Nach einem gemeinsamen Abendessen und einer zweiten erfolgreichen Begegnung zwischen Balzac und Diane de Poitiers war Bruno am Telefon. Er kritzelte etwas auf einen Notizzettel, als Isabelle aus der Dusche kam. Sie trug einen Morgenmantel und hatte ein Handtuch um den Kopf gewickelt. Ihr Gesicht und die Augen leuchteten, und Bruno hatte plötzlich das Bild einer jungen Frau auf einer Kostümparty vor Augen. Er murmelte ein paar Worte des Dankes, beendete den Anruf und genoss den Anblick Isabelles.
»Ich habe etwas für dich«, sagte er. »Meghans persönliche Daten. Ich musste daran denken, dass sie mir erzählt hatte, im letzten Jahr wegen Geschwindigkeitsüberschreitung erwischt worden zu sein, als sie zum Flughafen von Bergerac gefahren ist, um ihre Kinder abzuholen. Jean-Jacques hat in der Bußgelddatei eine Kopie ihres französischen Führerscheins ausfindig gemacht. Darauf steht, wann und wo sie geboren wurde, nämlich im schottischen Glasgow. Mit diesen Daten können deine britischen Kollegen den Namen ihrer Großmutter ermitteln.«
»Merde«, erwiderte sie. »Wir haben Samstagabend.«
Sie holte ihr Handy hervor, scrollte durch die Kontakte und rief an. Bruno hörte eine englischsprechende Männerstimme. Isabelle entschuldigte sich für die späte Störung, sagte, es sei dringend, und nannte die Details.
»Dieser Ukrainer, den du erwähnt hast …«, sagte Bruno, nachdem sie ihr Handy wieder weggesteckt hatte. »Glaubst du, er könnte helfen, wenn du versuchst, der Großmutter auf die Spur zu kommen?«
»Wie soll das möglich sein? Sie war ein junges Mädchen, als sie für die deutschen Besatzer arbeiten musste, in einem Krieg, dem Millionen von Ukrainern zum Opfer gefallen sind, nicht nur Juden. Weiß der Himmel, was es noch an Unterlagen aus dieser Zeit gibt.«
»Die Familie, für die sie gearbeitet hat, soll sie mit nach Deutschland genommen haben. Anscheinend hat man sie gerngehabt und beschützt. Wer waren diese Leute? Woher kamen sie? Sie werden besseren Kreisen angehört haben und wahrscheinlich 1944 geflohen sein, als die Rote Armee Polen überrannt hat. Wo und wann hat sie diesen schottischen Soldaten kennengelernt? In Berlin oder sonstwo? Das wird aus der Heiratsurkunde und britischen Militärarchiven zu erfahren sein.«
»Ich glaube nicht, dass es sinnvoll ist, einer ukrainischen Großmutter nachzuspüren.«
»Viele Ukrainer, die Stalin verachtet haben, waren mehr als nur Mitläufer der Deutschen. Sie haben am Betrieb der Konzentrationslager mitgewirkt, an Massenermordungen teilgenommen und in vielen Fällen auch freiwillig aufseiten der Deutschen gekämpft. Es gab sogar eine Art Marionettenregierung unter der Fuchtel der Nazis. Ein Mädchen, das von einer deutschen Familie gewissermaßen adoptiert und mit nach Deutschland genommen wurde, wird in der Folgezeit wahrscheinlich gute Verbindungen unterhalten und als deutschfreundlich gegolten haben. Noch Jahre nach dem Krieg leisteten viele Ukrainer Widerstand gegen die Sowjets. Ich erinnere mich, von einem führenden Widerständler gelesen zu haben – ich glaube, er hieß Bandera –, der Ende der fünfziger Jahre vom KGB mit Blausäure getötet wurde, abgefeuert aus einer Gaspistole. So wurden damals viele Gegner liquidiert.«
»Du holst ziemlich weit aus«, sagte sie nachdenklich. »Was soll das bringen?«
