In der Eingangshalle des Helmsley Arms kam Levi der Sicherheitschef der Familie Bianchi entgegen.
»Hey, Frankie. Was gibt’s?«
Frankie deutete zum Eingang des Wohngebäudes. »Gehen wir ein Stück spazieren. Du und ich müssen reden.«
Levi betrachtete Frankies grimmigen Gesichtsausdruck, dann folgte er ihm mit einem frustrierten Seufzen zurück hinaus auf die Straßen von New York City.
Als sie die East 86th
Street entlangschlenderten, bildete Levis warmer Atem kleine Wölkchen. Frankie trug eine Winterjacke, Levi hingegen denselben Anzug, in dem er die letzten beiden Tage verbracht hatte.
»Komm schon, Frankie, ich frier mir hier draußen den Arsch ab. Was ist los?«
»Einer unserer Leute ist ausradiert worden«, verkündete Frankie unverblümt und warf Levi einen Seitenblick zu. Mit forschen Schritten marschierte er weiter.
»Scheiße.«
Levi hasste die Risiken, die mit dem Geschäft der Familie einhergingen. Zwar beteiligten sich die Bianchis zunehmend an legalen Unternehmungen, trotzdem lief unter Leuten, die das Gesetz beugten, nichts ohne Risiko ab. Manchmal prallten Persönlichkeiten der verschiedenen Familien aufeinander,
andere Male handelte es sich bloß um einen Fall von falschem Ort zur falschen Zeit. Die Stadt konnte sogar für jemanden mit Verbindungen zur Mafia ein gefährliches Pflaster sein.
Allerdings gehörte das nicht zu den Angelegenheiten, um die sich Levi in der Regel kümmerte – das fiel in Frankies Zuständigkeitsbereich.
»Wer war es, Frankie? Und warum erzählst du mir davon?«
»Du bist ihm wahrscheinlich nie begegnet – ein Laufbursche namens Jimmy Costanza. Er war einer unserer externen Leute. Man hat uns eine Nachricht und zwei Teile von ihm zugestellt: einen Finger und sein bestes Stück.«
»Was?« Levi starrte Frankie ungläubig an. Jemanden erschießen zu lassen, war eine Sache. Aber der Mafiafamilie eines Opfers Souvenirs zustellen zu lassen, zeugte von sehr alter Schule. Levi hätte nicht gedacht, dass so etwas noch vorkam.
Frankie kramte einen zusammengefalteten Zettel aus der Tasche. »Hier, wirf ’nen Blick drauf.«
Levi faltete das Papier auseinander und überflog die Worte.
Haltet euch aus Flushing und unserem Geschäft raus.
Auf dem Papier prangte ein rötlich-brauner Fleck. Getrocknetes Blut.
Flushing? Soweit Levi wusste, ging die Familie Bianchi in der Gegend keinerlei Geschäften nach. Aber ...
»Oh Scheiße.«
»Genau. Oh Scheiße. Vinnie hat mir aufgetragen, dich zu ersuchen, dass du einstellst, was immer du dort treibst. Ich will nicht mehr wissen, als ich muss, aber Paulie hat mir von den Kindern erzählt, die du dort rausholen willst. Er hat gesagt, Jimmy hätte ihm dabei ein paar Gefallen getan und
wurde wahrscheinlich von einem dieser chinesischen Drecksäcke beobachtet. Tja, was immer er für dich gemacht hat, er ist deswegen tot.«
Ein kalter Schauder lief Levi über den Rücken. Wenn Paulie auf Costanza zurückgegriffen hatte, um das von Levi gesichtete Mädchen rauszuholen, dann waren die Chinesen dem Mann vielleicht gefolgt. In dem Fall wussten sie unter Umständen, wohin die Kleine gebracht worden war. Das Blut gerann ihm in den Adern zu Eis.
Er blieb stehen und drehte sich Frankie zu. »Ich kläre das mit Vinnie, aber jetzt muss ich schleunigst weg!«
Levi rannte zurück zum Wohngebäude und wählte unterwegs eine Nummer. Kaum wurde abgehoben, brüllte er ins Telefon. »Ich brauche beim Helmsley ein Auto. Sofort.«
Levi übertrat alle möglichen Geschwindigkeitsbegrenzungen, um es in zweieinhalb Stunden nach Lancaster in Pennsylvania zu schaffen. Unterwegs rief er wiederholt Paulie an, erreichte jedoch nicht mal die Mailbox – entweder hatte der Mann das Handy ausgeschaltet oder keinen Empfang.
Als er auf den Weg zur Farm seiner Familie bog, sichtete er einen anderen Wagen – einen schwarzen Toyota Camry mit Kennzeichen aus New York. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Autos waren in dieser abgelegenen amischen Gemeinde eine Seltenheit.
