5

Am nächsten Morgen traf sich Bruno um acht mit Maurice, dem Mitarbeiter des Veterinäramtes, auf Driants Hof. Er hatte Balzac mitgenommen, ihn aber angeleint für den Fall, dass ihm die Schafe oder die Aussicht auf neue Freundschaften mit den Hütehunden allzu verlockend erschienen. Bruno wollte nicht abgelenkt sein, wenn er seine Sorge um das Wohlergehen der Tiere vortrug.

»Und der Käufer ist eine Versicherungsgesellschaft? Die müsste es eigentlich besser wissen«, sagte Maurice kopfschüttelnd. »Vermutlich wird sie sich damit herausreden, dass ihr über den Bestand nichts Schriftliches vorlag, aber mittlerweile sind zwei Wochen vergangen, und das ist keine Entschuldigung mehr. Hat sich unterdessen von der Eigentümerseite wirklich niemand blicken lassen, um hier nach dem Rechten zu sehen? Das wäre unverantwortlich, ja sträf‌lich.«

Bruno nickte zustimmend. »Seit dem Tod des alten Herrn ist nur dessen Sohn hier gewesen, um die Tiere zu versorgen, und als ich gestern hier war, hat sich Guillaumat, ein Nachbar, darum gekümmert. Ich habe mich daraufhin mit Annette, der Staatsanwältin in Sarlat, in Verbindung gesetzt und Beschwerde eingereicht.«

»Gut. Ich werde mit Guillaumat sprechen, seine Aussage zu Protokoll nehmen und dann Annette aufsuchen. Sie muss entscheiden, ob ich über das Amt Klage einreiche oder ob Sie das tun. Ich nehme an, dieser notaire, der den Verkauf abgesegnet hat, hat keine Ahnung von Landwirtschaft, oder?«

Bruno schüttelte lächelnd den Kopf. »Wenn ich richtig verstanden habe, ist er auf Vermögensverwaltung spezialisiert.«

»Dann wird wahrscheinlich ein Teil des Vermögens, das er verwaltet, für Bußgelder draufgehen«, schnaubte Maurice verächtlich. »Ehrliche Landwirte, die sich an die Vorschriften halten und jede Menge Papierkram zu erledigen haben, wird es freuen, in der Zeitung zu lesen, dass einem dieser Finanztrickser auf die Finger geklopft wird.«

»Wie hoch könnte eine solche Strafe sein?«

»Hängt vom Richter ab, aber für gewöhnlich laufen fünfzig bis hundert Euro pro Tier auf. Bei hundert Schafen und ebenso vielen Lämmern kommen da bis zu zwanzigtausend zusammen. Übrigens, mir gefällt nicht, wie manche dieser Lämmer aussehen. Ich werde sie unserem Tierarzt zeigen. Sie brauchen jede Menge Wasser, wenn sie nicht mehr von der Mutter trinken.«

»Sagen Sie Guillaumat bitte, wie viele Sie mitnehmen. Ich habe ihn gebeten, mindestens alle zwei Tage herzukommen und nach den Tieren zu sehen. Das sollten wir dem neuen Eigentümer vielleicht auch auf die Rechnung setzen.«

»Natürlich, meine Zeit lasse ich mir auch bezahlen. Wenn’s nach mir ginge, kämen diese Lumpen in den Knast. Mit Tieren sollten sie jedenfalls nichts zu schaffen haben.«

Sie verabschiedeten sich, worauf Bruno auf Château Rock zusteuerte. Dass es verkauft werden sollte, bekümmerte ihn. Trotzdem freute er sich darauf, Rod Macrae wiederzusehen, den Gitarristen, dessen Rif‌fs und Songs zum Soundtrack seiner Jugend gehörten. Als sich Rod auf der Terrasse aus seinem Gartensessel erhob, wirkte er immer noch so groß und hager wie in seinen Ruhmestagen, die nun schon Jahrzehnte zurücklagen. Er kleidete sich auch immer noch auf dieselbe Art: schwarze Jeans, die in hochhackigen Stiefeln steckten, ein in den Nacken zurückgeschobener Stetson und ein Denim-Shirt mit schwarzer Lederweste, die vom ständigen Tragen ziemlich speckig war. Mit den vom Alter tief ins Gesicht gegrabenen Falten sah er noch ausgezehrter aus. Bruno vermutete, dass er den Hut aus Eitelkeit trug – Rod hatte eine Glatze, ließ aber den grauen Haarkranz umso länger wachsen und hatte ihn im Nacken zu einem Pferdeschwanz, seinem Markenzeichen, zusammengefasst. Wie früher, als er noch regelmäßig auf‌trat, klebte auch jetzt eine handgedrehte Zigarette auf seiner Unterlippe.