»Es war Meghan, die Nathalie engagiert hat, die Immobilienmaklerin, deren Bruder bei den Demonstrationen auf dem Majdan in Kiew erschossen wurde. Vielleicht ist das nur ein Zufall, aber warum hat sich Meghan keinen Immobilienmakler hier aus der Gegend ausgesucht? Und wie gerät sie ausgerechnet an jemanden mit ukrainischen Wurzeln und einem Märtyrer als Bruder?«
»Solange Scotland Yard nicht zurückruft, können wir nicht viel tun.«
»O doch.« Er holte sein Notizbuch hervor, blätterte darin herum und fand die Karte mit der Nummer von Nathalies Drohnenlizenz. »Die zivile Luftfahrtbehörde müsste selbst um diese Uhrzeit zu erreichen sein. Ruf an, und lass die Lizenz überprüfen. Darin sind bestimmt ihre Personaldaten eingetragen. Damit ließen sich ihre Eltern finden. Nathalies Vater war Franzose. Wo und wie hat er ihre Mutter kennengelernt? Woher stammt die Mutter? Hat sie einen französischen Pass? Wurde sie eventuell eingebürgert? Wie kommt sie mit dem Tod ihres Sohnes zurecht? Was wissen wir über ihn? Wann ist er in die Ukraine zurückgekehrt?«
Isabelle setzte sich ans Fußende des Bettes, rief den diensthabenden Offizier im Innenministerium an, stellte sich vor und erklärte, worum es ging.
Sie schaute zu Bruno auf. »Soll ich Lannes anrufen, oder tust du das?«
»Besser du«, antwortete er. »Ich weiß nicht, inwieweit ich mit dieser Ukraine-Geschichte überhaupt vertraut sein darf. Der Brigadier lässt mich im Unklaren, obwohl er weiß, dass und warum wir dieses Wochenende gemeinsam verbringen. Er hat sogar Balzac seine besten Wünsche durch mich übermitteln lassen.«
»Er glaubt wohl immer noch, dass ich dich dazu bringen kann, mich zu heiraten und mit mir nach Paris zu kommen, damit du für ihn arbeitest«, sagte sie fast beiläufig.
Er starrte sie an. »Das würdest du wollen?«
Fast ein bisschen trotzig erwiderte sie seinen Blick. »Ja, aber nicht für ihn. Für mich, für uns.«
»Aber das hatten wir doch schon«, erwiderte er. »In Paris wäre ich nicht der Mann, den du hier antriffst. Da gibt es kein Pferd, keine Hühner, und ein winziges Appartement in Paris würde ich Balzac nicht zumuten wollen. Und stell dir vor, wir bekämen Kinder. Wie könntest du das mit deinem Beruf vereinbaren?«
»Merde, Bruno. Es läuft immer wieder auf dasselbe hinaus. Angenommen, ich würde ins Périgord zurückkehren und Jean-Jacques’ Nachfolge antreten – wozu es nicht käme, wenn ich schwanger werden würde. Ich würde verkümmern und dir die Schuld daran geben, dass ich meine Karriere aufgegeben habe.«
Er nickte, warf dann die Arme in die Höhe und lachte. »Ich liebe dich, aber nüchtern betrachtet, sind wir chancenlos.«
Auch sie lachte und schüttelte den Kopf. »Ich liebe dich, aber wir haben keine Zukunft.«
»Aber die Gegenwart«, sagte er und löste den Gürtel ihres Morgenmantels.
Am nächsten Morgen wurden sie von einem Klopfen an der Tür geweckt. Claire rief sie zum Frühstück. Bruno warf einen Blick auf seine Uhr: halb acht. »Wir kommen«, rief er zurück. Sie duschten und zogen sich schnell an. Vor dem Spiegel fuhr Isabelle mit den Fingern durch ihre kurzen Haare. Balzac musste kurz nach draußen gelassen werden. Im letzten Augenblick fiel Bruno ein, dass er den Hund besser an die Leine nahm. In der Küche hatte Claire heißen Kaffee, warmes Brot und Croissants sowie eiskalten Orangensaft für sie bereitgestellt.
