten langen Bericht.«

Jasmins Gesichtszüge verhärteten sich. »Hier verschwindet niemand.« »Stellen Sie sich ans Auto – Hände aufs Dach.«

Patrick gehorchte.

»Und Sie daneben!«

Eugen tat, was sie wollte.

Ein dumpfes Geräusch ertönte in seinem Rücken, nicht laut, aber hässlich. So als ob ein Knüppel auf einen Kopf niederfuhr. Er fuhr herum. Ein Knüppel war auf Jasmins Kopf niedergefahren, sie verdrehte die Augen, ließ die Waffe fallen und sackte zusammen.

Eine Frau, die an Uma Thurman in Kill Bill erinnerte, stand dort und schlug den Polizeistock, der vermutlich aus dem Dienstwagen stammte, in ihre flache Hand. »Siehst du, Rupprecht, alles eine Frage der Technik gepaart mit Geschwindigkeit.« Ihr Lächeln konnte eine Regentonne in Sekundenschnelle gefrieren lassen.

Eines wusste Eigen sofort. Mit dieser Person war nicht gut Kirschen essen. Und auch keine Äpfel oder Nüsse.

Wutentbrannt wollte sich Bernat auf die Dienstwaffe am Boden stürzen, doch sie kickte diese mit einer lässigen Fußbewegung unter das Polizeiauto. Nahezu gleichzeitig hob sie vom Boden ab und verpasste ihm mit dem anderen einen Tritt in den Unterleib, sodass er sich vor Schmerz auf dem Boden krümmte.

Als Eugens Blick auf die aschfahle, zitternde Francine fiel, schwante ihm, wer dort gerade das Ruder übernommen hatte. Es konnte sich nur um das Killerpärchen aus der Zukunft handeln.

»Du bist unschlagbar, Josefin. Willst du sie alle umlegen oder nur die Usher?«, fragte ihr Begleiter.

»Ich denke schon. Wir sollten auf Nummer sicher gehen und alle Zeit-Terroristen beseitigen. Doch vorher vergnüge ich mich noch ein wenig mit diesem Pack.«

»Mach, was du willst, aber beeil dich, damit wir endlich wieder aus diesem Kaff verschwinden können. Ich will endlich raus aus dem Sauwetter!«

Verhandlungsbereit breitete Patrick die Hände aus. »Wartet. Dankenswerterweise habt ihr uns gerade vor der Verhaftung bewahrt. Wir können euch mit Informationen dienen.«

Ein Schuss ins Schwarze, um Zeit zu gewinnen, wusste Eugen. Hatte nicht eben jemand etwas von Verstärkung ist unterwegs gefaselt? Wo blieb die?

Der Mann schubste Patrick an der Brust von sich weg. »Willst du mich verarschen? Du weißt nichts, was wir nicht wissen.«

Nun ging alles sehr schnell. Nein, schneller. Patricks rechte Gerade schoss hervor und landete mitten in Rupprechts Gesicht. Er musste einen

erstaunlichen Volltreffer gelandet haben, denn der Kerl kippte um wie eine morsche Bahnschranke und landete unsanft mit dem Kopf auf einer der sorgfältig verlegten Gartenplatten.

Jetzt hatten sie nur noch die Frau vor sich. Eugen schöpfte wieder Hoffnung, schließlich griffen sie nun zu dritt an, denn auch Bernat rappelte sich stöhnend hoch und näherte sich Josefin von rechts. Mutig kam Patrick mittig, während Eugen die linke Seite besetzte. Völlig unbeeindruckt wartete die Dame ab. Sie verzog keine Miene, nur der Knüppel in ihren Händen drehte sich langsam.

Tief in seiner optimistischen Hirnhälfte hoffte Eugen, dass sie von allein aufgab, zumal er nicht wusste, wie man kämpfte. Was sollte er konkret tun? Prügeleien war er in seinem Leben bisher stets aus dem Weg gegangen. Sein Erfolgsmotto: Wegrennen ist besser als wegstecken. Sollte er versuchen, sie in den Schwitzkasten zu nehmen? Nee, Schwitzkasten – wie das schon klang. Vor Aufregung fing er an zu schwitzen und spürte seinen Herzschlag in den Schläfen pulsieren. Mit wildem Wutgeheul stürmte auf einmal Francine von hinten auf Josefin zu. Diese reagierte zunächst nicht, sondern behielt die drei Männer vor sich im Auge. Francine erreichte sie und sprang ihr wie ein tollwütiger Schimpanse ins Kreuz. Oder besser, sie versuchte es. Im letzten Moment duckte sich die Frau weg und stieß der vorbeifliegenden Angreiferin den Fuß in den Rücken. Francine überschlug sich mehrfach und blieb regungslos auf dem Boden liegen. Ein Francine-Plan halt. In einem Action-Film wäre dieser brillante Move in Super-Slow-Motion aus mindestens fünf Kameraperspektiven zelebriert worden – in der Realität verging lediglich ein Wimpernzucken. Mit dem nächsten Wimpernschlag trat die wehrhafte Dame, in einer Scherenbewegung der Beine, Patrick in den Magen.