Er sprang aus dem geliehenen Fahrzeug und trat den Weg über den vereisten Pfad an. Draußen auf dem Land hatte es unlängst geschneit.
Levis Mutter kam vorne aus der Scheune, um nachzusehen, wer eingetroffen war. Ihre Züge hellten sich auf, als sie Levi erblickte. »Lazarus!«, rief sie seinen Taufnamen. Obwohl sie auf die 70 zuging, kam sie mit raschen Schritten herbei und zog
ihn in eine gewaltige Umarmung. »Es ist ja so lange her! Du solltest uns öfter besuchen.« Sie rügte ihn in Pennsylvania-Deutsch, der Sprache, mit der er aufgewachsen war.
Levi küsste sie auf beide Wangen, dann deutete er mit dem Kopf auf das andere in der Nähe geparkte Auto. »Wem gehört der Wagen?«
Sie schob eine verirrte Strähne ihres ausgebleichten blonden Haars zurück unter die weiße Gebetsmütze. »Das weißt du nicht? Der Dolmetscherin, die du für das neue Mädchen geschickt hast. Sie scheint sehr nett zu sein.«
Levi spürte, wie ihm alle Farbe aus dem Gesicht entwich. »Wo ist die Dolmetscherin?«
Seine Mutter zeigte in die Ferne zu dem Gebäude der aus einer Klasse bestehenden Schule, die Levi in seiner Jugend besucht hatte. »In der Schule natürlich. Die Kinder machen sich wirklich gut. Sie werden begeistert sein, dich zu sehen.«
Levi drückte seiner Mutter einen Schmatz auf die Stirn und sagte: »Ich bin gleich wieder da. Will nur schnell nach dem Rechten sehen.«
Während er im Laufschritt die etwa 400 Meter zur Schule antrat, klopfte er seinen Anzug ab und vergewisserte sich, dass seine Waffen dort waren, wo sie hingehörten.
Levi hatte keine Dolmetscherin geschickt.
Er sprang die Stufen zur Schule förmlich hinauf und öffnete die Tür, für alles gewappnet.
Was ihn erwartete, hätte aus einem Gemälde von Norman Rockwell stammen können. Zwölf Kinder im Alter von fünf bis zehn Jahren saßen an Pulten und schrieben in Hefte. Eine Frau, die mit dem Rücken zu Levi stand, redete gerade am gegenüberliegenden Ende des Klassenzimmers mit einem Mädchen.
»Papa Levi!«, rief eines der Kinder freudig. Köpfe drehten sich. Mehrere Kinder sprangen von den Stühlen auf und stürmten auf Levi zu. Als sie ihn umringten und aus allen
Richtungen umarmten, rührten sie sein Herz. Er erinnerte sich bei jedem einzelnen Kind, wo er es gefunden hatte. Bilder, die sich für immer in seinen Geist eingebrannt hatten.
Diese Kinder waren Opfer der Straße gewesen und auf unaussprechliche Weise ausgebeutet worden. Man hatte sie aus dem Ausland hergeholt – unter anderem aus Vietnam, Kambodscha und China. Ohne ein Wort Englisch zu beherrschen, waren sie der Gnade der Zuhälter und Sklavenhalter ausgeliefert gewesen, die sich in den Schatten nahezu jeder größeren Stadt versteckten.
Das Beste, was Levi tun konnte, war, ihnen eine Chance zu geben. Er hatte eine hübsche Stange Geld für die Dokumente bezahlt, die ihnen amerikanische Namen, die US-Staatsbürgerschaft und einen soliden Start in ein neues Leben ermöglichten. Als er nun ihre lächelnden, gesunden Gesichter betrachtete, wusste er, dass es sich gelohnt hatte. Er hoffte, es würde bei all den Sünden, die er begangen hatte und noch begehen würde, ein wenig Balsam für seine rastlose Seele sein.
»Sie sind das also.«
Levi schaute zu der Frau auf, die gesprochen hatte, und schnappte nach Luft, als er sie erkannte. Es handelte sich um die Asiatin, die ihn in Flushing »gerettet« hatte. Die Frau, deren straffen, athletischen Körper unter der Kleidung eine wellenförmige Drachentätowierung zierte. Sie hatte die Arme um das Mädchen gelegt, dem er an jenem Tag helfen wollte – das Mädchen, das so sehnsüchtig zu den Hotdogs geschaut hatte.
Er wandte sich in Pennsylvania-Deutsch an die Kinder. »Geht zu Oma Yoder und richtet ihr aus, ich hätte gesagt, dass ihr alle einen Leckerbissen verdient habt. Ich will mich mit dieser Dame unterhalten.«
Jubelnd strömten die Kinder aus der Schule. Ein Mädchen jedoch, Alicia, drehte sich dem vor der Frau stehenden
Mädchen zu und sagte etwas, vermutlich auf Kantonesisch.