»Waren Sie schon extra für uns einkaufen?«, fragte er. »Sehr freundlich von Ihnen.«
Claire schüttelte den Kopf. »Ich wechsle mich mit einem Nachbarn täglich ab. Mal geht er ins Dorf einkaufen, mal gehe ich. Nach dem Frühstück muss ich mich um die Hunde kümmern. Dann werde ich mit den Pensionstieren einen Spaziergang machen. Sie könnten mich mit Balzac begleiten. Wenn wir wieder zurück sind, bringen wir ihn ein letztes Mal mit Diane zusammen. Übrigens, nochmals vielen Dank für den tollen Wein zum gestrigen Abendessen. Ich habe davon wunderbar schlafen können. Hoffentlich haben auch Sie gut geschlafen.«
»Bestens«, sagte Isabelle, »wie ein Murmeltier.«
Nach den Croissants gab es Baguette, hausgemachte Aprikosenmarmelade, Käse und hartgekochte Eier. Bruno aß mit Appetit und trank eine zweite Tasse Kaffee, während Isabelle zum Packen nach oben ging. Mit Claire führten sie anschließend die Hunde aus – für jeden waren es vier Bassets. Sie gingen ans Flussufer hinunter und über einen sanften Anstieg zurück zum Zwinger. Was ein ruhiger Spaziergang hätte sein können, gestaltete sich ziemlich schwierig mit der Vielzahl der Hunde, die sich in den Leinen verfingen, weil alle mit Balzac Freundschaft schließen wollten, verlockenden Düften zu folgen versuchten oder sich im Gras wälzten. Isabelle setzte sich irgendwann und machte sich lachend daran, einen gordischen Knoten zu lösen, während die Hunde um sie herumtanzten und um Aufmerksamkeit buhlten.
Als sie wieder auf den Hof zurückgekehrt waren und die Hunde auf ihrem eingezäunten Feld laufen gelassen hatten, schenkte Claire ihnen noch eine Tasse Kaffee ein. Danach gingen sie noch einmal zur Braut. Balzac brauchte auch diesmal keine Anleitung oder Aufforderung. Höflich beschnupperte er Diane, die auf der Seite lag, sich dann erhob und ihm ihr Hinterteil mit erhobenem Schwanz darbot, als wäre es das Natürlichste von der Welt. Was es ja, wie Bruno fand, auch war. Anschließend war es Diane, die Balzac anmutig beschnüffelte, als wollte sie seine Komplimente erwidern. Schließlich lagen sie noch eine Weile eng an eng und entspannt in der Streu, bis Claire sagte, dass sie sich jetzt um die Malinois kümmern müsse.
»Vielen Dank für Ihre Gastlichkeit. Es war wunderschön bei Ihnen«, sagte Isabelle. »Wenn mir dann und wann Paris zu hektisch werden sollte, würde ich gern bei Ihnen ausspannen und helfen, die Hunde auszuführen. Besser kann man sich gar nicht erholen. Vielleicht sollten Sie Wochenendurlaube anbieten. Damit lässt sich Geld verdienen.«
»Sie sind mir beide jederzeit herzlich willkommen«, erwiderte Claire. »Wenn mit Dianes Wurf alles klargeht, woran ich keinen Zweifel habe, würde ich Balzac gern ein weiteres Mal als Deckrüden einsetzen und Sie hier bei mir begrüßen. Ob ich aber dann Kaninchen auftischen kann, weiß ich noch nicht.«
»Wenn es so weit ist, werde ich kochen«, versprach Bruno und umarmte Claire zum Abschied. »À bientôt.«
Sie zogen das Bett ab und legten einen Zwanzigeuroschein aufs Kopfkissen mit der Nachricht, ein Geschenk für Diane zu kaufen. Dann verstauten sie das Gepäck im Wagen und fuhren zurück nach Hautefort, wo sie mit Balzac durch den geometrisch angelegten Barockgarten und die kleine Stadt unterhalb der Schlossmauern schlenderten.