»Uff!«, beschwerte der sich. Zu mehr reichte es nicht, denn er klappte zusammen wie ein Messer und japste nach Luft. Es folgte ein Schlag mit dem Knüppel mitten auf den Kopf.

Wie? Mit zwei schnellen Bewegungen hatte sie Patrick ausgeschaltet? Sie durfte keine Zeit bekommen, sich zu sammeln. Gleichzeitig griffen Bernat und Eugen von beiden Seiten an. Leichtfüßig tänzelte ihre Gegnerin einen Schritt zurück, doch ihr Oberkörper samt gestrecktem Arm schoss vor, der Handballen traf von schräg unten das Kinn dieses Bernats. Der Kiefer krachte, die Zähne klackten. Blut strömte ihm aus dem Mund und tropfte auf den regennassen Boden. Von irgendwoher traf ihn noch eine Handkante am Schädel. Bernat sank nieder und legte sich brav neben Patrick auf den Boden und verdrehte Augen und Gliedmaßen.

Eugen spürte den Schmerz, obwohl er noch nicht getroffen worden war. Wieder einmal alles eine Frage der Zeit, denn mit schmalen Augen betrachtete sie ihren einzig verbliebenen Feind.

»Nachdem ich die Gegner in der Reihenfolge ihrer Gefährlichkeit ausgeschaltet habe, kümmere ich mich um dich, Bürschchen.«

Das klang nicht nur gemein, es war gemein. Sie nahm ihn nicht für voll, das war der einzige Grund, warum Captain Blue Screen noch auf seinen zwei Beinen stand.

»Keine Angst, noch werde ich dich nicht sofort töten. Du darfst erst mit ansehen, wie ich deiner Freundin den Hals umdrehe. Du hast ja keine Ahnung, was diese kleine Schlampe mit der zukünftigen Menschheit anrichtet.«

»Aber, aber Siggi hat doch schon Vorkehrungen getroffen, dass dies nicht geschieht.«

»Würstchen, wer ist Siggi?«

»Eine KI aus der Zukunft. Auf einem Handy.«

So gekonnt wie gelangweilt zog sie eine Augenbraue hoch, die linke, nicht die rechte wie Spock. »Und wo ist dieser Siggi?«

»Der … der ist gelöscht worden.«

»Und das Handy?«

»Das … habe ich zertreten.«

»Oha, du bist ja noch gefährlicher als ich dachte.« In unfassbarer Arroganz und Ignoranz drehte sie ihm den Rücken zu und ging auf die ohnmächtige Francine zu. »So, Frau Usher. Der Tag der Abrechnung ist da. Diesmal kommst du nicht davon. Genickbruch bleibt Genickbruch.« Passend dazu ließ sie ihre Finger knacken.

Der Regen ließ etwas nach. Dazu durfte es nicht kommen. Eugen ballte die Handschuhschneeballwerferfäuste. Ganz fest, sodass es wehtat. Die gute Nachricht hieß, sie unterschätzte ihn. Er musste einen wirklich überraschenden Überraschungsangriff wagen, so überraschend, dass er selbst überrascht war. Vielleicht mit einem Fußtritt in den Bauch und einem Boxschlag auf die Nase. Am besten beides gleichzeitig. In einer Geschwindigkeit, die sie ihm niemals zutraute. Hierfür musste sich Eugen eine derartige Aktion erst einmal selbst zutrauen. Dabei würde er nicht den Fehler machen wie Francine, bei der Attacke zu schreien. Das würde sie doch nur warnen.

Sie ging in die Knie und griff nach dem Kopf seiner bewusstlosen Freundin. Sie wollte der wehrlosen Francine tatsächlich den Hals umdrehen.