Die Frau nickte, und beide Mädchen rannten aus dem Schulhaus, ließen Levi allein mit der Asiatin zurück.
»Was machen Sie hier?«, fragte er und bemühte sich, den Zorn in ihm aus seiner Stimme herauszuhalten.
Die Frau kam völlig entspannt und selbstbewusst auf ihn zu. »Eigentlich sollte ich Sie fragen, was diese Kinder hier machen. Warum haben Sie Mei ihrem Manager gestohlen?«
»Manager?« Levi spürte, wie ihm Hitze in den Hals kroch. »Sie meinen wohl Zuhälter
. Wie zum Teufel haben Sie diesen Ort gefunden?«
Die Frau trat näher, befand sich mittlerweile in Reichweite. Sie wirkte nicht im Geringsten eingeschüchtert von ihm. »Warum haben Sie die Kleine entführen lassen?« Sie deutete auf all die Pulte im Raum. »Und die anderen Kinder? Sind sie alle wie Mei? Haben Sie alle jemandem gestohlen?«
Levis sechster Sinn schlug an. Er spürte, dass irgendetwas nicht stimmte. War sie Polizistin? Versuchte sie, ihn zu einem Geständnis zu verleiten?
»Heben Sie die Arme«, forderte er sie auf. »Ich muss Sie durchsuchen.«
»Sie rühren mich nicht an«, entgegnete die Frau mit knurrendem Unterton und bedachte ihn mit einem angewiderten Blick. Sie wich einen Schritt zurück. »Schließen Sie die Tür ab, dann zeige ich Ihnen, dass ich nichts verberge.«
Levi ging zur Tür, schloss den Riegel und beobachtete, wie die Frau den Reißverschluss ihres Kleids öffnete, bevor sie es zu Boden gleiten ließ. Sie trat es zu ihm. Danach folgten ihre Schuhe und ihre Unterwäsche. Anschließend fuhr sie sich mit den Fingern durch das pechschwarze Haar. Levi war noch nie jemandem begegnet, der sich so ungezwungen vor einem Fremden entblätterte.
Ungeniert stand die Frau splitternackt im Klassenzimmer, während Levi ihre Kleidung nach Abhörgeräten durchsuchte.
»Warum sind diese Kinder hier? Ihnen muss klar sein, dass diese Leute Sie dafür umbringen würden.«
Levi warf die Kleidung zu ihr zurück. Rasch zog sie sich an. »Wie haben Sie diesen Ort gefunden?«, wiederholte er.
Sie kam wieder näher und funkelte ihn an. »Beantworten Sie zuerst meine Frage. Warum sind diese Kinder hier?«
Levi musterte sie. Diese geheimnisvolle Schönheit verhielt sich aggressiv, bedrängte ihn. Warum? Er öffnete die zu Fäusten geballten Hände und zuckte mit den Schultern. Ihr Auftreten machte ihn nervös.
»Ich wollte etwas Besseres für sie«, erklärte er. »Sie haben es nicht verdient, ausgebeutet zu werden.«
Die Frau legte den Kopf schief und starrte ihn an, ohne zu blinzeln. »Also sind diese Kinder tatsächlich alle wie Mei? Und jetzt sind sie weg von der Straße. Aber wie lange?«
Levi runzelte die Stirn. »Was meinen Sie damit, wie lange? Für immer, wenn’s nach mir geht, und das tut es in dem Fall. Diese Kinder werden nie wieder
auf der Straße landen. Haben Sie verstanden?«
Abermals wich die Frau einen Schritt zurück. Ihr Gesichtsausdruck wurde etwas milder.
»Wie haben Sie uns gefunden?«, wollte Levi erneut wissen.
Die Asiatin schüttelte den Kopf. »Kann ich Ihnen nicht sagen. Aber Sie können von Glück reden, dass nicht Sie die Kleine entführt haben – sonst wären Sie jetzt in Scheibchen geschnitten.«
In ihrem knurrenden Unterton schwang eine Warnung mit. »Halten Sie sich aus der Gegend fern, in der Sie Mei gefunden haben. Das nächste Mal werd ich Ihnen nicht mehr helfen können.« Damit ging sie um Levi herum in Richtung der Tür.
Levi legte ihr eine Hand auf die Schulter. Sie wirbelte herum und schlug die Hand mit der Faust weg. »Rühren Sie mich nicht an«, warnte sie ihn knurrend. »Keine Sorge – von mir werden die nichts über diesen Ort erfahren. Und Sie werden mich auch
nie wiedersehen. Aber wagen Sie es nicht, nach mir zu suchen, sonst kann ich für nichts garantieren.«
Damit öffnete sie den Riegel auf und verließ das Schulgebäude.