»Ça va, Bruno?«, grüßte er mit müde wirkender Stimme, gab Bruno die Hand und ging dann in die Hocke, um Balzac zu tätscheln. »Was für ein feiner Kerl«, sagte er und kraulte eine Stelle auf der Brust, an die Balzac selbst nicht herankam. Der Hund gurrte vor Vergnügen. »Er ist reinrassig, nicht wahr? Hat bestimmt einen Stammbaum.«

»Ja, er stammt von dem besten Jagdrudel in ganz Frankreich. Habe ich mir jedenfalls sagen lassen. Ich hatte offenbar Glück.«

»Nicht wahr, Ihr letzter Hund wurde bei einem Polizeieinsatz getötet? Irgendein hohes Tier in der Regierung hat versucht, Sie mit ihm hier zu trösten. Wollen Sie ihn als Deckrüden einsetzen? Ich frage nur, weil ich daran denke, mir einen Hund zuzulegen. Für mich wird sich in nächster Zukunft einiges ändern, und ich glaube, es gibt keinen besseren Gefährten als jemanden wie ihn.«

Bruno war überrascht, fand aber Macraes Wunsch durchaus nachvollziehbar. »Für die Zucht wäre er jetzt noch ein bisschen zu jung«, antwortete Bruno. »Wenn es so weit ist, werde ich seinen ehemaligen Besitzer kontaktieren. Das haben wir so verabredet. Er will die richtige Partnerin für ihn aussuchen. Vielleicht sollte ich ihn demnächst mal anrufen.«

»Einen seiner Welpen hätte ich liebend gern. Halten Sie mich auf dem Laufenden.«

»Es tut mir sehr leid, dass Sie wegziehen«, sagte Bruno. »Wir werden Sie und Ihre Familie vermissen.«

»Nicht alle von uns gehen für immer. Die Kinder wollen sich hier zumindest eine Rückzugsmöglichkeit sichern, mit der cabane am Rand des Weinbergs, wo früher die Landarbeiter gewohnt haben. Sie liegt am Rand des Grundstücks, lässt sich also leicht aus dem Verkauf herauslösen. Die Renovierungskosten dafür werden nicht allzu hoch sein, und wir planen, das Wäldchen auf der anderen Seite des Hügels zu roden. Eichen und Akazien, gutes Brennholz, das einiges an Geld einbringen wird.«

»Und die Erschließung?«

»Kein Problem. Strom und Wasserleitungen können vom Studio heraufgelegt werden. Wir legen eine moderne Sickergrube an und decken das Dach neu. Wie gesagt, die Einnahmen aus dem Holzverkauf müssten dafür reichen. Die Kinder wollen im Sommer mit den Renovierungsarbeiten anfangen – wenn sie denn Zeit dafür finden. Sie wollen ja auch noch für das Tennisturnier trainieren, das Sie ausrichten. Wissen Sie eigentlich schon, dass Jamie beim Musikfestival auf‌tritt? Ich würde seine erste CD gern in meinem Studio aufnehmen. Wir gehen also nicht gerade klammheimlich.«

»Spielt Jamie immer noch klassische Gitarre?«

Macrae nickte. »Das ist sein Ding, aber er spielt auch ziemlich gut Klavier. Und seit neuestem singt er auch am Royal College of Music in London im Chor.«

»Und Kirsty? Was hat sie für Pläne?«

»Sie wollte eigentlich Sprachen studieren, neben Französisch und Englisch auch Italienisch und Spanisch, um Dolmetscherin zu werden. Aber es scheint, dass der Bedarf zurückgeht, weil immer mehr per Computer übersetzt wird. Vielleicht studiert sie stattdessen Politikwissenschaften oder Jura. Kirsty ist noch unentschlossen, aber Jamie hat sich auf eine Musikkarriere festgelegt.«

»Er kommt wohl auf den Vater raus«, sagte Bruno. »Was ist mit Ihnen? Gehen Sie zurück nach Schottland?«