Wenn nicht dann, wann jetzt! Falls es jemals einen richtigen Zeitpunkt für eine wahre Heldentat gab, dann in diesem Augenblick. Eugen machte drei blitzartige Schritte. Zwar protestierte sein Körper, jeder Knochen und Muskel darin knirschte, doch das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Wie ein Windhund aus der Box stürmte er vor. So schnell hatte er sich noch nie zuvor in seinem Leben bewegt. Wie ein Projektil schoss er auf die verhasste Feindin zu. Er wollte sie treten, schlagen, beißen und kneifen. Oder die Augen auskratzen? Im Krieg sind alle Mittel erlaubt. Noch eine halbe Armlänge … dann … dann erwischte ihn ein Fuß an der Hüfte. Genauer gesagt ein Pferdefuß mit doppelten Hufeisen, so fühlte es sich jedenfalls an. Mann, war die Frau schnell mit ihren Beinen. Er flog zwei Meter in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Der Flug ging noch, nur die Landung bereitete Probleme. Krachend fiel er auf den Rücken, sodass ihm die Luft wegblieb.

Sie hatte ihn nicht unterschätzt, sondern er sich überschätzt. Sein stümperhafter Versuch hätte im Kino beim Publikum tränenreiche Lachsalven ausgelöst.

Röchelnd und gurgelnd musste er hilflos mit ansehen, wie die Polizistin Francines Kopf anhob und in die Ellenbogenbeuge nahm. Regentropfen liefen ihre Gesichter herab. Bernat und Patrick lagen bewegungslos auf dem Boden.

»Bürschchen, du hast immer noch nicht verstanden, mit wem du dich anlegst? Ich bin die beste Nahkämpferin der letzten zehn Jahrgänge auf der Militärakademie.«

Eugen hatte einfach zu wenig Luft, um seiner Bewunderung Ausdruck zu verleihen.

»Jetzt wird sie sterben. Hör gut hin. Es knackt immer so schön«, sagte sie in einer Gehässigkeit, die Eugen einem Menschen niemals zugetraut hätte.

Er wollte weder hinsehen noch hinhören. Seine eigene Hilflosigkeit erschütterte ihn zutiefst. Japsend, wie ein Fisch auf dem Rasen, konnte er nur mit den Gliedmaßen zucken.

Die Mörderin zuckte nicht einmal mit einer Wimper, als sie ihren Arm mit Francines kahlem, geschundenen Kopf anspannte. Josefins Oberkörper ruckte – und tatsächlich – ein hässliches Knirschen ertönte.

Für Eugen stürzten alle Zeitlinien auf einmal zusammen, auch ohne Luft in den Lungen schrie er seinen Seelenschmerz heraus. »NEIN! NEIN! MÖRDERIN!«

Mit einem morbiden Grinsen fasste sich Josefin an die Schläfe. Der Pfeil war tief in ihren Schädel eingedrungen. Nach wie vor kniete sie auf dem Boden, Francines Kopf rutschte ihr aus dem Arm. Die Mörderin verdrehte den Hals – und zwar ihren eigenen. Dann fiel sie auf die Seite, während die Beine hektisch strampelten. Jedoch nicht lange. Jetzt lag sie reglos da. Fassungslos starrte Eugen auf den gefiederten Schaft, der aus ihrer Schläfe herausragte.

»Und ich bin die beste Fernkämpferin des letzten Jahrtausends«, krächzte eine ihm wohlbekannte Stimme. »Diese riesige Sauerei soll mir einer erklären!«, meckerte der Klepper und legte den nächsten Pfeil in ihren Bogen ein. »Will noch jemand jemanden umbringen? Normalerweise ist mir das ja egal, doch auf meinem Grund und Boden herrscht Recht und Gesetz. Und zwar durch mich.« Sie betrachtete Jasmin.

Gierig sog Eugen Luft in seine Lungen. »Schon gut, Frau Klepp. Wir anderen sind friedlich. Ich muss nach Francine sehen.« Wie ein Käfer krabbelte er zu seiner Freundin. Die Vermieterin hatte im richtigen Moment eingegriffen – sie atmete. »Wach auf!«, sagte er und schüttelte sie sanft.

»Wo sind ihre Haare geblieben?« Die Klepp nahm den Pfeil von der Sehne und stellte den Bogen ab. »Erklären Sie mir, was hier vor sich geht?«

»Wo kommen Sie denn plötzlich her – ich meine, danke. Sie wollte ihr das Genick brechen. Ohne Sie wäre Francine nun tot. Es ist alles so schrecklich, wann hört der Mist endlich auf.« Eugen hörte sich plappern, er konnte nicht anders.

»Ich war hinten im Garten und habe die Rosen geschnitten. Aber ich habe zuerst gefragt.«

Francine schlug die Augen auf. »Captain«, flüsterte sie.