Levi spielte mit dem Gedanken, ihr zu folgen. Und er sorgte sich darüber, ob es hier noch sicher für die Kinder wäre. Allerdings standen ihm keinen echten Alternativen zur Verfügung. Was sollte er tun? Er hatte keinen anderen Ort, an dem er sie unterbringen konnte.
Seine Muskeln schmerzten vor aufgestauter Anspannung. Er musste auf irgendetwas eindreschen – heftig. Als er sich auf einem der Kinderstühle niederließ, fühlte er sich wie gelähmt.
Dann öffnete sich knarrend die Tür. Ein Gesichtchen lugte ins Klassenzimmer. Alicia. Die Kleine gehörte zu den ersten Kindern, die er von der Straße geholt hatte. Sie war den Leuten entkommen, die sie in die Vereinigten Staaten geschmuggelt hatten. Levi hatte sie dabei entdeckt, wie sie in einem Müllcontainer keine zehn Häuserblocks von seinem Apartment in der Park Avenue entfernt gewühlt hatte.
»Hallo, Kleines«, wandte er sich auf Mandarin an sie. »Du kannst ruhig reinkommen.«
Alicia trat mit dem neuen Mädchen im Schlepptau ein. »Mei wollte dir danken«, sagte sie auf Englisch, wesentlich besser und flüssiger, als er es in Erinnerung hatte.
Mei erinnerte kaum noch an das Mädchen, das Levi in Flushing entdeckt hatte. Das schrille Make-up und die unangemessene Kleidung waren verschwunden. Nun trug sie ein schlichtes, dunkles Kleid und eine weiße Gebetsmütze. Sie sah wie alle anderen in der Gemeinschaft aus – abgesehen davon, dass sie Asiatin war. Levi lächelte darüber, wie jung und unschuldig sie wirkte. Er wusste, dass sie innerlich Schäden und Narben davongetragen hatte, hoffte jedoch, sie würde mit der Zeit ihre Vergangenheit hinter sich lassen und in ein neues Leben finden können.
Mit Tränen in den Augen kam sie auf Levi zu. Sie setzte dazu an, etwas auf Kantonesisch zu sagen, fing jedoch bereits nach wenigen Worten zu weinen an.
Levi kniete sich vor ihr hin und schlang die Arme um sie. Mei erwiderte die Umarmung so innig, als wollte sie ihn nie wieder loslassen. Er schloss die Augen und schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter. »Sag ihr, dass sie hier in Sicherheit ist.«
Alicia lächelte. »Das weiß sie schon. Miss Lucy hat ihr gesagt, dass keiner der bösen Männer sie hier finden wird.«
Nach wie vor mit Meis Armen um den Hals schaute Levi zu Alicia. »Miss Lucy?«
»Die Frau, die gerade hier war.« Alicia tätschelte Mei den Rücken. »Mei hat gesagt, dass ihr Miss Lucy manchmal Süßigkeiten zugesteckt hat, wenn ... na ja, wenn die bösen Männer nicht hingesehen haben.«
Meis Schluchzen legte sich allmählich, und Levi spürte ihren schaudernden Atem am Hals.
Manchmal hatte Levi nicht übel Lust, herzukommen und nie wieder wegzugehen. Er konnte sich beinah vorstellen, bei den Kindern zu bleiben, fast wie ein richtiger Vater ... nur würde das nicht passieren. Draußen in der wahren Welt konnte er mehr bewirken. Für ihn war dieser Ort wie eine Illusion, eine Flucht vor der Realität. Und er konnte nie wieder den Kopf in den Sand stecken. Levi war damit fertig, vor seinen Problemen davonzulaufen.
Schließlich löste sich Mei von ihm und sagte mit niedergeschlagenen Augen etwas auf Kantonesisch.
Alicia hielt sich die Hand vor den Mund und kicherte. »Mei will wissen, ob sie einen zweiten Keks haben darf.«
Levi brach in Gelächter aus und umarmte beide Mädchen, bevor er sie zur Tür hinausführte. »Gehen wir Oma Yoder suchen und holen uns noch einen Keks.«
Seine Mutter hatte nicht gezögert, als er sie ursprünglich gefragt hatte, ob sie bereit wäre, sich um ein Kind zu kümmern, das er von der Straße gerettet hatte. Sie war eine zutiefst religiöse Frau und hielt es aus Überzeugung für ein Gebot Gottes, anderen zu helfen, vor allem Menschen, die weniger Glück hatten als man selbst. Bei den Juden gab es eine Bezeichnung dafür – sie nannten eine solche Tat eine Mitzwa.
Aber als er seine Mutter mit den Kindern sah, merkte er ihr an, dass sie es nicht bloß tat, weil es das Richtige war: Sie liebte diese Kinder. Und wichtiger noch, die Kinder erwiderten ihre Zuneigung.