»Ich bedaure nur, dass ich heute Morgen nicht zeitig genug aufgewacht bin, um mich von dir lieben zu lassen«, sagte sie und schmiegte sich in seinen Arm. »Bald bin ich wieder in Paris und versuche, einer ukrainischen Großmutter auf die Spur zu kommen und herauszufinden, was die Enkelin und ihre Freunde vorhaben.«
»Mir ist der Gedanke gekommen, dass sie Galina als Geisel nehmen könnten, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Meghan ihrer zukünftigen Schwiegertochter so etwas antun würde«, entgegnete Bruno. »Dann habe ich mich gefragt, ob es vielleicht einen Plan gibt, Stichkin zu töten, bezweifle aber, dass er sich hierherlocken lässt. Er wird wahrscheinlich wollen, dass die Hochzeit auf Zypern oder in Monaco stattfindet, vielleicht auf seiner Jacht.«
»Aber warum sollten sie ihn töten wollen? Außerdem kämen sie doch sofort als Hauptverdächtige in Betracht«, erwiderte Isabelle.
»Welche Rolle hat er während der Unruhen in der Ukraine gespielt?«
Sie erklärte, dass Stichkin Janukowytsch, dem prorussischen Präsidenten, nahegestanden habe. Dieser hatte sich gegen ein Assoziationsabkommen seines Landes mit der EU ausgesprochen und war dann während der Proteste, die auf die gewalttätigen Ausschreitungen auf dem Majdan folgten, nach Russland geflohen. Stichkin und Janukowytsch stammten beide aus Donezk. Mit Hilfe des Kreml beteiligte sich Stichkin an der Finanzierung und Koordinierung der ostukrainischen Separatisten und deckte die heimliche Unterstützung Russlands. Nachdem ein Waffenstillstand verabredet worden war, kehrte er nach Zypern zurück und brachte seine Vermögenswerte dort in Sicherheit.
»Warum sollten es die Ukrainer jetzt auf Stichkin abgesehen haben?«, fragte Bruno. »Er scheint aus dem Spiel zu sein.«
»Das weiß ich nicht. Aus den Niederlanden ist zu hören, dass er Gerüchten nach hinter den Scharfschützen der Geheimpolizei stand, die auf die Demonstranten auf dem Majdan geschossen haben. Aber das sind nur Spekulationen. Und Kiew ist voll davon. Falls es Lannes gelingen sollte, Stichkin zu rekrutieren, werden wir mehr erfahren, ob es uns guttut oder nicht.«
»Du klingst bitter.«
»Lannes ist ein guter Mann, aber er gehört zur Generation des Kalten Krieges, wie Putin, wie Stichkin, die immer noch in den alten Kategorien denken.« Sie schaute ihn an. »Sieh dir das heutige Europa an, mit Rumänien und Bulgarien, und jetzt kommen wahrscheinlich noch weitere Balkanstaaten dazu. Findest du, dass das gut für uns ist, für uns, die traditionellen Europäer? Und jetzt fordern auch manche, dass die Ukraine eingegliedert wird. Es gibt schon genug Schwierigkeiten mit Italien und Griechenland, von den Briten gar nicht erst zu reden. Du müsstest mal die Eurokraten in Brüssel hören, wie sie großspurig von den Vereinigten Staaten von Europa reden, der neuen Supermacht. Mir macht das manchmal Angst; es ist so unwirklich. Ich glaube an Europa, aber es wird Jahre, womöglich Generationen dauern, ehe eine echte Einheit zustande kommt.«
»Du warst also nicht nur höflich, als du zu Claire sagtest, wie gut du dich auf ihrem Hof entspannt hast.«
