4

Es war diesmal nicht wie an den anderen Montagabenden, wenn sich die Freunde auf dem Reiterhof bei Pamela und Miranda zum gemeinsamen Essen trafen. Der Baron hatte den halben Vormittag auf dem Fluss zugebracht und anschließend telefonisch vorgeschlagen, ein Fischgericht zu improvisieren. Ein Eimer voller frischer Forellen stand neben dem Grill, den er und Jack Crimson, Mirandas Vater, mit trockenem Rebenholz befüllten. Aus dem Badezimmerfenster im Obergeschoss hörte man Kinder lachen, die in der Badewanne planschten und jenes seltsame Gemisch aus Englisch und Französisch plapperten, mit dem sich Mirandas zwei Jungen mit den Kindern von Florence, der Lehrerin von Saint-Denis, verständigten.

Fabiola hatte bis acht Uhr in der Klinik Dienst, doch ihr Partner Gilles war mit einer riesigen Schüssel Erdbeeren aus dem eigenen Garten gekommen, hauptsächlich solchen der Sorte Charlotte, aber auch ein paar frühreifenden Gariguettes und Brunos Lieblingsbeeren: kleinen, ungemein süßen und herrlich duftenden Maras des Bois. Gilles versuchte mit großem Engagement, den Ruf des Périgord als beste Erdbeerregion in ganz Frankreich zu verteidigen. Es war das einzige Gebiet in Europa mit eigenem Markenschutz für seine Erdbeeren.

Balzac, Brunos Basset, begrüßte sein Herrchen mit seinem üblichen Willkommensgeheul und folgte der Reitergruppe zum Stall. Gemeinsam mit Félix rieben Bruno und Pamela die Pferde trocken, füllten Wassertröge und Futternetze, zogen sich im Badehaus um und sprangen in den Pool. Früher wäre es den meisten im Mai dafür noch zu früh gewesen, aber Pamela hatte mit Hilfe staatlicher Fördermittel Solarpaneele auf die Dächer von Scheune und Stall installieren lassen. Die versorgten nun den ganzen Reiterhof mit Strom. Selbst der Pool konnte damit beheizt und die zusätzlich gewonnene Energie gewinnbringend ins öffentliche Netz eingespeist werden.

Mirandas Vater Jack Crimson hatte unter dem Spalier von Weinranken auf der Terrasse den Tisch gedeckt. Einmal in der Woche ging er auf Entdeckungsreise und besuchte Weingüter im Bergerac. Von seinem jüngsten Streifzug hatte er ein paar Flaschen Monbazillac der Domaine de Pécoula mitgebracht. Bruno hatte von deren süßen goldenen Monbazillac-Weinen schon gehört, aber noch keinen getrunken. Er war gespannt darauf.

So gut waren die Freunde aufeinander eingespielt, dass sich jeder unaufgefordert einer bestimmten Aufgabe widmete. Bruno schnappte sich den Eimer mit den Forellen und ging damit in den Stall, wo er sie über dem Spülstein ausnahm und sauber machte. Pamela war schon in der Küche, schnitt Zitronen in Scheiben für die Fische und pellte Knoblauch und Kartoffeln. Félix schüttete die Fischabfälle aus dem Eimer in den Komposter, der einen verschließbaren Deckel hatte, um Füchse abzuhalten, und streute Grasschnitt darüber.

»Wie kommst du mit deinem neuen Buch voran?«, fragte Bruno Gilles, der die mitgebrachten Erdbeeren entstielte. Die beiden waren sich erstmalig während der Belagerung von Sarajevo begegnet, wo Bruno im Rahmen einer UN-Friedensmission stationiert gewesen war und Gilles als eifriger junger Reporter für die Libération berichtet hatte. Nach einer erfolgreichen Karriere bei der Pariser Wochenzeitschrift Paris Match arbeitete er inzwischen als Freiberuf‌ler, um ganz bei seiner geliebten Fabiola sein zu können.

