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Bruno dachte schnell nach. Er sollte versuchen, dem Versicherungsagenten zu folgen, um herauszufinden, wo er wohnte. Er könnte ihm entgegentreten und ein paar Fragen zu Lara Saatchi stellen. Aber das zwischen dem Baron und Constant verabredete Treffen in Les Eyzies, der nur fünfzehn Fahrminuten von Saint-Denis entfernten Ortschaft, brachte ihn auf eine andere Idee. Er rief Juliette an, seine für den Nachbarbezirk zuständige Kollegin, und bat sie, Zivil anzulegen, vor Les Glycines nach Constant Ausschau zu halten und ihm gegebenenfalls auf dem Motorrad zu folgen. Den Baron würde sie ja wohl wiedererkennen, sie dürf‌te also den Versicherungsmann in dessen Begleitung problemlos ausmachen. Und sie möge bitte das Nummernschild seines Wagens notieren, fügte Bruno hinzu. Juliette war formell seine Untergebene; er hätte ihr auch Order geben können, scheute sich aber, ohne Not seinen höheren Dienstgrad herauszukehren. Wie er Juliette kannte, freute sie sich über die Gelegenheit, nicht bloß Routinearbeit leisten zu müssen.

»Ich habe bei dem Küchenchef einen Stein im Brett. Er wird mir vielleicht Constants Kreditkartennummer verraten«, sagte sie eifrig. »Ist das der Kerl, der die Schafe im Stich gelassen hat?«

»Genau. Und er scheint noch viel mehr Dreck am Stecken zu haben«, antwortete Bruno. »Ich komme mit meinem Land Rover und in Uniform, halte aber Abstand. Er soll nicht wissen, dass er unter Beobachtung steht. Wir können uns über Handy verständigen.«

Als Nächstes rief er Jean-Jaques an, um ihm zu sagen, dass der Gesuchte gesehen worden sei. Ob er ihn einfach nur beobachten solle? Oder in Gewahrsam nehmen und ihn verhören?

»Was sagt der Brigadier?«

»Er will, dass ich Constant und Sarrail unter Druck setze und mich in der Nähe von Stichkins Tochter aufhalte. Ich werde mit ihr zu Mittag essen. Soeben habe ich erfahren, dass Constant hier in der Nähe verabredet ist, und eine Kollegin auf ihn angesetzt.«

»Ich werde mich an meine vorgesetzte Stelle wenden und Ihnen dann mitteilen, was zu tun ist. Es eilt ja offenbar nicht, wenn Sie Zeit haben, mit einer jungen Frau essen zu gehen. Was steht denn auf dem Speisezettel?«

»Ivans Tagesgericht. Blanquette de veau

»Sie machen mich neidisch. Ich kann von Glück reden, wenn ich ein Schinken-Käse-Baguette in der Kantine bekomme.«

»Aber ich werde auf das Tagesgericht verzichten. Seit Ivan eine neue Freundin hat, gibt’s immer auch ein Alternativmenü. Sie sollten vorbeikommen und es probieren.«

Die kulinarische Erziehung von Saint-Denis war von einer Belgierin initiiert worden, die Ivan auf einer Urlaubsreise kennengelernt und mitgebracht hatte. Ihr verdankte Saint-Denis ein paar glückliche Monate köstlicher Muschelgerichte, die sie auf unterschiedliche Weise zubereitet hatte. Dann lernte Ivan eine spanische señorita kennen, die Ivans Speisekarte um Paella und cochinillo asado ergänzte, ein komplettes Spanferkel auf dem Grill geröstet. Bruno erinnerte sich auch gern an die deutsche oder österreichische Freundin Ivans, die perfekte Wiener Schnitzel briet. Mandy, eine junge Australierin, die sich mit thailändischer und malaysischer Küche auskannte, hatte sich mit Pamela angefreundet und in deren Kochschule mitunter demonstriert, was ihr in den Weinkursen in Bordeaux beigebracht worden war. Die aktuelle Küchenchefin, die mit Ivan Bett und Herd teilte, war zufällig im Tal der Vézère aufgekreuzt, eines Mittags in Ivans Lokal eingekehrt, zum Abendessen wiedergekommen und kurz entschlossen bei ihm eingezogen.