Macrae zuckte mit den Achseln. »Vielleicht, hängt auch davon ab, wie viel wir für das Château bekommen. Meghan will sich vom Erlös ein eigenes Haus kaufen, und die Kinder sollen auch einen Teil davon bekommen. Mal sehen, was für mich übrigbleibt.«

»Das ist sehr großzügig von Ihnen.«

»Nicht wirklich. Ich verdiene ja an den Tantiemen meiner Musik. Viele Radiosender bringen noch meine alten Titel, andere Bands covern sie. Was da zusammenkommt – aus Großbritannien, Amerika, Deutschland, Australien und sogar aus Frankreich – müsste reichen.« Er spuckte die Zigarettenkippe auf den Boden und trat sie mit dem Absatz aus. »Es wird mir trotzdem nicht leichtfallen, von hier wegzugehen.«

»Ist Meghan im Haus?«

»Nein, sie musste zum Notar wegen der Grundstücksteilung. Brosseil hat heute Morgen angerufen und gesagt, dass sie nach französischem Recht komplizierter ist, als wir dachten. Vielleicht müssen wir den Kindern die Parzelle, die sie haben sollen, für einen symbolischen Preis verkaufen.«

»Ich bin froh, dass sie uns erhalten bleiben«, sagte Bruno. »Jamie und Kirsty haben hier ihre Schulfreunde. Viele Kinder unserer Stadt haben durch Meghans Kurse im collège Englisch gelernt.«

Macrae nickte und zog einen Tabaksbeutel aus der Westentasche, um sich die nächste Zigarette zu drehen. »Sie will sich in England zur Lehrerin ausbilden lassen.«

Er fuhr mit der Zunge über den Klebestreifen am Papierchen und steckte die Zigarette an. »Ich glaube, sie wird eine gute Lehrerin sein. Sie ist noch jung und möchte nicht länger an einen alten Sack wie mich gebunden sein. Es tut trotzdem weh. Sie ist die Einzige, mit der ich es länger ausgehalten habe.«

Bruno suchte nach Worten. Mit Macrae pflegte er seit Jahren ein freundschaftliches Verhältnis, aber zu einem wirklich persönlichen Austausch war es nie gekommen.

»Haben Sie Pläne?«, fragte er.

»Nicht, solange mich nicht jemand auf‌fordert, eine Comeback-Tour zu starten, aber dafür bin ich wohl zu alt.«

»Das hat Leonard Cohen nicht aufgehalten.«

»Ja, aber meine Musik ist anders. Jedenfalls habe ich versucht, ein paar neue Songs zu schreiben, und wie bei alten Männern so üblich, mache ich mir darin ein paar Gedanken über mich selbst.«

»Die würde ich gern hören«, sagte Bruno und erinnerte sich, wie er als Jugendlicher vor dem Radio oder Plattenspieler gehockt und im Takt zu Macraes rauher Stimme und den treibenden Rhythmen seiner Begleitband mit dem Kopf genickt hatte. »Ich bin mit Ihren Platten groß geworden. Einer der Jungs aus meinem Bataillon hatte all Ihre Songs auf Kassette.«

»Das ist Schnee von gestern«, sagte Macrae. »Die Songs, an denen ich jetzt arbeite, sind anders, nicht mehr der alte harte Rock, sondern ruhigere Balladen. Nur ich und meine Gitarre. Als Jamie Weihnachten hier war, haben wir ein paar dieser Songs zusammen gespielt. Eigentlich spiele ich nur noch zum Vergnügen, aber vielleicht lässt sich ja noch was draus machen. Mal sehen.«

»Wie gesagt, ich würde sie gern hören«, wiederholte Bruno.

»Ja? Nett von Ihnen.« Macrae nickte vage, ging aber auf Brunos Bitte nicht weiter ein. Trotzdem schien es, dass er sich freute. »Kommen Sie, schauen wir uns an, was die Madame aus Paris zustande gebracht hat. Sie filmt das Anwesen mit einer Drohne. Scheint der neueste Clou bei Immobilienmaklern zu sein.« Er setzte sich mit schlurfenden Schritten in Bewegung, die Bruno an die Gehweise von Cowboys in alten Western erinnerte. Vielleicht lag es an den Stiefeln.