Es fühlte sich für Levi ein wenig herzzerreißend an, sie zurückzulassen, aber sie waren, wo sie hingehörten. Und seine Zeit beanspruchten andere Dinge. Ihm blieben nur noch zehn Tage der vom Entführer gesetzten Frist. Zehn Tage, um den Entführungsfall aufzuklären, während es ihm gleichzeitig irgendwie gelingen musste, sich O’Connor vom Hals zu halten und nicht im Knast zu landen.
Als er Gerard’s
betrat, stand Denny hinter der Theke und rief ihm zu. »Hey, Levi.«
Es war Mittag, doch obwohl noch nicht viele Gäste in der Kneipe waren, herrschte reges Treiben. Holzarbeiter hatten begonnen, Schränke aufzuhängen, und Steinmetze fertigten eine neue Arbeitsplatte für den erweiterten Essbereich an. Rosie, die braunhaarige Puerto-Ricanerin, die für Denny arbeitete, wischte gerade den Staub aus der Arbeitszone von der Theke. Wie immer, wenn Levi auftauchte, bedachte sie ihn mit ihrem speziellen frustrierten Blick. Vermutlich, weil ihr dann meistens schlagartig ein Paar Hände weniger zum Bedienen der Gäste zur Verfügung stand.
»Dauert nicht lang«, versprach Levi.
Sie schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen. Rosie war Realistin und wusste es besser.
Levi und Denny zogen sich in das geheime Hinterzimmer
zurück. Kaum hatten sie die Tür hinter sich geschlossen, verstummte der Lärm aus dem Gastraum wie abgeschnitten.
Denny wischte sich die Hände an der Hose ab. »Ich hab Zeug da, das willst du ganz sicher sehen.«
Im hinteren Teil der Werkstatt, versteckt hinter den Reihen der Metallregale, befand sich ein schlichter Tisch mit mehreren Paketen darauf. Daneben stand eine Schaufensterpuppe, die etwas trug, das wie ein Neoprenanzug aussah.
»Was zum Geier ist das?«, fragte Levi, als er die Schaufensterpuppe betrachtete.
Denny riss ein FedEx-Paket auf und schaute zu dem Neoprenanzug. »Ach, du meinst Henry? Den stell ich dir gleich vor. Aber zuerst will ich dir was zeigen.« Aus dem Päckchen holte er etwas, das wie ein Kunststoffbehälter für Kontaktlinsen aussah.
Er hob das Behältnis hoch, schüttelte es leicht und hörte Wasser darin schwappen. Jawohl, Kontaktlinsenflüssigkeit. »Wie um alles in der Welt kommst du drauf, dass ich Kontaktlinsen brauchen könnte?« Levi hatte nie eine Brille getragen – sein Sehvermögen war überdurchschnittlich gut.
Denny lächelte. »Tu mir den Gefallen. Mach’s auf und setz die Linse ins rechte Auge ein. Wenn du so was noch nie gemacht hast, kann ich dir helfen.«
Levi verspürte eine gewisse kribbelnde Vorfreude – fast wie beim Auspacken eines Geschenks. Denny hielt sich gern für eine lebensechte Version von Q, den Technikguru von James Bond. Und wenngleich Levi mit Sicherheit kein James Bond war, zauberte das Elektronikgenie Denny tatsächlich ziemlich Bemerkenswertes, wenn er sich in den Kopf setzte, etwas Neues und Kreatives zu erschaffen.
Levi schraubte den Verschluss auf und betrachtete die Kontaktlinse, die in offenbar gewöhnlicher Linsenflüssigkeit schwamm. »Warum sieht das Ding aus, als wäre es von kleinen Silberstreifen durchzogen?«
»Das sind Glasfaserleitungen. Eigentlich ’n bisschen mehr als das, nämlich gebündelte Anordnungen von Kohlenstoff-Nanoröhren, aber belassen wir’s einfach dabei. Vertrau mir, wenn du das Ding eingesetzt hast, siehst du sie nicht mal.«
Levi senkte den Blick auf seine Hände. »Sollte ich mir nicht die Hände waschen oder so?«
»Wirklich?« Denny schaute belustigt drein und griff zu einer Flasche mit Kontaktlinsenlösung. »Zeig mir die rechte Hand.«
Levi streckte die Hand aus. Denny drückte etwas von der Lösung auf Levis Handfläche und verschütte dabei reichlich Flüssigkeit auf den Boden.