»Leidlich. Die meisten Leute hier in Frankreich wissen überhaupt nicht, dass in der Ukraine Krieg herrscht, und der Rest glaubt, Russen und Ukrainer seien zwei verschiedene Völker. Dabei hat die Hälfte der Ukrainer Verwandtschaft in Russland. Der ukrainische Außenminister stammt aus Russland und ging auch dort zur Schule. Sein Schwiegervater ist der russische General, der die Krim annektiert hat. Ziemlich verwickelt das Ganze.«

»So ist nun mal Politik für gewöhnlich«, erwiderte Bruno. »Ich dachte, du hättest die Arbeit an dem Buch fast abgeschlossen …«

»Das dachte ich auch, aber die Situation vor Ort verändert sich ständig. Vielleicht muss ich noch mal für ein oder zwei Wochen hinfliegen. Ich würde gern einen Typen namens Stichkin interviewen. Als Jugendlicher in Sankt Petersburg war er mit Putin befreundet und wie der ein begeisterter Judoka. Stichkin ist von Geburt Ukrainer, bezeichnet sich aber selbst als patriotischen Russen. Er soll unverschämt reich sein. Mir wurde gesagt, dass er die russische Annexion der Krim und der Ostukraine mit finanziert und organisiert hat.«

»Was sagt Fabiola dazu, dass du wieder hinfliegen willst?«, fragte Bruno. Er erinnerte sich daran, wie sie einmal gesagt hatte, dass sie sich ihre Gefühle für Gilles zum ersten Mal bewusstgemacht hatte, als er nach Kiew gereist war, um über die Demonstrationen junger Ukrainer auf dem Majdan zu berichten, die sich für ein Assoziierungsabkommen mit der EU starkmachten und gegen die Bevormundung durch Russland protestierten. Die Demonstrationen waren zu gewaltsamen Ausschreitungen eskaliert, wobei es angeblich unter anderem zu gezielten Tötungen durch mysteriöse Heckenschützen kam. Fabiola war außer sich vor Sorge um Gilles gewesen.

»Sie ist nicht glücklich, hat aber Verständnis.«

»Das sagt sie, weil sie dich liebt und weiß, dass du diese Story brauchst.«

»Es ist mehr als eine Story, Bruno«, entgegnete Gilles heftig. »Hier bei uns heißt es, in Europa herrscht seit siebzig Jahren Frieden, aber das stimmt nicht. Wir beide haben in den neunziger Jahren die Jugoslawienkriege miterlebt. Rings ums Mittelmeer wird gekämpft und revoltiert. Die Schüsse auf dem Majdan haben die russische Okkupation der Krim ausgelöst, den Krieg in der Ostukraine und die erste massive Desinformationskampagne Russlands über soziale Medien mit dem Ziel, Kritiker mundtot zu machen.«

»Ich erinnere mich an den von Russland durchgestochenen Mitschnitt eines Telefongesprächs, in dem eine hohe amerikanische Diplomatin dem US-Botschafter in Kiew gesagt haben soll: ›Fuck the EU.‹«

»Ja, das war Victoria Nuland, Unterabteilungsleiterin im US-Außenministerium und zuständig für Europa«, sagte Gilles und grinste. »Ich fand es einigermaßen erfrischend zu hören, wie hochrangige Regierungsvertreter miteinander reden – und übereinander. Aber jetzt komm, die anderen warten bestimmt schon.«

Die von Bruno mitgebrachten Eier seiner Hühner waren von Miranda schon hartgekocht worden, bevor sie die Kinder ins Bad geschickt hatte. Bruno pellte die zwölf Eier jetzt in der Küche, halbierte sie und löste mit einem Löffel die festen Dotter heraus. Dann schnitt er ein paar hauchdünne Streifen geräucherten Specks zurecht, briet sie kurz an und ließ sich von Pamela die Mayonnaise geben, die sie gemixt hatte. Mit einer Gabel zerdrückte er die harten Dotter, würzte sie mit Salz, Pfeffer und zwei Teelöffeln Dijon-Senf, rührte Speckstreifen und Mayonnaise unter und löffelte walnussgroße Portionen davon in die Eiweißhälften. Dann platzierte er die œufs mimosa auf einem großen Servierteller, streute ein bisschen Paprikapulver darüber und brachte sie nach draußen auf die Terrasse, wo er den Teller in die Mitte des Tisches stellte. Um Fliegen abzuhalten, breitete er ein Geschirrtuch darüber aus.

Nun betrat Félix die Küche mit zwei Köpfen Salat und einer Schale Radieschen aus dem Garten, die er schon in der Spüle im Stall gewaschen hatte. Jack stellte die geöffneten Weinflaschen auf den Tisch, dazu zwei Krüge mit Wasser aus der Quelle. Wie durchgehende Pferde hörte es sich an, als plötzlich die vier Kinder die Treppe heruntergepoltert kamen, wo sie einen Moment brav stillstanden, um sich von den Erwachsenen bises auf die Wangen geben zu lassen. Doch dann stürmten sie auch schon nach draußen, um mit Balzac zu spielen. Wenige Augenblicke später erschienen auch Florence und Miranda mit frisch aufgetragenem Lippenstift und in Ordnung gebrachter Frisur; von den saunaartigen Bedingungen im Bad und der Seifenschaumorgie der vier Kinder war ihnen nichts anzumerken.