»Versuche aufzustehen. Ich muss nach Patrick sehen.« Eugen lief zu ihm, wobei er Frau Klepp zurief. »Seien Sie versichert, Sie haben das Richtige getan.«

»Mein Kopf«, stöhnte Patrick und versuchte, sich aufzurichten. Mit schmalen Augen sah er sich um. »Was ist passiert?«

»Die Verrückte aus der Zukunft hat alle umgehauen und dann hat der Klepper, äh … die nette und hilfsbereite Frau Klepp sie mit dem Sportbogen erwischt.«

»Sag mir, dass das alles nicht wahr ist.«

»Herr Grünzwerg, ich habe es schon bemerkt, Sie begreifen langsam. Es ist doch wohl offensichtlich, dass ich schießen musste.«

Patrick wusste offenbar nicht, wie ihm geschah. »Ja, ja … natürlich. Wie geht es den anderen?« Sorgenvoll blickte er sich um. »Wo kamen die Killer plötzlich her? Wir müssen die unschädlich machen.« Er hielt sich den Schädel, während er wieder auf die Beine kam. Etwas schwerfällig stapfte er zu Jasmin, löste die Handschellen von ihrem Gürtel und legte sie dem ohnmächtigen Rupprecht an.

»Können Sie die Polizei rufen, Frau Klepp?«

»Aber Sie sind doch so ein Oberpolizist. Und dort liegt unsere Jasmin Wegreiter. Wie viele Bullen brauchen Sie noch?«

»Öh, dann rufen Sie einen Krankenwagen!«

»Hm, einverstanden. Und einen Leichenwagen. Schließlich wird hier scharf geschossen.«

Die Alte dackelte ab. Ungläubig sah Eugen ihr nach. Was für eine Frau – wie auch immer, sie hatte Francine und vermutlich ihnen allen das Leben gerettet.

»Wir müssen hier endlich verschwinden, bevor die eifrige Polizistin aufwacht und uns wieder verhaften will«, sagte Eugen und half Francine auf die Beine zu kommen.

»Und bevor Großmutter Hood wieder auftaucht«, ergänzte Patrick.

Ein Stück weiter ertönte ein lautes Stöhnen. »Oh, was ist passiert?«, ächzte Bernat in der stabilen Seitenlage.

»Ich erkläre es Ihnen«, sagte Patrick. »Dann denken Sie sich zusammen mit Ihrer Partnerin eine passende Geschichte dazu aus. Eines vorweg, wir sind nicht kriminell, sondern wollten von Beginn an das Richtige tun.«

»Ich bin Wissenschaftler – Meteorologe. Nachdem in den letzten Tagen ein Großteil der Naturgesetze auf den Kopf gestellt wurde, können Sie mich kaum noch überraschen.« Mit großen neugierigen Augen sah er Patrick an.

»Eugen, bring Francine zum Zeitriss. Sie soll als erstes durchgehen. Dann folge ihr. Wartet auf mich, ich brauche hier noch einen Moment.«

Eugen nickte. Es war bemerkenswert, dass gerade Patrick sich zurücknahm, der nichts anderes wollte, als zu seiner Sophie zurückzukehren.

»Beeil dich! Wenn die Klepp sieht, wie ihre Dachwohnung aussieht, erschießt sie alle auf ihrem Grundstück.«

»Ja, wir warten auf dich. Und dann werde ich den Riss von der anderen Seite verschließen«, sagte Francine.

Patrick nickte. »Wir hoffen, dass die Natur sich langsam erholt.« Er wandte sich Bernat zu, dem die Fragezeichen aus den Ohren sprießten. »Es ist genauso wie es klingt. Wir werden alle drei zurück in unsere Zeltlinie gehen. Ich fasse mich kurz, bitte hören Sie genau zu, was passiert ist.«

Der Meteorologe nickte.

 

Eugen ging mit Francine ins Haus zurück. Ein letztes Mal stolperten sie in dieser korrumpierten Zeitlinie die Treppe hoch. Was für ein Leben würde sie jenseits des Spalts erwarten? Ein Besseres, war sich Eugen sicher. Es konnte einfach nur besser werden.

Er warf einen Blick auf Francine. Und dachte daran, was sie alles durchmachen musste. Was für ein Albtraum. Hexenverbrennung, Mordversuch im Krankenhaus, ständige Flucht. Mieser ging es kaum.

Sie erreichten den Spalt im Schlafzimmer, Eugen vermied es, Kellermanns Leiche anzusehen. Sogar dieser Kerl musste Schreckliches erlebt haben.

»Du zuerst«, sagte Eugen.

Sie streckte ihm die Hand hin. »Nur wenn du mich dabei festhältst und dicht hinter mir bleibst.«

»So machen wir es.«

Eng hintereinander schritten sie ins rote Licht.