Wieder im Büro, stand Bruno nicht der Sinn nach Arbeit. Stattdessen suchte er nach einer Telefonnummer des 132e bataillon cynophile, des Heeres-Diensthunde-Ausbildungsbataillons. In dieser bei Suippes gelegenen Militäranlage waren vier Spezialeinheiten und das mit zweitausend Hunden weltweit größte Aufgebot seiner Art stationiert. Zwei Kompanien bildeten Wach- und Patrouillehunde aus, eine dritte arbeitete mit Hunden, die Minen und Sprengstoffe aufspüren sollten, eine vierte spezialisierte Hunde auf Drogenfahndung.
Bruno hatte solche Diensthunde in Bosnien bei der Arbeit gesehen, als er in einem Corps der US-Friedensmission diente. Er war sehr beeindruckt gewesen von der Art, wie sie und ihre Führer Militäranlagen bewachten, Sicherheitspatrouillen durchführten, Minenfelder absuchten und Verdächtige bewachten. Von alten Freunden hatte er gehört, dass immer mehr solcher Hunde zum Einsatz kamen, vor allem unter den NATO-Streitkräften in Afghanistan. Sie hatten sich auf Nachtpatrouillen, in der Gefangenenbewachung und bei der Suche nach Autobomben als unersetzlich erwiesen. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, Patrouillen und Konvois im Vorfeld abzusichern und IEDs, die von den Taliban verwendeten Straßenbomben, aufzuspüren.
Der Stützpunkt bei Suippes konnte dem wachsenden Bedarf an solchen speziell ausgebildeten Diensthunden kaum nachkommen, zumal sie auch an Flughäfen und Bahnhöfen zunehmend zum Einsatz kamen. Französische und britische Truppen folgten dem amerikanischen Beispiel und rüsteten ihre Hunde mit Kameras und Mikrofonen aus, um sie zum Beispiel nach Heckenschützen fahnden zu lassen. Die »alliierten Diensthunde« operierten so erfolgreich, dass die Taliban Jagd auf sie machten und mit eigenen Hunden zu bekämpfen versuchten. Um sie vor denen zu schützen, wurden ihnen Lederhalsbänder mit Metalldornen angelegt.
Bruno hatte davon gehört, dass die NATO-Streitkräfte in Afghanistan angehalten waren, die Rolle der Diensthunde den Medien gegenüber herunterzuspielen, da man negative Reaktionen seitens der Öffentlichkeit fürchten musste. Stattdessen fokussierten militärische PR-Teams die Aufmerksamkeit auf den Einsatz von Robotern und Drohnen. Dass sich die Truppen aber vor allem auf Hunde verließen, war für Bruno längst kein Geheimnis mehr. Staubstürme konnten ihnen ebenso wenig anhaben wie die kleinen, mit Kunststoff ummantelten Minen, die die Taliban um ihre IEDs legten, um Roboter auszuschalten. Bruno reagierte zwar ebenso sensibel wie andere auf die mutwillige Gefährdung von Tieren, hatte aber Verständnis dafür, dass der Schutz von Menschen Vorrang hatte. Immerhin wurden ausgemusterte Hunde vom französischen Militär nicht länger getötet; sie durften stattdessen mit ihren Führern in den Ruhestand gehen.
Als sein Anruf angenommen wurde, bat er darum, mit dem Büro des Adjutanten verbunden zu werden. Als altgedienter Soldat wusste er, dass, während Offiziere kamen und gingen, der unmittelbare Vorgesetzte eines Adjutanten immer die Person war, die in allen Belangen Bescheid wusste.
»Ja, ich erinnere mich. Sie sind der flic mit dem Basset«, antwortete jemand, nachdem sich Bruno vorgestellt hatte. »Ihr früherer Hund steht auf unserer Ehrenliste für Gefallene im Einsatz. Was kann ich für Sie tun?«
Bruno erklärte, dass, als ihm das bataillon einen Basset-Welpen hatte zukommen lassen, die Botschaft damit verbunden gewesen war, dass man Interesse an eventuellem Nachwuchs von ihm habe. Sein Hund sei jetzt alt genug, deshalb die Frage, ob dieses Interesse noch bestünde.