»Ich brauche jetzt einen Drink«, erklärte Miranda, worauf Bruno crème de cassis in kleinen Mengen auf ein halbes Dutzend Weingläser verteilte und mit Weißwein auf‌füllte. Der Kir war der übliche Aperitif zum Auf‌takt des gemeinsamen dîners.

»Ich soll dir von unserem Chorleiter was ausrichten, Bruno«, sagte Florence. »Er will sich mit dir über das Programm für die Sommerkonzerte absprechen. Wir singen Beethovens Chorfantasie im Rahmen des Musique-en-Périgord-Festivals, und er will wissen, ob dir die auch auf der Open-Air-Veranstaltung recht wäre.«

»Ich dachte, ihr bringt euer Standardprogramm, also Händel, Tschaikowsky und dieses Mozartstück – was war das noch mal – ach ja, Laudate Dominum«, erwiderte Bruno. Er wusste, wie sehr Florence darauf brannte, die Solopartie für Sopran zu singen. »Ich könnte mir vorstellen, das Publikum möchte die vertrauten alten Favoriten hören.«

»Das glaube ich auch, aber vielleicht klärst du das mit ihm persönlich. Was anderes – wann bringst du den Kindern endlich Schwimmen bei? Das Wasser im Pool ist warm genug. Du hast es ihnen versprochen.«

Sie verabredeten sich zu einer ersten Unterrichtsstunde für Sonntagmorgen nach einem gemeinsamen Frühstück um acht.

Mit den ersten Takten von Edith Piafs Chanson La vie en Rose meldete sich plötzlich Gilles’ Handy. Er nahm den Anruf entgegen, steckte jedoch bald sein Handy wieder weg und berichtete, Fabiola habe noch einen späten Patienten und bitte sie alle, mit dem Essen nicht auf sie zu warten. Daraufhin schnitt Bruno ein paar Scheiben von der großen runden tourte aus der Bäckerei Moulin und rief die Kinder zu Tisch. Der Baron legte die Forellen auf den Grill, kam dann auch an den Tisch und fragte die Kinder, ob sie noch wüssten, was er ihnen darüber beigebracht hatte, wie man Fische isst, ohne sich an den Gräten zu verschlucken. Den Mund voller Brot und œufs mimosa, nickten sie stumm und kauten weiter.

Bruno schaute sich unter seinen Freunden am Tisch um. Den Baron kannte er nunmehr seit über einem Jahrzehnt, seit er die Stelle als Chef de police in Saint-Denis angenommen hatte. Sie waren einander das erste Mal im Rugbyverein begegnet, dann auch im Tennisklub und zuletzt im Jagdverein, jenen drei Institutionen, die die Stadtgemeinde zusammenhielten.

Jack Crimson kannte er nun schon mehrere Jahre, wenn auch nicht sehr gut. Anfangs hatte er ihn wie die meisten in der Stadt für einen eher langweiligen ehemaligen Staatsbeamten gehalten, der seinen Ruhestand in Frankreich genoss. Aber nachdem in sein Haus eingebrochen und Bruno mit den Ermittlungen beauf‌tragt worden war, stellte sich heraus, dass Jack vor seiner Pensionierung viele Jahre in hoher Position für den britischen Geheimdienst tätig gewesen war und weiterhin engen Kontakt zu hochrangigen Kollegen diesseits und jenseits des Atlantiks pflegte. Bei einem von ihnen handelte es sich zu Brunos Überraschung um Brigadegeneral Lannes vom französischen Innenministerium, einen undurchsichtigen Mann, der immer wieder einmal in Brunos Leben auf‌tauchte, wenn sich im friedlichen Périgord Dinge ereigneten, die die nationale Sicherheit bedrohten.