Ihr Name war Miko; sie kam aus Osaka in Japan, wo sie Englisch und Französisch an einer Highschool unterrichtete. Mit einem von der französischen Regierung vergebenen Eif‌fel-Stipendium promovierte sie nun am Institut für Kulturwissenschaften der Universität von Bordeaux. Die Osterferien hatte sie im Périgord verbracht und, für das Sommersemester nach Bordeaux zurückgekehrt, ihrem Professor mitgeteilt, eine einzigartige Gelegenheit nutzen zu wollen, um die französische cuisine zu studieren – was sie zwingend damit begründete, dass ein tieferes Verständnis der französischen Kultur unmöglich sei ohne eine gründliche Wertschätzung ihrer Küche. Vielleicht kam ihr auch zugute, dass der Professor aus Bergerac stammte und nicht davon überzeugt werden musste, dass das Périgord die wahre Heimat der französischen Kochkunst war. Bis zum September wieder in Ivans Lokal und von seinen Kunden dazu gedrängt, servierte Miko ihnen nun Tag für Tag ein japanisches Gericht.

Bruno hatte während eines Paris-Aufenthaltes japanisches Essen probiert, war aber nicht besonders beeindruckt davon gewesen. Er fand die Miso-Suppe ein bisschen fad und meinte, dass es sehr viel interessantere Zubereitungen für Fisch gab, als ihn roh zu essen. Auf Mikos Empfehlung hin hatte er sich aber dann ihr shogayaki vorsetzen lassen, ein dünn geschnittenes Schweineschnitzel mit einer Soße aus Knoblauch, Ingwer und mirin, einem süßlichen Reiswein. Ebenso gut schmeckte ihm der in Silberfolie gedämpf‌te Lachs, wozu sie eine Würzsoße mit dem Namen ponzu servierte, zubereitet aus Sojasoße, Zitronen, Orangensaft und mirin. Dazu gab es katsuobushi – getrocknete Thunfischflocken – und kombu – Streifen einer getrockneten Seetang-Art.

Für Bruno, der die klassische Küche des Périgord über alles liebte, war es geradezu ein Wagnis, solche exotischen Gerichte zu probieren. Ohne Ivans Liebschaften hätte er wahrscheinlich nie etwas anderes kennengelernt als gelegentliche italienische Kost und Pamelas überraschend leckere englische Gerichte wie ihr steak and kidney pie oder das üppige schottische Frühstück aus Eiern, Speck, black pudding, gegrillten Tomaten, Champignons und Kartoffelküchlein.

Er ging in Ivans Bistro und sah, dass Rod einen Platz für ihn reserviert hatte. Miko stand mit einem Schreibblock am Tisch, um die Bestellungen entgegenzunehmen. Statt sich zu verbeugen, bot sie nun die Wange zur Begrüßung. Sie war über einen Kopf kleiner als Bruno, schlank und lässig. Heute trug sie eine hellblaue Strumpfhose, einen kurzen rosafarbenen Tellerrock, der ihrer gegenwärtigen Haarfarbe entsprach, und einen Rollkragenpullover, auf dem in Frakturschrift Hells Angels geschrieben stand. Das sei, sagte sie, in Tokio topaktuell. Bruno grinste bei ihrem Anblick.

»Können Sie uns ein Tagesgericht empfehlen, Miko?«, fragte er.

»Eine Suppe aus Garnelen-Tempura mit Udon-Nudeln und Gurken, gekocht in einem kombu-Fond. Sie wird Ihnen schmecken. Für Sie würde ich extra einen Löffel Crème fraîche beigeben.«

»Sehr lecker, Bruno«, rief Roberte von einem Tisch in der Nähe der Tür. Sie war in der mairie verantwortlich für den Sozialdienst und saß mit Sylvie am Tisch, die die chemische Reinigung leitete.

»Dann hätte ich die gern«, beschloss er und setzte sich zu Rod. Jamie und Galina änderten ihre Bestellung und wollten auch die Suppe haben. Sascha ebenfalls.

»Für mich auch. Also fünfmal die Suppe, bitte«, sagte Rod, und zu Bruno: »Wir hatten uns, als Sie kamen, schon für das Kalbsgericht entschieden. Es wird doch hoffentlich kein Problem sein, das rückgängig zu machen, oder?«

Bruno ging zur Küchendurchreiche und sorgte für Klarheit.