»Nein, ich habe es ernst gemeint. Aber über längere Zeit würde ich durchdrehen. Tag für Tag immer dieselbe Ruhe und Zufriedenheit ist dann doch nicht nach meinem Geschmack. Ich brauche ein Ziel und die Auseinandersetzung mit heiklen Problemen.«
»Was für ein Ziel hast du vor Augen? Lannes’ Posten?«
»Nein, das nicht. Aber ich spiele lieber im europäischen Stadion als auf einem kleinen französischen Rasenplatz. Warum auch nicht? Leute wie mich muss es auch geben. Ich hake ein Kästchen nach dem anderen ab – Polizei, Staatssekretariat, EU-Justizkommission, Terrorismusbekämpfung.«
»Ja, du machst dich gut.«
»Deshalb mache ich da weiter. Wann geht mein Zug?«
»In fünf Stunden. Wäre noch Zeit für ein ausgiebiges Mittagessen.«
»Nach unserem Bauernfrühstück habe ich noch keinen Hunger.« Sie reckte den Hals, gab ihm einen Kuss auf die Wange und flüsterte: »Lieber wäre mir noch so ein Picknick wie gestern, und das am selben Ort.«
»Ich kenne dich.« Er umarmte sie. »Dir gibt das Risiko, erwischt zu werden, einen zusätzlichen Kick, nicht wahr?«
»Na klar«, antwortete sie lachend, nahm Balzacs Leine und lief zum Wagen. »Und nicht nur das«, rief sie über die Schulter zurück.
Auf der Fahrt zum Bahnhof von Brive holte sie ihr Handy hervor und meldete sich bei denen, die sie vergeblich zu erreichen versucht hatten. Dabei machte sie sich Notizen. Während des ersten Anrufs sprach sie Englisch, beim zweiten und dritten Französisch, beim vierten Deutsch.
»Wir haben Meghans Großmutter«, sagte sie. »Elsaveta Tereschuk. 1946 heiratete sie in Glasgow Sergeant Major James Angus McPherson von den Scots Guards. Aus der Verbindung gingen fünf Kinder hervor, die wir jetzt alle überprüfen. Nach seinem Wehrdienst wurde McPherson Lehrer. Seine Frau arbeitete als Sekretärin in der Glasgower Niederlassung der Association of Ukrainians in Great Britain, gegründet 1946. Außerdem schrieb sie für deren Zeitung, die Ukrayinska Dumka.
Wir haben auch Nathalies Mutter ausfindig gemacht, die nach dem Tod ihres Sohnes aus Kanada nach Frankreich zurückgekehrt ist. Sie kam 1958 in Kiew zur Welt, studierte in Krakau polnische Literatur und setzte sich 1980 während der Aufstände von Solidarność in den Westen ab. Sie kam an ein französisches Studentenvisum und heiratete einen frankokanadischen Studenten mit französischer Staatsbürgerschaft. Als die Ukraine 1991 unabhängig wurde, besuchte sie ihre Angehörigen in Kiew und kam dort mit ihrer Tochter nieder. Ein Jahr später wanderte die Familie nach Kanada aus.«
Bruno geriet ins Grübeln angesichts so vieler Menschen, die ihre Heimat verließen, um woanders ein neues Leben zu beginnen und Familien zu gründen, und dennoch mit ihren Wurzeln in Verbindung blieben. Daraus ist wohl Geschichte gemacht, dachte er, aus zahllosen kleinen persönlichen Entscheidungen, die, von Angst oder der Hoffnung auf eine bessere Zukunft motiviert, in ihrer Summe zu großen gesellschaftlichen Veränderungen führen. Historiker richteten ihr Augenmerk zumeist auf das große Ganze; dabei ging im Wesentlichen fast alles von einzelnen Männern und Frauen aus, die ihr Leben zu gestalten versuchten und dabei mitunter in alle Himmelsrichtungen zerstreut wurden.
