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In der Absicht, die ungelösten Fragen im Fall Driant aufzugreifen, rief Bruno in der Klinik an und fragte, ob Dr. Gelletreau zu sprechen sei. Er behandelte gerade einen Patienten, würde aber gleich darauf seinen Schichtdienst beenden. Also machte sich Bruno auf den Weg über die Brücke zur Klinik, setzte sich ins Wartezimmer und blätterte durch abgegriffene Illustrierte. Die meisten waren voller Klatschgeschichten über Prominente und Fotos von Mitgliedern des britischen Königshauses oder weniger berühmten Vertretern des europäischen Adels, von Belgien über Schweden und Monaco bis hin zu deutschen Prinzlein, von denen er noch nie gehört hatte. Bruno fragte sich, ob die Ärzte solche Zeitschriften abonniert hatten oder ob sie von Patienten mitgebracht worden waren. Vielleicht kamen sie aber auch von Großhändlern, die überzählige und abgelaufene Exemplare auf Wartezimmer in ganz Frankreich verteilten. Unter den Illustrierten fand er eine alte Ausgabe von Pèlerin, einer christlichen Monatszeitschrift, von der er glaubte, dass sie längst eingestellt worden sei. Er hatte erst die Hälfte eines halbwegs interessanten Artikels über Wallfahrten nach Lourdes gelesen, als Gelletreau plötzlich im Türrahmen stand.

»Sie wollen mich sprechen, Bruno?«, fragte der älteste Arzt von Saint-Denis und bat ihn ins Sprechzimmer, wo Bruno ihm die Bedenken der Kinder Driants auseinanderlegte und fragte, ob er, Gelletreau, sich in der Diagnose der Todesursache des Alten sicher sei.

»Ohne Autopsie kann man nie ganz sicher sein«, antwortete dieser. »Aber ich habe keinen Zweifel an meiner Diagnose. Driant war über viele Jahre mein Patient und hatte Probleme mit dem Herzen, Arrhythmien und Herzrasen. Er nahm Blutverdünner, dann Betablocker, und schließlich habe ich ihm einen Schrittmacher empfohlen. Die unmittelbare Gefahr eines Infarkts war zwar nicht gegeben, aber in Anbetracht seines Lebenswandels wollte ich kein Risiko eingehen.«

»Lebenswandel?«

Gelletreau grinste und beugte sich vor. »Unter uns, er war ein regelrechter chaud lapin, unersättlich und völlig untypisch für sein Alter.« Als chaud lapin – heißes Kaninchen – werden in Frankreich sexuell überaktive Männer bezeichnet.

»Deshalb ist er auch diesem Rentnerclub beigetreten, wo er Frauen kennenlernen konnte, meist Witwen, in der Hoffnung, sich von ihnen verwöhnen lassen zu können«, fuhr Gelletreau fort. »Von mir wollte er immer, dass ich ihm Viagra verschreibe, was ich aber wegen seiner Herzbeschwerden für kontraindiziert gehalten und abgelehnt habe. Möglich, dass er über das Internet herangekommen ist, wovon ich ihm allerdings dringend abgeraten habe. Als Arzt kann man für seine Patienten vieles tun, sie aber nicht zwingen, einen guten Rat zu befolgen. An Driants Tod überrascht mich eigentlich nur, dass er allein war und nicht im Bett. Vermutlich wäre er am liebsten in den Armen einer Frau gestorben, auch wenn das seine Kinder nicht gern hören würden. Was beanstanden sie eigentlich?«

»Dass sich ihr Vater in der schicken neuen Seniorenresidenz bei Sarlat hat vormerken lassen.«

»Wirklich? Das Château? Das überrascht mich jetzt.«

»Ich dachte, Sie hätten ihm vielleicht davon erzählt«, sagte Bruno. »Soweit ich weiß, hat die Heimleitung Kontakt mit allen Ärzten der Region aufgenommen und ihnen ihre Dienste anempfohlen.«

»Eine sehr vornehme Adresse, ja, aber für die meisten unserer Mitbürger wohl doch jenseits ihrer finanziellen Möglichkeiten. Wie auch immer, Driant wusste von dem Heim bereits. Er zeigte mir eine Broschüre, die er in diesem Club entdeckt hatte, und fragte mich, was ich davon halte. Ich sagte, viel zu teuer, das Angebot der medizinischen Versorgung spricht allerdings für sich, und das gesellschaftliche Umfeld scheint ja auch sehr ansprechend zu sein. Man hat mich einmal durchs Haus geführt und mir ein Mittagessen vorgesetzt. Es war vorzüglich.«

»Es scheint, Driant hat sich ebenfalls dort umgesehen und eine Anmeldung unterschrieben.«

Wieder grinste Gelletreau. »Wahrscheinlich war die Verlockung durch all die Witwen zu groß.«