»Japanisches Essen im Périgord – was für eine Überraschung!«, wunderte sich Galina.

Bruno erklärte, was es mit Ivans Inspirationen auf sich hatte. Jamie erinnerte sich, bei seinem letzten Bistrobesuch von einer Spanierin ein himmlisches Dessert serviert bekommen zu haben.

»Leche frita«, präzisierte Rod. »Ja, das werde ich auch nie vergessen. Sehr gut war auch das Wiener Schnitzel, so dünn geklopft, dass es eigentlich nicht mehr auf den Teller passte. Und der Wein, den es dazu gab, was war das noch für einer, Bruno?«

»Grüner Veltliner. Hubert hat immer noch einen Vorrat davon in seiner cave

»Wir sollten Ivan nach Kiew schicken«, meinte Galina und wandte sich mit strahlendem Gesicht an Jamie. »Da findet er bestimmt eine Frau, die Borschtsch und gribi v smetane kochen kann, das sind gebackene Pilze mit Sauerrahmsoße.«

»Kannst du sie zubereiten?«, fragte Jamie.

»Ja. Es ist allerdings ein typisches Wintergericht. Wenn du mich kommenden Winter noch liebst, bekommst du’s von mir.«

»Ich habe vor, dich noch viel länger zu lieben«, erwiderte Jamie.

Galina fuhr ihm zärtlich mit der Hand übers Gesicht, worauf Jamies Vater Bruno einen Blick zuwarf und die Stirn runzelte. Bruno lächelte ihm aufmunternd zu. Es war kein Geheimnis mehr, dass die beiden einander liebten, und wer sie wie Bruno zusammen musizieren gesehen hatte, musste von der Attraktion zwischen ihnen tief beeindruckt gewesen sein. Selbst Sascha wirkte nicht überrascht.

Die Gurkensuppe war vorzüglich. Anschließend schenkte Miko in fünf kleinen Porzellantassen grünen Tee aus, der herrlich duftete. Ivan folgte ihr mit einer Karaffe seines weißen Hausweins und fünf Gläsern. Er stellte sie ab, gab allen am Tisch die Hand, hieß Galina und Sascha als neue Gäste willkommen und Rod und Jamie als alte Freunde. Der Weißwein sei von der städtischen Winzerei, erklärte er, und passe sehr gut zu Mikos Essen.

»Lasst es euch schmecken«, sagte er und kehrte in die Küche zurück, aus der nun Miko mit vier Tellern auf einem Arm und einem fünf‌ten in der anderen Hand herauskam. Auf jedem befanden sich drei Riesengarnelen in einem dünnen, knusprigen Teigmantel. Dazu reichte sie eine Schale mit dampfenden Udon-Nudeln und eine kleinere mit einer hellbraunen Soße, in die die Garnelen gedippt werden sollten.

»Bon appétit«, sagte sie und räumte die Suppenschalen ab.

Bruno nahm eine seiner Garnelen beim Schwanz, tauchte sie kurz in die Soße und probierte einen Bissen. Die anderen taten es ihm gleich, zeigten sich angetan und aßen schweigend mit Genuss. Zu hören waren nur ab und an Laute schwelgerischer Zustimmung und das Schlürfen von Wein.

»Wie schade, dass Sie das Château Rock verkaufen«, sagte Galina leise zu Rod, als sie ihren Teller geleert hatte. »Jamie und Kirsty finden es auch schade. Sie wahrscheinlich auch. Ist es nur Ihre Frau, der es nicht leidtut?«

»Tja, ihr tut es auch leid, aber sie möchte in England einen neuen Lebensabschnitt beginnen und als Lehrerin arbeiten«, erwiderte Rod. »Sie will ein eigenes Haus beziehen, und um das finanzieren zu können, müssen wir das Château verkaufen. Vielleicht ist es besser so. Ein so großes Anwesen instand zu halten ist schrecklich viel Arbeit. Und jetzt, da Jamie und Kirsty erwachsen sind, hat sie noch die Möglichkeit, neu anzufangen, was wahrhaftig verlockender ist als die Aussicht darauf, einen alten Mann zu pflegen.«