Levi rieb die Finger aneinander und war sich alles andere als sicher, dass sie dadurch sauberer als zuvor waren. »Was bewirkt das Ding?«
»Hör auf, dich wie ’n Baby anzustellen, ich hab dich noch nie in die Irre geführt. Jetzt setz die Linse einfach ins rechte Auge ein. Dafür hab ich’s vermessen.«
Seufzend legte sich Levi die Kontaktlinse auf die Kuppe des Zeigefingers. Als er sie auf seinen Augapfel zubewegte, fragte er sich, warum irgendjemand Kontaktlinsen haben wollte. Die Vorstellung, sich etwas direkt aufs Auge zu legen, kam ihm verrückt vor. Trotzdem tat er es.
»Nur leicht draufrücken, dann sollte sie von selbst an deinem Auge haften. Sie richtet sich automatisch aus, wenn du ein paar Mal blinzelst.«
Levi tat, wie ihm geheißen. Die Welt wurde verschwommen, als er die überschüssige Kontaktlinsenlösung wegblinzelte. Aber als er sich das Auge reiben wollte, hielt ihn Denny davon ab.
»Nein – nicht reiben. Hier.« Er reichte Levi ein paar Papiertücher. »Nur die Feuchtigkeit wegtupfen.«
Levi tupfte die Nässe ab, dann sah er sich um. »Okay, und was jetzt? Ich merke keinen Unterschied. Sollte ich?«
Denny zog einen Stift aus der Hemdtasche und reichte ihn
Levi. »Wirf ’nen Blick da drauf.«
Levi spürte, wie sich eine kindliche Aufregung in ihm aufbaute. Er wusste, dass es sich um mehr als einen bloßen Stift handeln musste. Denny ließ den Ansatz eines Lächelns erkennen.
Levi betrachtete den »Stift« in seinen Händen aus verschiedenen Winkeln. Als er den Verschluss drehte, kam eine Kugelschreiberspitze zum Vorschein. Es handelte sich um einen dieser eleganten Schreiber mit austauschbarer Miene, schwarz lackiert und mit goldenen Verzierungen. Dicker als ein gewöhnlicher Kugelschreiber, aber davon abgesehen ... nur ein Kuli. Levi verspürte leichte Enttäuschung.
»Drück auf die Metallklammer«, schlug Denny vor.
Levi drückte auf eine Seite der goldenen Klammer. Ein Klicken ertönte. Die obere Hälfte des Stifts klappte auf und offenbarte eine klare Glaslinse. Wie von Zauberhand erschien flackernd ein Bild in Levis rechtem Auge.
»Oh Scheiße.«
Denny lachte.
Das Bild war verwirrend und verschwommen. »Was seh ich da?«, fragte Levi. »Oh, warte ...« Er zielte mit dem Kugelschreiber. Das vor seinem rechten Auge schwebende Bild folgte der Bewegung des Stifts.
Ein kleiner Schwenk nach rechts, und Levi sah Denny, konzentrierte sich auf das breite, strahlende Lächeln, das einen Kontrast zu seiner dunklen Haut bildete.
Er richtete den Stift nach oben, und das Bild vor seinem Auge zeigte ihm die Deckenplatten. Die dringend abgestaubt werden mussten.
Denny schmunzelte, als Levi den Stift auf verschiedene Ziele ausrichtete. »Wie du siehst, aktiviert man den Videosender, indem man die Klammer gedrückt hält. Wenn du gleichzeitig auf den Verschluss drückst oder dran ziehst, kannst du ...«
»Ha!« Levi lachte, als er das entgegengesetzte Ende der
Werkstatt heranzoomte. Das Bild war kristallklar. Beinah so, als blickte er in einen transparenten Sucher. »Das ist spitze.«
»Das ist noch nicht alles. Gib mir fünf Minuten, dann verbinde ich den Stift über Bluetooth mit deinem Handy, und du kannst Videobilder auf das Gerät streamen.«
Levi ließ die Klammer los, und das Bild verschwand. Kopfschüttelnd schmunzelte er. »Denny, du bist immer für ’ne Überraschung gut. Dafür fallen mir alle möglichen Verwendungszwecke ein. Ist das die Sonderanfertigung, die du erwähnt hast?«
»Nein, das ist nur eines der Projekte, an denen ich gearbeitet hab.« Denny deutete auf den Kugelschreiber und reichte Levi die Flasche mit Kontaktlinsenflüssigkeit. »Gib mir dein Handy, dann kopple ich es mit dem Stift. Pack du inzwischen die Kontaktlinse zurück in ihren Behälter.«
Levi ging zu einem Spiegel und überlegte, wie er die Kontaktlinse entfernen könnte, ohne sich das Auge zu ruinieren.