»Wir züchten hier keine Bassets, so leid mir das auch tut. Sie sind zu heikel. Ich habe Ihre Akte jetzt auf dem Bildschirm vor mir. Wie ich sehe, wurden Sie mit einem Croix de Guerre ausgezeichnet. Eine in Friedenszeiten sehr seltene Ehrung. Ihr Hund stammt aus einem Wurf von Jagdhunden, die in Cheverny gezogen wurden. Sie haben ihn Balzac genannt, stimmt’s?«
»Richtig. Was meinten Sie mit ›zu heikel‹?«
»Bassets brauchen manchmal ein bisschen Hilfe, damit’s passt. Deshalb sind die meisten Züchter dazu übergegangen, Inseminationen vorzunehmen. Ist auch wirtschaftlicher, da mit einem künstlichen Deckakt viele Schwangerschaften zu erzielen sind. Gute Zuchtrüden sind teuer. Wenn Sie wollen, gebe ich Ihnen die Telefonnummer des Hundemeisters von Cheverny durch. Mit dem könnten Sie dann sprechen. Halt, ich hätte da vielleicht noch eine bessere Idee.«
»Schießen Sie los.« Wenn ein sergent-chef eine bessere Idee anmeldete, lohnte es sich zuzuhören, wie Bruno wusste.
»Sie wohnen doch in der Dordogne, stimmt’s? Wir haben dort einen caporal-chef, eine großartige Frau mit großartigen Hunden. Nach zwanzig Dienstjahren ist sie in den Ruhestand getreten; das war übrigens zu der Zeit, als Ihr Vorgängerhund getötet wurde. Wenn ich mich recht erinnere, war sie auch diejenige, die veranlasst hat, Ihnen den Welpen zu schenken. Sie ist ein wahrer Fan von Bassets und züchtet sie jetzt auf eigene Faust, in einem Zwinger in der Nähe von Excideuil. Ihr Name ist Claire Mornier. Sie würde sich bestimmt freuen, von Ihnen zu hören. Grüßen Sie sie herzlich von Sergent-Chef Plarin, und sagen Sie ihr, dass wir alle sie hier vermissen, nicht zuletzt auch ihre Hunde. Lassen Sie mich wissen, was Sie miteinander verabredet haben.«
»Versprochen«, sagte Bruno. »Übrigens, warum bilden Sie in Suippes eigentlich keine Bassets aus? Sie sind hervorragende Spürhunde.«
»Mir müssen Sie das nicht sagen«, erwiderte Plarin. »Ich habe sie selbst auf Sprengstoffe und Drogen angesetzt und mich auch auf Fährtensuche mit ihnen begeben. Das Problem ist, sie sind zu beliebt, zu freundlich für unsere Art von Arbeit. An Flughäfen oder Bahnhöfen kommen Kinder auf sie zugelaufen. Bei Schäferhunden ist das anders. Manche Soldaten lehnen Bassets ab, weil sie nicht bedrohlich wirken.«
»Aber Bassets jagen Wildschweine und Füchse«, entgegnete Bruno. »Sie sind mutig und lassen nicht locker.«
»Ich weiß, ich weiß. Claire sagte das auch immer. Aber so ist es nun mal. Sie waren lange genug in der Armee, um Bescheid zu wissen. Ich schicke Ihnen Claires Nummer per SMS zu.«
Bruno bedankte sich, legte den Hörer auf, lehnte sich zurück und schüttelte den Kopf über die Marotten des Militärs und darüber, wie viel Wert so manche Soldaten auf ein martialisches Äußeres legten. Er verstand, dass ein Basset dazu nicht recht passte. Aber das war ein Fehler. Wer schon einmal mit Bassets auf die Jagd gegangen war, wusste, dass sie neben Schweißhunden die beste Nase überhaupt hatten. Ihre langen, hängenden Ohren waren bestens geeignet, die an Gräsern haftenden Düfte in Bewegung zu bringen. Gigi, Balzacs Vorgänger, hatte einmal einen Einbrecher identifiziert und gestellt, nur anhand eines verschmierten Fingerabdrucks, den dieser einen Monat vorher auf einer Fensterscheibe hinterlassen hatte. Neugierig geworden, wie so etwas gehen konnte, hatte sich Bruno kundig gemacht und erfahren, dass, während Menschen nur über rund 20 Millionen Geruchszellen verfügen, Hunde mit mehr als 250 Millionen, Bassets sogar mit bis zu 300 Millionen ausgestattet sind.
Und erstaunlich war, wie er wusste, nicht nur ihr Geruchssinn. Das menschliche Ohr nimmt akustische Signale in einem Frequenzbereich zwischen 20 und 20000 Hertz wahr, Bassets dagegen erlauschen noch Schwingungen im Ultraschallbereich von bis zu 70 Kilohertz. Es kam vor, dass Balzac mitten in der Nacht anschlug und Bruno weckte, wenn ein Fuchs auf den Hühnerstall zuschlich. Bruno lächelte in Gedanken, worauf sich Balzac in geradezu telepathischer Reaktion erhob, sich gähnend reckte und dann Brunos Bein beschnupperte. Vielleicht hatte ihn auch nur etwas gejuckt, doch das glaubte Bruno nicht. Er bückte sich, streichelte dem Hund über den Kopf und tätschelte seine Flanke.