»Im Fall Lara Saatchi kommen wir nicht weiter«, fuhr Isabelle fort. »Sie wurde an keiner europäischen Außengrenze registriert. Und dank Schengen kann sie sich hier frei bewegen, ohne einen Pass vorlegen zu müssen.«
»Käme sie auch per Schiff nach Monaco?«, fragte Bruno.
»Ja. Sie ist also entweder in Westeuropa geboren worden, oder ihr Pass wurde in einem westeuropäischen Land ausgestellt, und sie war nie außer Landes.«
»Dann erweitert die Suche auf Verkehrsämter, Schulbehörden und Krankenversicherungen«, schlug er vor.
»Haben wir schon. Nichts. So etwas kennen wir von Geflüchteten, besonders von solchen, die Angst davor haben, dass ihre Familien in ihren Heimatländern Repressalien erleiden könnten. Sie füllen ihren ersten Meldeantrag mit einem falschen Namen aus oder kaufen sich einen neuen. Vielleicht hat diese Saatchi sogar zwei Pässe auf verschiedene Namen. Unterdessen lassen wir auch im deutschen Militärarchiv in Karlsruhe nach Elsavetas Arbeitgebern suchen«, fügte Isabelle hinzu. »Das kann allerdings noch eine Weile dauern, wie man uns sagte. So, und jetzt muss ich noch jemanden zurückrufen.« Sie wandte sich ab und holte ihr Handy hervor.
»Bonjour, Jean-Jacques. Ich bin’s, Isabelle«, hörte er sie sagen. »Was ist mit diesem Constant? Redet er?« Pause. »Tatsächlich? Gut.« Pause. »Er rückt also mit den Dokumenten heraus und gibt seine Aussagen zu Protokoll. Ausgezeichnet.«
Sie tauschten noch ein paar Nettigkeiten. Dann steckte Isabelle ihr Handy weg und sagte: »Constant singt wie ein Vogel, hat Jean-Jacques’ Leuten Zutritt zu seinem Büro gewährt und Einblick in seinen Computer und die Akten nehmen lassen. Er behauptet, einfach nur den Anordnungen Sarrails entsprochen zu haben. Stichkin will er nur einmal getroffen haben, in Monaco, bei einer Cocktailparty auf dessen Jacht.«
»Wird es gegen ihn zur Anklage kommen?«, fragte Bruno und bog auf den Parkplatz neben dem Bahnhof ein.
»Ja, aber Jean-Jacques will, dass er als kooperierender Zeuge vor Gericht geladen wird.«
Sie sprang aus dem Land Rover, beugte sich von außen über die Rückbank, um Balzac zu tätscheln, sagte ihm, was für ein feiner Hund er doch sei, und schnappte sich ihr Gepäck.
»Du musst nicht mit auf den Bahnsteig kommen«, sagte sie, als Bruno sie umarmte. »Ich hasse solche Abschiede. Sie erinnern mich immer an Kriegsfilme und bringen mich zum Weinen. Danke, dass ich Balzacs großen Moment miterleben durfte, danke für die fünfundzwanzig wunderschönen Stunden und alles. Wir halten Kontakt wegen dieser Ukraine-Geschichte. À la prochaine, mon cœur.«
Bruno fuhr nach Hause. Er war glücklich, mit ihr zusammen gewesen zu sein, aber auch traurig, weil er sie wieder hatte ziehen lassen müssen. Aber seine gute Stimmung überwog, zumal mit Balzac alles so gut verlaufen war und Claire sie so freundlich aufgenommen hatte. Es hatte ihm auch gefallen, Isabelle bei der Arbeit zuzusehen. Schwer beeindruckt war er von der Reichweite ihrer Kontakte und von ihrer Fähigkeit, Unmengen von geheimdienstlichen Daten zusammenzutragen und zu verarbeiten. Aber konnte man sich auf diese Daten wirklich verlassen?, fragte er sich. Wo blieben in der Rechnung der menschliche Faktor, das persönliche Urteil und die Menschenkenntnis? Bruno wusste, dass er in seiner Arbeit als Polizist in hohem Maße darauf angewiesen war, die Bewohner von Saint-Denis gut zu kennen und deren Vertrauen zu genießen.