»Sie könnten mit Ihrer neuen Musik wieder groß rauskommen und mit dem Geld, das Sie einnehmen, auch das neue Leben Ihrer Frau mitfinanzieren«, entgegnete Galina. »Jamie hat mich ein paar Ihrer aktuellen Stücke hören lassen. Ich finde sie ganz toll. Sie werden bestimmt Erfolg haben.«

»Die laufenden Kosten für das Château blieben, und allein kann ich die anfallende Hausarbeit nicht stemmen, selbst wenn ich noch jünger wäre. Weil Jamie und Kirsty immer wieder gern hierher zurückkommen, werden sie die cabane nebenan beziehen, aber nicht mehr im Schloss wohnen.«

»Sie könnten doch eine Haushälterin und einen Gärtner anstellen, einen Teil des Châteaus oder auch das ganze Haus vermieten und die cabane für sich nutzen«, meinte Galina entschieden. »Wäre doch besser, als von hier wegzuziehen, wo Sie Wurzeln geschlagen und Freunde gefunden haben. Wohin würden Sie gehen? Allein zurück nach Schottland? Ich finde, Sie sollten sich das Ganze noch einmal durch den Kopf gehen lassen, Mr Macrae. Es gibt bestimmt eine andere Lösung. Ich könnte mir vorstellen, dass sich das Schloss auch in den Sommermonaten an Musiker vermieten ließe. Es gibt viele, die in der Umgebung auf Festivals auftreten. Dann könnten Sie nicht nur Ihre, sondern auch deren Musik in Ihrem Studio aufnehmen.«

»Meinen Sie wirklich?«, fragte Rod sichtlich interessiert.

»Drei von Ihnen würden Château Rock gern halten – Sie, Jamie und Kirsty«, fuhr Galina fort. »Dass eine Person drei überstimmt, davon habe ich noch nie gehört.«

Es wurde eine Weile still. Galina musterte Rod mit herausforderndem Blick, bis sich Jamie und Bruno gleichzeitig zu Wort meldeten. »Ich glaube nicht, dass wir jetzt …«, sagte Jamie, während Bruno sich zu verabschieden versuchte.

Er stand auf, legte fünfzehn Euro auf den Tisch und verbeugte sich vor Miko, als sie das Geld abholte. Er winkte Ivan zu, ging hinaus zu seinem Polizeitransporter und machte sich auf den Heimweg. Er wollte versuchen, sich auf seine Begegnung mit Constant zu konzentrieren. Die Szene mit Galina aber lenkte ihn ab, insbesondere ihre Bemerkung, dass sie hierhergehöre und bleiben wolle. Dachte sie schon an Ehe oder nur an einen dauerhaften Wohnsitz? Wie Jamie war sie erst Anfang zwanzig, was Bruno etwas jung für eine feste Bindung fand.

Zu Hause zog er seine Uniformjacke aus, legte sie mit dem képi auf die Rückbank des Land Rover und vergewisserte sich, dass der Feldstecher in seinem Futteral steckte. War es wirklich nur ein Jahr her, dass Balzac, noch ein Welpe, dort hineingepasst hatte, wenn er mit ihm ausgeritten war? Er streif‌te seine rote Windjacke über, um nicht als Polizist aufzufallen, und rief Juliette an.

»Ich stehe jetzt vor Les Glycines, bin in Zivil und habe einen zweiten Helm dabei«, meldete sie merklich aufgeregt. »Der Baron hat sich noch nicht blicken lassen, aber im Gastraum sitzt ein Mann um die dreißig allein an einem Tisch und blättert durch einen Stoß Papiere. Ich glaube, er könnte es sein.«

»Gut, Juliette. Bleib in Deckung«, sagte er und schlug die Nebenstrecke über Saint-Cirq ein, vorbei an dem Campingplatz zu einer Stelle, wo er unbemerkt parken und trotzdem Les Glycines ins Auge fassen konnte. Kurz nach zwei sah er den altehrwürdigen Citroën DS des Barons vor der Eisenbahnstation auf‌tauchen und in der Nähe des Hotels halten. Eine schlanke Gestalt mit Sturzhelm kam aus einem Seiteneingang und verschwand. Das musste Juliette gewesen sein.