Eine lässig, aber elegant gekleidete junge Frau gab Bruno die Hand und stellte sich als Nathalie vor. In einem schattigen Winkel neben dem Hauptgebäude schaltete sie den kleinen Bildschirm einer Fernsteuerung an. Sie hatte das ganze Anwesen aus großer Höhe aufgenommen, war mit der Drohne langsam über den Weinberg und die Gärten geflogen und dann direkt auf das Château zu, das sie einmal im und einmal gegen den Uhrzeigersinn umkreist hatte. Vor dem mittelalterlichen Turm hatte sie die Drohne eine Weile schweben lassen und sie schließlich auf ein paar Details wie die Balkone und das prunkvolle Tor eingezoomt.

Der Film endete mit einer Vogelschau auf beide Terrassen, die vordere und hintere. Hinter dem Haus hatte Nathalie die Szene dekoriert und den Tisch mit Gläsern und einer Flasche gedeckt, nach vorne hin einen zweiten Tisch mit Tellern und Besteck wie zu einem déjeuner en famille. Auf beiden Seiten war der jeweilige Ausblick festgehalten, den man von den Tischen aus genießen konnte.

»Damit lassen sich bestimmt jede Menge Interessenten locken«, sagte Bruno beeindruckt. Ein solcher Film war sehr viel wirkungsvoller als die üblichen Fotos, die man in den Schaufenstern von Immobilienmaklern sah.

»Wirklich gut«, meinte auch Macrae. »Brauchen Sie noch etwas, oder sollen wir uns die jetzt schmecken lassen?«, fragte er und nahm die Flasche vom Tisch.

»Mir wäre lieber, Sie zeigen mir vorher das Haus«, antwortete Nathalie und gab Bruno eine Visitenkarte mit ihrem Foto auf der Vorder- und Kontaktdaten auf der Rückseite, dazu die Zulassungsnummer ihrer Drohne, auf die sie ihn eigens aufmerksam machte. »Weisen Sie mich bitte darauf hin, wenn es hier in der Gegend Flugverbotszonen gibt.« Sie wandte sich wieder an Macrae.

»Ich müsste Aufmaße erstellen und ein paar Fotos machen, vielleicht auch das ein oder andere Zimmer aufstylen. Auf diesem Preisniveau haben Klienten bestimmte Vorstellungen, wie ihr Märchenschloss aussehen soll. Die Salons sollten elegant, aber unpersönlich eingerichtet sein, die Esszimmer fürstlich und die Küchen mittelalterlich, aber natürlich mit modernen Geräten. Übrigens, könnte ich mir diesen herrlichen Basset für einen Tag ausleihen? Er ist genau der Hund, der einen Touch von Klasse vermittelt.«

Wieder den Blick auf Macrae gerichtet, fragte sie: »Haben Sie ein Jagdgewehr? Wir könnten ein paar Aufnahmen von dem Hund in der Küche machen, wobei eine Flinte am Spülbecken lehnt und ein paar tote Fasanen auf dem Tisch liegen, die darauf warten, gerupft zu werden.«

Bruno und Macrae tauschten verblüffte Blicke. »Wenn Sie meinen, dass es helfen könnte, stellt sich Balzac gern zur Verfügung, vorausgesetzt, Sie bringen ihn mir bis spätestens sechs in die mairie zurück. Die Jagdsaison ist übrigens vorüber, wir könnten allenfalls ein paar Tauben schießen.«

»Ich hätte da zwei Kaninchen, die ich heute Morgen geschossen habe, weil sie sich im Garten gütlich taten«, sagte Macrae. »Meghan wird gleich wieder hier sein. Sie könnte Ihnen bei den Arrangements unter die Arme greifen. Ich führe Sie in der Zwischenzeit durchs Haus.«

»Und ich mache mich wieder an meine Arbeit.« Bruno stand auf und bedeutete Balzac zu bleiben. »Klären Sie Interessenten bitte darüber auf, dass der Hund unverkäuf‌lich ist und nicht zur Ausstattung des Hauses gehört.«

Macrae grinste und ging ins Haus. Kurz darauf kam er mit einem kleinen quadratischen Umschlag wieder nach draußen, den er Bruno zusteckte. »Hier ist eine CD mit meinen jüngsten Sachen. Sagen Sie mir bei Gelegenheit, was Sie davon halten.«

Bruno fuhr los. Er schob die CD in den Schlitz des eingebauten Abspielgeräts, gespannt auf Macraes neue Musik. Er kannte ihn bislang nur als klassischen Rockmusiker, der auch ein bisschen Country anklingen ließ. Manche seiner Stücke waren fast balladenhaft, wie sich Bruno erinnerte. Macrae hatte immer den Bass gespielt und mit schmachtender, brüchiger Stimme gesungen. Text und Komposition der meisten Songs gingen auf ihn zurück, was wohl erklärte, dass er recht gut an den Tantiemen verdiente.