»Einfach mit der Fingerspitze vorn über die Linse streichen«, sagte Denny. »Sobald du die Saugwirkung überwunden hast, löst sie sich.«
Levi hielt sich mit einer Hand das Lid auf, während er mit der anderen linkisch die Kontaktlinse entfernte. Er legte sie zurück in ihr Behältnis. Dann drehte er sich der Schaufensterpuppe zu. »Na schön, ich kann’s mir nicht verkneifen, dich noch mal auf diese alberne Schaufensterpuppe anzusprechen ...«
»He! Das ist Henry.«
»Ich vermute mal, Henry gehört zu der Sonderanfertigung, von der du geredet hast – der Tauchanzug?«
»Eigentlich ist es ’n Trockenanzug.«
»Tauchanzug, Trockenanzug, Jacke wie Hose. Was hat’s damit auf sich?«
»Ist eigentlich ganz einfach. Mir hat ein zweitklassiger,
schmieriger Typ eine recht stattliche Anzahlung für ’ne Sonderanfertigung geleistet und sie dann nicht abgeholt. Ich hab rausgefunden, dass er die nächsten zehn Jahre in Sing Sing absitzt, also bleib ich auf Henry sitzen.« Denny schob Levis Handy über den Tisch zurück. »Also, der Kerl wollte von mir etwas, das ’n Wärmebildsystem überlisten kann. Henry trägt gerade das Ergebnis dieser Anfrage.«
Levi steckte das Handy ein und nahm den Anzug in Augenschein. Am Rücken wies er eine leichte Wölbung auf, die beinah wie ein dünner Rucksack anmutete. »Was ist das da am Rücken? Und würde sich das Material nicht letztlich durch die Körperwärme erwärmen?«
Denny stand schwungvoll von seinem Stuhl auf und betätigte einen Schalter an der Seite des Rucksacks. Von dem Anzug ging ein kaum wahrnehmbares Summen aus. »Das ist ’n dreilagiger Anzug, bei dem ein feinmaschiger Zirkulator jeden Quadratzentimeter bedeckt. Der Anzug besteht aus spezialbehandeltem, wasserfestem Cordura-Gewebe. Reißfest, verdammt widerstandsfähig und bei richtiger Schichtung das perfekte Medium für Umwälzung.«
»Aha.« Levi studierte den Anzug mit neuer Wertschätzung. »Versteh schon. Also ist das Ding am Rücken das Wasserreservoir mit einem Heiz- oder Kühlelement?«
»Genau. Na ja, eigentlich ist es kein Wasser, aber das Konzept hast du erfasst. Und es eignet sich sowohl für kalt als auch für warm. An die zwei Gewebelagen sind zwei separate Thermostate angeschlossen. Die Schicht nahe der Haut hält eine angenehme Temperatur aufrecht, während die Außenschicht auf die für das jeweilige Umfeld gewünschte Temperatur eingestellt werden kann. Im Bereich von minus fünf bis plus 50 Grad Celsius.«
»Wow, unter dem Gefrierpunkt? Wirklich?«
»Ich sag ja, es ist kein Wasser. Wie auch immer. Da der Kerl, der das Teil haben wollte, so bald nicht wiederkommt,
du ungefähr die richtige Größe hast und praktisch andauernd in schräge Situationen gerätst ... dachte ich mir, ich könnt’s vielleicht dir unterjubeln.«
Levi bedachte seinen Freund mit einem schiefen Blick. »Nur so als gutgemeinter Rat: ›Unterjubeln‹ ist ein Wort, auf das du lieber verzichten sollest, wenn du was verkaufen willst.«
Denny zuckte mit den Schultern. »Und? Interessiert?«
»Ich fürchte, dafür hab ich keine Verwendung. Aber ist schon verdammt cool.«
Denny seufzte. »Na ja. War ’nen Versuch wert. Komm mit.« Er bedeutete Levi, ihm zu folgen. »Ich hab deine neue Baseballmütze so hergerichtet, wie du sie haben wolltest.«
Levis Mütze lag neben Dennys Computer. Von allen Gerätschaften, die sich Denny hatte einfallen lassen, gehörte diese zu Levis Favoriten. Indem die Mütze schmale Lichtstrahlen im Infrarotspektrum aussandte und die Reflexionen überwachte, ließ sie ihn erkennen, wenn ihn jemand anstarrte. Das hatte ihm schon einmal das Leben gerettet.
Denny ergriff die Mütze. »Kein separater Akku mehr nötig. Die Technik entwickelt sich bei formbaren Lithium-Ionen-Akkus rasant weiter. Die gesamte Versorgung ist im Schirm und im Gerüst der Mütze versteckt. Funktioniert wie vorher und kann drahtlos aufgeladen werden.«
Er zeigte auf winzige, nahezu unsichtbare Löcher entlang des Rands der Mütze. »Das größere Problem hab ich auch behoben. Du hast gesagt, dass dich manche Überwachungskameras mit der Mütze schillernd wie ’nen Weihnachtsbaum erfassen, richtig? Das wird nicht mehr passieren. Ich hab die Wellenlänge des ausgestrahlten Lichts angepasst. Sie liegt außerhalb des Bereichs, in dem Überwachungsgeräte suchen würden.«
Er deutete auf einen dunkleren Fleck unter dem Schirm. »Und das ist ’n Druckschalter. Drückst du einmal drauf, startet
er eine Diagnoseroutine, die alle Fühler zum Kribbeln bringt. Drückst du ihn noch mal, schaltet sich die Routine ab.«
»Spitze.« Levi berührte die Innenseite der Mütze und betastete die winzigen Metallfühler, die aus dem Futter ragten.