Im Hinterkopf spürte er einen kleinen nagenden Zweifel, was die ukrainischen Verbindungen anging, die Isabelle aufgedeckt hatte. Gab es wirklich einen Zusammenhang, oder war alles nur Zufall? Bertie schien ein anständiger junger Mann zu sein, auch wenn er etwas hitzköpfig sein mochte. Keinem der jungen Leute traute er zu, dass er oder sie gewalttätig werden konnte wie ein fanatisierter Terrorist.
Zu Hause sah er nach den Hühnern und Gänsen, füllte die Wassernäpfe auf, streute Körner und fütterte Balzac. Anschließend verbrachte er eine angenehme Stunde in seinem potager, wo er Unkraut jätete und seinen Gedanken nachhing. An seinem Laptop suchte er nach der Association of Ukrainians in Great Britain, von der Isabelle gesprochen hatte. Sie war von einem Offizier der kanadischen Armee zur Unterstützung der rund dreißigtausend ukrainischen Kriegsgefangenen, Flüchtlinge und Vertriebenen gegründet worden, die aus dem einen oder anderen Grund am Ende des Zweiten Weltkriegs in Großbritannien gelandet waren.
Eine Einrichtung des Vereins, die sich Patriot Defence nannte, sammelte Spenden für den Ankauf von Verbandskästen und zur Förderung von Trainingskursen für junge Ukrainer, die lernen sollten, in Gefechten erlittene Verletzungen zu versorgen. Unter gewissen Umständen keine schlechte Idee, dachte Bruno. Auf der Site fand er auch einen Hinweis auf den Holodomor, die schwere Hungersnot, die Stalin Anfang der 1930er-Jahre über die Ukraine gebracht hatte, als er die Landwirtschaft zwangskollektivieren ließ. Bruno wusste aus Geschichtsbüchern genug darüber, um einschätzen zu können, dass die Darstellung auf diesem Portal nicht übertrieben war.
Er konnte verstehen, was die Initiatoren bewogen hatte, eine solche Organisation zu gründen, und dass sie Verbindungen zwischen Familienangehörigen in einer weltweiten Diaspora herzustellen versuchte. Sie hatte wohl auch junge Idealisten motiviert, aus Frankreich, Großbritannien und Kanada in die Heimat zurückzukehren und an den Demonstrationen auf dem Majdan gegen eine korrupte, moskauhörige Regierung teilzunehmen, die versuchte, Bestrebungen für eine engere Anbindung an Westeuropa zu unterdrücken. Bruno sah auch, wie aus einer solchen Organisation Gewalt erwachsen und sogar militante Extremisten hervorgehen konnten, die die Geheimdienste des Kreml auf den Plan riefen. Die jungen Leute, die er kennengelernt hatte, passten aber überhaupt nicht in dieses Bild. War Isabelle mit ihren Recherchen auf dem Holzweg?
Er ging zu Bett und schlief trotz seiner grüblerischen Gedanken bald tief und fest. Ob er geträumt hatte, wusste er nicht, als ihn sein Telefon noch vor Sonnenaufgang weckte. Albert, der Hauptmann der pompiers, versuchte mit lauter, aufgeregter Stimme, die Sirene seines Einsatzfahrzeugs zu übertönen, und berichtete von einem schlimmen Autounfall mit Toten auf der Umgehungsstraße von Saint-Cyprien. Er, Bruno, solle schnellstmöglich kommen.