Als er Pamela kennenlernte, galt sie bei den Alteingesessenen als »die verrückte Engländerin«, die mit dem Pferd angeritten kam und in Fauquets Café bei einer Tasse Kaffee und mit einem Croissant in der Hand das Kreuzworträtsel der vortägigen Times-Ausgabe zu lösen versuchte. Sie sprach ein verstörend korrektes Französisch, tränkte ihr Pferd nach den morgendlichen Ausritten am Fluss und war immer typisch englisch mit einem Reitmantel und Jodhpur-Hose bekleidet. Unter der Reitkappe quoll rotgoldenes Haar hervor. Es war nachdem Bruno seine große Liebe Isabelle verloren hatte, dass er Pamela näherkam und eine Affäre mit ihr begann, die anfangs glücklich, aber dann doch nicht auf Dauer war.

Pamela hatte empfohlen, die Beziehung auf Eis zu legen, und darauf bestanden, dass er nach einer Frau suchte, die im Unterschied zu ihr oder zu Isabelle bereit wäre, eine Familie mit ihm zu gründen. Bruno hatte das auch eingesehen, bezweifelte aber, dass sich eine Frau finden ließe, die beides verkörperte: Mütterlichkeit und die freigeistige Art von Isabelle oder Pamela. Weil sich diese perfekte Partnerin auch nach Monaten nicht blicken ließ, hatte Pamela ihn wieder in ihr Bett gelassen, aber nur in Nächten ihrer Wahl.

Brunos Blick blieb an der letzten erwachsenen Person am Tisch haften, Florence, der alleinerziehenden Mutter von Dora und Daniel, den Kindern, die Bruno vergötterten. Kennengelernt hatte er sie als mutlose, noch unter ihrer Scheidung leidende Frau. Damals hatte sie als Qualitätskontrolleurin auf einem Trüffelmarkt der Region für einen abscheulichen Chef gearbeitet und war von ihm nach Strich und Faden schikaniert worden. Als Bruno erfuhr, dass sie diplomierte Chemikerin war, hatte er ihr zu einer Anstellung als Naturkundelehrerin am collège von Saint-Denis verholfen. Seitdem war sie aufgeblüht. Florence hatte den Computerclub der Schule gegründet und war in den Regionalrat der Lehrergewerkschaft gewählt worden. Jetzt stand sie auf der Liste des Bürgermeisters für die nächsten Ratswahlen der Stadt. Im Erfolgsfall, und davon war auszugehen, würde sie künftig eine seiner Vorgesetzten sein.

Die Teller vom Hauptgang waren gerade weggeräumt worden, als eine Hupe ertönte und Fabiolas Renault Twingo in den Stallhof einbog. Im Laufschritt eilte sie auf die Tischrunde zu und erklärte noch vor der Begrüßungsrunde, dass sie einen Bärenhunger habe, vorauf sie noch im Stehen die letzten beiden œufs mimosa in sich hineinstopf‌te.

»Tut mir leid, dass ich so spät bin. Wir hatten wieder einen Fall von Hypochondrie«, sagte sie. »Die œufs sind vorzüglich, Bruno. Und deine Forelle, Baron, duftet schon sehr lecker. Den tollen Wein hier hat bestimmt wieder Jack ausgesucht. Vielen Dank euch allen. Worüber habt ihr euch eben unterhalten, als ich gekommen bin?«

»Essen, Wein und Pferde«, antwortete Pamela. »Über die die drei Säulen eines gesunden Lebens.«

»Habt ihr denn noch nicht gehört, was über die Macraes von Château Rock gemunkelt wird?«, fragte Fabiola. »Es heißt, sie lassen sich scheiden und verkaufen ihr Anwesen.«

»Wo hast du das denn aufgeschnappt?«, wollte Pamela wissen.

»Von meinem Hypochonder. Es scheint, ihr Mann ist Fahrlehrer der Tochter. Sie hat ihn heute per Textnachricht gefragt, ob sie in der Lage wäre, die Prüfung schon im Sommer abzulegen, weil die ganze Familie Frankreich bald verlassen werde. Was nur heißen kann, dass Château Rock verkauft werden soll. Ich würde zu gern wissen, was sie dafür haben wollen.«

Während ein Wort das andere gab, staunte Bruno wieder einmal, wie groß die Neugier auf Preise für Eigentum war, mit dem man selbst nichts zu tun hatte. Als die Tafel schließlich aufgehoben wurde, nahm er Fabiola beiseite und sprach sie auf den von Gelletreau ausgestellten Totenschein für Driant an.