Langsame, gleichmäßige Bassklänge gaben den Takt für den ersten Titel vor. Rhythmusgitarre und Schlagzeug stiegen dann im Stil einer Countrynummer ein, und die Stimme, die gleich darauf einsetzte, klang vertraut, aber gealtert, von zahllosen Zigaretten und bestimmt auch Unmengen an Wein und Whisky angerauht. Sie sang ein langsames, melodisches und trauriges Lied, und obwohl Bruno aus dem mehr oder weniger genuschelten Englisch nicht schlau wurde, vermittelte sich ihm doch seine Stimmung. Was ihn überraschte, war das Solo, von einer anderen Gitarre vorgetragen und mit Slide, einer metallenen Fingerhülse, die den Sound verschärf‌te und mit vibrierendem, fast klagendem Ton lange nachhallte.

Die zweite Nummer war eine klassische Ballade, ein Liebeslied. Diesmal konnte Bruno zumindest den Refrain verstehen – Watching you sleep. Wieder kamen die beiden verschiedenen Gitarren zum Einsatz, und die Melodie war eingängig und neu. Der Song gefiel ihm auf Anhieb. Er würde sich ihn noch einmal anhören und die Worte mitschreiben oder von Pamela übersetzen lassen. Die nächsten Lieder übersprang er mit der Vorlauf‌taste, rief die Duette mit Jamie auf und war beeindruckt davon, wie der alte Macrae auf die klassische Gitarre seines Sohnes einzugehen verstand.

Er erkannte die aus der spanischen Klassik stammende Vorlage wieder: das Adagio aus Joaquín Rodrigos Concierto de Aranjuez. Zu Hause hatte er eine CD von Paco de Lucía, der dieses Stück spielte, von einem Orchester begleitet, dessen Streicher eine wunderbar tiefe Kulisse vor den klaren Gitarrenklängen im Wechselspiel mit einer sanft tönenden Klarinette bildeten. Ganz anders das Arrangement, das er jetzt hörte. Bruno fragte sich, wie es zustande gekommen war. Er nahm an, dass Jamie den Gitarrenpart spielte, während Macrae mit seinem Bass die Orchesterbegleitung und mit der Steel Guitar die zweite Stimme kopierte. Eine solche Instrumentierung klang natürlich völlig anders, aber nicht unpassend, sondern im Gegenteil durchaus frisch und angemessen.

War das, was Vater und Sohn im Aufnahmestudio eingespielt hatten, auch auf der Bühne live wiederzugeben?, fragte sich Bruno. Was für ein Coup wäre das für Saint-Denis, wenn Macrae sein Comeback bei einem Open-Air-Konzert am Flussufer feiern würde!

Für Publicity könnte Bruno über die Sud Ouest, das Lokalradio und die Regionalsender des Fernsehens sorgen. Sie alle würden sich eine solche Chance nicht entgehen lassen, und das Publikum käme in Strömen. Vielleicht ließe sich das Konzert auf einen Dienstagabend legen, wenn es in der Stadt den beliebten marché nocturne gab und die Freifläche hinter der Klinik mit Marktständen gefüllt war, an denen man die unterschiedlichsten Speisen und Getränke kaufen und diese dann an Tischen und Bänken verzehren konnte. Die Bühne, auf der die Konzerte stattfinden sollten, lag genau gegenüber auf der anderen Flussseite, so dass die Gäste des Nachtmarkts die musikalischen Darbietungen würden hören oder auch direkt miterleben können, wenn sie nach dem Essen ein paar Schritte über die Brücke gingen. Voller Begeisterung für eine solche Möglichkeit, drückte Bruno die Replay-Taste und hörte sich Macraes CD von vorn an.