»Ach ja, noch was zu ’nem ernsteren Thema. Das wirst du sehen wollen.« Denny setzte sich an seinen Computer und rief etwas auf, das wie ein Foto eines anderen Bildschirms aussah.
Levi nahm auf einem Stuhl neben ihm Platz. »Was ist das?«
»Das ist ’ne Kopie des kriminaltechnischen Berichts über den ausgebrannten Suburban. Weißt du noch? Ich hab dir ’ne Nachricht darüber geschickt. Jedenfalls hab ich mir den Bericht durchgelesen und dachte mir, dich könnte interessieren, dass ...«
»Wie zum Teufel hast du ... Egal.« Levi richtete die Aufmerksamkeit auf das qualitativ schlechte Foto eines fremden Computerbildschirms. Das Bild musste von einem der Kontakte stammen, die Denny in Geheimdienstkreisen hatte. Wahrscheinlich ein ehemaliger Kommilitone vom MIT.
Denny vergrößerte das Bild. »Anscheinend wurde der Wagen mit ’nem Brandbeschleuniger übergossen und angezündet. Also alles andere als ein Unfall. Bin mir nicht sicher, warum, aber das FBI wurde dazugeholt und hat ein paar latente Fingerabdrücke gefunden. Ach ja, und sieh dir das an.«
Levis Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf den Textabschnitt, den Denny markiert hatte.
IAFIS-Abfrage ergab einen gewissen Giancarlo Fiorucci. Bekannter Kontakt der Verbrecherfamilie Marino aus Virginia. Derzeitiger Wohnsitz: unbekannt.
»Hol mich der Teufel.« Levi erkannte, dass seine Suche eine
unerwartete Wendung erfahren hatte. Er rief eine der Kurzwahlnummern auf seinem Handy an und wartete. Das Telefon klingelte einmal ... zweimal ... dann drang ein starkes statisches Rauschen aus dem Lautsprecher. In Dennys Werkstatt war der Empfang fürchterlich.
»Hey, Levi.«
Frankies Stimme knisterte über die Leitung. »Vinnie will mit dir über die Costanza-Sache und darüber reden, wo du gewesen bist.«
»Perfekt. Bin eben erst zurückgekommen und muss auch mit ihm reden. Wann hat er Zeit?«
»Komm zum Abendessen. Bestimmt weißt du noch, dass morgen Michaels und Vanessas Geburtstag ist. Da schmeißt die Familie ’ne große Feier im Waldorf. Aber heute Abend sind wir unter uns.«
Levi zog sich innerlich alles zusammen, als ihm klar wurde, dass er für Vinnies Kinder nichts besorgt hatte.
»Hey, Frankie. Wie ist unsere Beziehung zur Marino-Familie in Virginia?«
»Die Marinos? Die Typen sind bloß ein Haufen Deppen, die sich mächtig was drauf einbilden, dass sie ein paar Politiker und Lobbyisten in Washington in der Tasche haben. Wir haben da drüben ’nen Cousin, der ist einer der Capos vom Boss. Warum fragst du?«
»Könnte sein, dass ich dahin Kontakte brauche. Reden wir nach dem Abendessen darüber.«
»Alles klar, Mann. Um fünf ist Vinnies Frau mit den Kindern von der Schule zurück. Falls du morgen nicht zur Party kommst, willst du dir vielleicht für heute Abend was Nettes überlegen, wenn du verstehst, was ich meine. Essen gibt’s um sechs.«
»Okay, Frankie. Bis dann.«
Levi legte auf und sah auf die Armbanduhr. Er musste noch etwas für die Kinder besorgen.
»Hey, Denny, nur so aus Neugier, steht in dem Bericht, wer die Spurensicherung vor Ort durchgeführt hat?«
»Moment.« Denny begann, die ihm geschickten Bilder zu durchsuchen. Levi wollte ihm schon sagen, es wäre nicht so
wichtig, als Denny lächelte und das auf dem Monitor angezeigte Bild vergrößerte. Ein kleiner Ausschnitt des Berichts füllte den Anzeigebereich aus.
Tatortanalyse durchgeführt von: Nick Anspach.
»Tja, dann ist er der Spur wohl tatsächlich für mich nachgegangen. Schätze, ich schulde dem Mann ein Bier.«