»Unter Kollegen verbietet es sich, so etwas zu kommentieren«, entgegnete sie. »Driant war nicht mein Patient, aber es steht wohl fest, dass er Probleme mit dem Herzen hatte. Von Gelletreau weiß ich, dass die von ihm empfohlene Implantation eines Schrittmachers genehmigt wurde, ausgerechnet an dem Tag, als der alte Knabe beigesetzt worden ist. Warum fragst du?«

Gilles stand schon an ihrem Wagen und wollte fahren. Bruno schilderte kurz die Sorgen der Kinder Driants und dass der Vater merkwürdigerweise eine viel zu teure Seniorenresidenz gewählt hatte.

»Die in der Nähe von Sarlat?«, schaltete sich Gilles ein. »Da bin ich vor kurzem gewesen, im vorigen Monat. Es gibt da eine Art Buchclub, den sie literarischen Salon nennen. Man hat mich eingeladen, mein letztes Buch vorzustellen und ein paar Exemplare zu signieren. Das Essen war hervorragend. Insgesamt ein beeindruckender Ort, sehr hochherrschaftlich, wunderschön restauriert, und die Bibliothek, in der ich gelesen habe, war bestens sortiert.«

»Ich habe auch schon davon gehört«, sagte Fabiola. »Einer ihrer Ärzte aus dem Vorstand kam mit einer Hochglanzbroschüre zu uns. Sie klappern offenbar alle Praxen und Kliniken der näheren Umgebung ab und werben für sich mit der kühnen Behauptung, als einzige Einrichtung in der ganzen Region eine vollumfängliche medizinische Versorgung anbieten zu können. Man hat uns sogar eingeladen, die Räumlichkeiten in Augenschein zu nehmen. Ich glaube, Gelletreau ist der Einladung gefolgt.«

»Typisch Gelletreau, lässt sich ein spendiertes déjeuner nicht entgehen«, bemerkte Bruno grinsend.

»Gelletreau kommt zwar in die Jahre, ist aber kein schlechter Arzt«, erwiderte Fabiola entschieden. »Im Gegenteil. Er hat viel Erfahrung und kümmert sich wirklich um seine Patienten, fragt sogar bei den Apotheken nach, ob die verschriebenen Medikamente auch abgeholt werden, und er macht immer noch Hausbesuche, was man von vielen anderen Ärzten heutzutage nicht mehr sagen kann.«

»Ich kritisiere deinen Kollegen nicht«, sagte Bruno und wählte seine Worte mit Bedacht. »Gelletreau ist schließlich mein Hausarzt, und ich kann mich nicht über ihn beschweren. Aber er neigt offenbar dazu, sich auf das Offensichtliche zu fokussieren. Erinnerst du dich an den Fall, wo er auf einen Herzinfarkt tippte und du eine Zyanidvergiftung festgestellt hast? Ich frage mich, wie gründlich er Driants Leichnam untersucht hat.«

»Lass gut sein, Bruno. Ein alter Mann mit Herzproblemen, der Betablocker einnehmen musste und einen Schrittmacher bekommen sollte – was erwartest du?«, entgegnete sie. »Es gab nichts Verdächtiges an Driants Tod, und soweit ich weiß, hatte Gelletreau keine Veranlassung, eine gründliche Untersuchung vorzunehmen. Und was die Seniorenresidenz angeht, war der alte Herr vielleicht so besorgt um seine Gesundheit, dass er sich an einem Ort mit medizinischer Vollversorgung besser aufgehoben gefühlt hat. Ich finde das nachvollziehbar.«

»Wie man mir sagte, soll Driant eine Schwäche für Frauen gehabt haben. Ich habe in seiner Nachttischschublade ein Fläschchen voller Viagra-Pillen gefunden. Könnte die Einnahme seinem Herzen geschadet haben?«

»Möglicherweise. Wer hat ihm das Mittel verschrieben?«

»Das Fläschchen war ohne Apothekenaufkleber. Wahrscheinlich hat er es sich schicken lassen.«

Fabiola verzog das Gesicht. »Das könnte in der Tat ein Problem gewesen sein. Hat er andere Medikamente oder sonstwelche Substanzen zu sich genommen?«

»Nicht dass ich wüsste. Warum?«

»Die Einnahme von Kokain wäre für ihn sehr gefährlich gewesen, wahrscheinlich fatal. Aber da er kremiert wurde, werden wir keine Antwort darauf finden. Vielleicht hätte Gelletreau ihn doch genauer unter die Lupe nehmen sollen, aber es gab ja keine Verdachtsmomente …« Sie zuckte mit den Schultern. »Gute Nacht, Bruno.«