Bruno fragte sich, ob sich etwas an ihrer engen Beziehung ändern würde, wenn er Balzac als Deckrüden einsetzte. Ob er ein besonderes Verhältnis zu seiner Partnerin oder zu den gemeinsamen Welpen einginge? Bruno hatte keine Ahnung. Seltsam, dachte er, wie wenig man letztlich über diese doch gänzlich anderen Lebewesen wusste, mit denen Menschen seit 30000 Jahren zusammenlebten.
Er hatte seinen Hund auf herkömmliche Weise erzogen, mit Belohnung und Leckereien, wenn er das Richtige tat. Geschlagen hatte er Balzac nie. Wenn er ihn daran hindern wollte, angesichts einer vertrauten Person in überschwenglicher Freude an Beinen hochzuspringen, hob Bruno nur die nach außen gewendete Hand, runzelte die Stirn und sagte »Non«. Häufig genug aber machte Balzacs fröhliches Temperament einen Strich durch die gute Erziehung.
»Wie wär’s für dich, wenn du eine Basset-Dame kennenlernen und mit ihr Kinder bekommen würdest?«, fragte er seinen Hund. Balzac blickte zu ihm auf und versuchte, seinen Tonfall zu deuten. Bruno kraulte ihn liebevoll. »Könntest du dir vorstellen, Vater zu werden?«
»Sie glauben doch nicht etwa, dass er Sie versteht?«, meldete sich eine Stimme im Hintergrund. Bruno hatte nicht bemerkt, dass der Bürgermeister im Türrahmen stand. Balzacs Vorgänger Gigi war ein Sohn von Mangins Basset gewesen, den dieser nach Montaigne, dem Philosophen und berühmtesten Sohn des Périgord aus dem 16. Jahrhundert, benannt hatte. Bruno konnte sich noch gut daran erinnern, wie Gigi in Mangins Garten vor dem Grab des alten Hundes gestanden und der Bürgermeister behauptet hatte, er könne dessen Überreste wittern. Bruno hatte das damals nicht glauben können, aber dem Bürgermeister auch nicht widersprechen wollen.
»Ich überlege, ihm zu Nachwuchs zu verhelfen«, erklärte Bruno.
»Schön zu hören. Es wird auch Zeit«, erwiderte der Bürgermeister. »Sein Stammbaum ist so speziell, dass er weiter ausschlagen sollte. Anderes Thema – haben Sie was Neues von Macrae erfahren?«
»Er hofft, drei Millionen für sein Anwesen zu bekommen, aber die Maklerin meint, dass er sich glücklich schätzen könne, wenn ihm zweieinhalb dafür geboten würden. Seine Kinder wollen ein Standbein in der Gegend haben, weshalb er das Häuschen am Weinberg für sie einzurichten plant. Und er macht wieder Musik, schreibt Songs und studiert Duette mit seinem Sohn ein. Er hat mir eine CD mit neuen Aufnahmen gegeben. Ziemlich gut. Vielleicht versucht er ein Comeback auf einem unserer Konzerte.«
»Gut. Halten Sie mich auf dem Laufenden«, sagte der Bürgermeister. »Und sehen Sie zu, dass Balzac eine passende Partnerin findet. Er verdient die beste Wahl«, fügte er hinzu und verabschiedete sich.
Einem Impuls folgend, wandte sich Bruno dem Computer zu und googelte »Welpen von reinrassigen Bassets«. Er staunte nicht schlecht, als ihm Preise von bis zu fünfzehnhundert Euro ins Auge sprangen. Das war fast so viel wie sein Monatssalär. In Saint-Denis konnte man für eine solche Summe ein ganzes Haus drei bis vier Monate lang mieten. Aber würde er Welpen an Fremde verkaufen wollen? Balzac hätte womöglich keinerlei Kontakt zu ihnen. Dann dachte er an Miranda, Pamelas Geschäftspartnerin; sie hatte zwei Söhne, die ganz wild auf Balzac waren. Gleiches galt für Florence’ Kinder. Sie würden allzu gern ihren eigenen Hund haben.
Er griff zum Hörer und wählte die Nummer von Claire Mornier. Als sie seinen Anruf entgegennahm, übermittelte er ihr die Grüße von Sergent Plarin, stellte sich vor und dankte ihr für ihren Beitrag an Balzacs Schenkung.