Als er das collège von Saint-Denis erreichte und als Erstes die Stufen zu Florence’ Appartement hinaufstieg, antwortete niemand auf sein Klingeln. Er ging ins Naturkundelabor der Schule, in dem sich der beliebte, von ihr gegründete Computerclub regelmäßig traf. Ein Dutzend Schülerinnen und Schüler saßen vor Laptops und PC-Bildschirmen, als Florence’ Zwillinge aus einer Ecke, wo sie mit einem Tablet spielten, herbeigesprungen kamen, um Bruno zu begrüßen.

Sie zogen ihn mit sich zu dem Tisch, an dem sie gesessen hatten, und zeigten ihm ein selbst erstelltes digitales Bild, einen etwas eckig geratenen, braun-schwarz-weiß gescheckten Hund mit langen Ohren zwischen roten Blumen. Der sollte anscheinend Balzac sein. Bruno zeigte sich beeindruckt und riet ihnen, das Bild zu speichern, um es demnächst einmal Balzac zeigen zu können. Dass der Hund sich wiedererkennen würde, war wenig wahrscheinlich, aber Bruno fand immerhin beachtlich, dass die Kinder mit Computern schon sehr viel selbstverständlicher umgingen als er, dem sie immer noch Kopfzerbrechen machten.

Er gab Florence Macraes CD, damit sie sie für sich kopierte und per E-Mail-Anhang an die gemeinsame Freundin Amélie in Paris schickte, die für das Justizministerium arbeitete und eine phantastische Gesangsstimme hatte. Sie würde eines der Flussuferkonzerte im Juli bestreiten.

»Lass mich wissen, was du davon hältst«, sagte er. »Es sind neue Lieder von Rod Macrae und ein Duett mit seinem Sohn. Ich finde sie gut, kann aber von der CD selbst leider keine Kopie machen. Ich weiß nicht, wie das geht.«

Florence betrachtete ihn voller Mitleid, schob die CD in einen PC und gab mit der Tastatur ein paar Befehle ein, während sie erklärte, dass sie nun eine Kopie für sich erstellen und diese mit Amélie teilen wolle.

»Rod hat die Rechte daran, deshalb werde ich die Files passwortgeschützt an Amélie weiterleiten und ihr in einer separaten Mail das Passwort mitteilen«, sagte sie. »Wenn du willst, kann ich dir die CD auch auf dein Handy laden. Dann hast du sie immer bei dir. Und bestimmt finden wir auch eine App, die die Lyrics transkribiert und für dich übersetzt.«

»So was gibt’s? Ich kann damit auf meinem Handy die übersetzten Texte lesen?«

Florence schien ihn wieder zu bedauern. »Vielleicht solltest du uns öfter hier im Club besuchen und dir zumindest die Basics aneignen.«

Solchermaßen zurechtgestaucht, machte sich Bruno auf den Weg zu Pamelas Reitschule. Als er in die Auf‌fahrt einbog, vibrierte sein Handy. Wie er im Display sah, versuchte Annette, die Staatsanwältin aus Sarlat, ihn zu erreichen.

»Die Anzeige wegen mutmaßlicher Tierschutzverstöße wird vorerst nicht weiterbearbeitet, Bruno«, sagte sie. »Der procureur des Périgord und mein Vorgesetzter hier in Sarlat sind sich nicht einig, wer dafür zuständig ist. Wenn du den Vorgang beschleunigen willst, schlage ich vor, dass du dich mit unserem Freund bei der Sud Ouest in Verbindung setzt und den Tierschutzverein einschaltest. Nichts macht Anwälten so schnell Beine wie schlechte Publicity.«

Bruno führte drei Telefonate. Einer der Vorteile eines seit vielen Jahren amtierenden Landpolizisten bestand darin, über zahlreiche Kontakte zu verfügen. Als Erstes rief er den Geschäftsführer der Regionalvertretung der Société Protectrice des Animaux an. Der zweite Anruf ging an den Vorsitzenden von Jeunes Agriculteurs, einen energischen jungen Mann, dem er in der Schulzeit Rugby zu spielen beigebracht hatte. Zuletzt hatte er Philippe Delaron am Ohr, den Lokalreporter der Sud Ouest, dem er die Rufnummern der anderen beiden Kontakte und die von Sarrails Kanzlei durchgab. Das sollte schon mal einiges in Bewegung bringen, dachte Bruno.