»Chef de police Bruno Courrèges«, sagte sie. »Es freut mich, dass Sie anrufen. Wie geht es Balzac? Ich habe in der Sud Ouest gelesen, dass er diesen irischen Terroristen gestellt hat. Er sah herrlich aus auf dem Foto.«
»Balzac geht es ausgezeichnet. Er sitzt hier neben mir.« Dass er seinen Namen hörte, veranlasste ihn, kurz aufzubellen; dann legte er seine Schnauze auf Brunos Fuß. »Als ich ihn bekam, wurde mir mitgeteilt, dass das Bataillon von Suippes gern Nachwuchs von ihm hätte, wenn es so weit ist.«
»Die Nachricht war von mir«, sagte sie. »Ich stand kurz vor der Pensionierung und hatte mir vorgenommen, Bassets zu züchten. Balzac hat ja einen ganz vorzüglichen Stammbaum mit Ablegern von der Stonewall-Farm. Entfernte Vorfahren waren die Bassets, die George Washington vom Marquis de La Fayette geschenkt bekommen hat, als dieser nach Amerika gekommen war, um sich dessen Kampf gegen England anzuschließen.«
»Finden Sie, dass Balzac jetzt alt genug für Nachwuchs ist?«
»Allerdings, mit fast zwei Jahren ist er im besten Alter. In einem Jahr könnte es schon fast zu spät sein, dann wissen Rüden manchmal nicht mehr, was zu tun ist. Ich habe eine prächtige braun-weiße Hündin. Carla, wie die Frau unseres Expräsidenten, weil ich ein Fan ihrer Musik bin – nicht so sehr von ihrem Mann. Vom Züchter hat sie den Namen Diane de Poitiers. Übrigens gefällt ihr Carla Brunis Musik genauso gut wie mir. Ich glaube, sie hat was Beruhigendes. Rock ’n’ Roll oder pompöse Klassik kommt für uns nicht in Frage.«
»Balzac hört auch gern Musik. Ihm gefällt es sogar, wenn ich singe. Wenn wir Auto fahren, stimmt er manchmal heulend mit ein.«
»Es scheint, dass unsere Hunde füreinander bestimmt sind. Carla ist ein bisschen älter als Balzac. Vor kurzem ist sie zum dritten Mal heiß geworden.«
»Was verabreden wir jetzt miteinander?«
Claire erklärte, dass Carla noch drei Wochen heiß sein würde. Der Tag elf sei für einen Deckversuch am geeignetsten. Danach sollten die beiden noch für ein paar Tage zusammenbleiben. In einem Monat würde man schon die Herztöne der Welpen mit einem Stethoskop hören können. Die Schwangerschaft dauere normalerweise zwei Monate.
»Wenn Sie auf Deckgebühren verzichten«, fuhr sie fort, »dürfen Sie sich aus dem Wurf einen Welpen aussuchen, sogar zwei, wenn’s über sieben sein sollten. Falls es nicht zur Befruchtung kommt, würde ich vorschlagen, dass Sie mit Balzac zu einem Tierarzt gehen. Wir könnten es dann in einem halben Jahr noch mal versuchen.«
»Einverstanden. Geld brauche ich nicht. Da komme ich also zu Ihnen. Wann genau?«
»Ich werfe mal eben einen Blick auf den Kalender … Ja, der nächste Sonntag wäre perfekt. Sie können sich doch hoffentlich einen Tag freinehmen, oder? Bringen Sie Balzac schon Samstagnachmittag zu mir, damit er sich an die Umgebung gewöhnen kann. Für Sie hätte ich ein Gästeschlafzimmer mit Doppelbett und eigenem Bad. Sie können also auch jemanden mitbringen. Wir würden zusammen meine Hunde füttern und sie mit Balzac bekannt machen. Dann gönnen wir uns einen p’tit apéro, und ich koche uns ein Abendessen. Balzac wiederzusehen wird mir eine große Freude sein. Ich sehe ihn immer noch als Welpen, bin mir aber natürlich im Klaren darüber, dass er inzwischen voll ausgewachsen ist. Er war ein so süßer kleiner Kerl, immer freundlich und neugierig. Ich bin froh, dass er an Sie geraten ist.«
»Ich bringe eine Flasche Wein und etwas von unserer foie gras mit, vielleicht ein paar Eier von meinen Hühnern und Salat aus dem Garten«, sagte er, von ihrer herzlichen Art gerührt.
»Das wird ein Fest.«
Bruno legte auf und freute sich auf Balzacs bevorstehendes Rendezvous und auf Claire. Sie liebte Hunde offenbar und schien viel über sie zu wissen. Er warf einen Blick auf die Uhr. Da er Montagabend an der Reihe war, das Freundesdiner auszurichten, musste er rechtzeitig mit den Vorbereitungen beginnen.