»Sie haben ihm das Haus also nicht empfohlen?«

»Nein, empfohlen habe ich ihm einzig und allein einen Schrittmacher, damit sein Herz wieder ruhig schlägt. Ich würde zwar nicht beschwören, dass er an einem Infarkt gestorben ist, kann aber kaum glauben, dass sein Tod eine andere Ursache hatte. Er ist offenbar von jetzt auf gleich eingetreten, sonst hätte Driant bestimmt noch versucht zu telefonieren. Für eine Autopsie gab es keinen Grund, keinerlei Verdachtsmomente. Da war nur der traurige Tod eines Mannes, der allein lebte.«

Bruno nickte und nahm sich im Stillen vor, einen Blick auf Driants Handy zu werfen. Er stand schon auf, um sich zu verabschieden, als Gelletreau fragte: »Was haben Sie in dieser Sache nun vor, Bruno?«

»Ich werde versuchen, Driants Kinder zu beruhigen. Sie haben mit einem Erbe gerechnet, doch er hat Haus und Hof an eine Versicherung verkauft, um sich die Seniorenresidenz leisten zu können. Für seine Kinder bleibt nicht viel übrig.«

Gelletreau schnaubte. »Das wusste ich nicht. Der Alte war wohl närrischer, als ich dachte. Ist der Verkauf nach Recht und Gesetz abgewickelt worden?«

»Es scheint so. Er hat ein neues Testament aufsetzen und sich von Gutachtern in Périgueux bescheinigen lassen, dass er im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte ist.«

»Verstehe. Für die Kinder tut’s mir leid. Ich kenne beide recht gut, habe sie behandelt, wenn sie krank waren. Übrigens, Claudette war einer der ersten Säuglinge, denen ich auf die Welt geholfen habe, nachdem ich hierhergezogen bin. Ein beeindruckendes Mädchen, sehr gescheit, eine Leseratte, die mehr in der öffentlichen Bibliothek gewohnt hat als zu Hause. Für den Vater war sie allerdings eine Enttäuschung.«

»Wie meinen Sie das?«

»Claudette hat in Paris studiert, wo ihr bewusst wurde, dass sie lesbisch ist. Sie wurde Feministin und sitzt inzwischen auf einem hohen Posten bei einer Beratungsfirma in Paris.« Gelletreau zuckte mit den Achseln und lehnte sich seufzend in seinem Sessel zurück, wobei er die Pose eines Geschichtenerzählers einnahm. »Sie konnte es kaum erwarten, den Hof zu verlassen, und ihr Vater nahm es ihr immer übel, dass sie ihm keine Enkel geschenkt hat. Gaston hatte ihn zwar schon mit seinen Kindern zum Großvater gemacht, aber er war ein sehr altmodischer Mann. Eine Frau sollte heiraten, sich um ihren Mann kümmern, zu Hause bleiben und jede Menge Kinder zur Welt bringen – das war seine Meinung, und daran hielt er fest.

Ich weiß, dass er darunter gelitten hat, sowohl unter Claudettes Lebensstil als auch unter der Entfremdung von ihr, aber zumindest ist sie zu seiner Beisetzungsfeier gekommen, das rechne ich ihr hoch an«, fuhr Gelletreau fort. »In gewisser Weise war er auch stolz auf sie, aber das konnte er ihr nicht zeigen. Für seine Ansichten habe ich durchaus Verständnis, denn ich bin wahrscheinlich ganz ähnlich erzogen worden wie er. Ich verstehe aber auch Claudette. Die Zeiten ändern sich, und wir müssen uns mit ihnen ändern. Driant hat das nicht so gesehen.«

»Die Vorteile der Pharmazie aber doch wohl, Viagra im Besonderen.«

»Das war aber dann auch schon der einzige positive Aspekt, den er dem modernen Leben abgewinnen konnte«, erwiderte Gelletreau und gluckste. »Ich glaube, ihm war klar, dass seine Art zu leben überholt ist. Da jetzt auch noch die Subventionen für Bergbauern gekürzt worden sind, hätte er sich ohnehin nicht mehr lange halten können, so sparsam er auch war. Er brauchte die Finanzspritze, um seine Telefon- und Stromrechnungen bezahlen und Diesel für seinen alten Lastwagen kaufen zu können. Gelebt hat er vom Erlös aus seinen Schafen und Hühnern und dem Gemüse aus seinem potager. Das Brennholz holte er sich aus seinem eigenen Stückchen Wald. Und mit seinem Feuerwasser hat er sich ein bisschen Taschengeld verdient.«

»Die beste gnôle weit und breit«, sagte Bruno.

»Ja, und ich bin froh, noch ein paar Flaschen zu haben, die mich an ihn erinnern. Immer wenn er zu mir in die Sprechstunde kam, hat er mir eine Flasche mitgebracht. Apropos …«

Gelletreau bückte sich und holte aus dem Schreibtischschränkchen zwei Gläser und eine unetikettierte Flasche, die zu zwei Dritteln mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt war. Er zog den Korken aus dem Hals und schenkte großzügig ein.

»Ja, stoßen wir an auf den alten Knaben«, sagte er und reichte Bruno ein Glas, hob sein eigenes und murmelte: »Auf Driant.«

»Hah!«, krächzte Bruno, als er sich von dem Kratzen im Hals erholt hatte. »Darauf hat er sich wirklich verstanden.«

»Umso bedauerlicher, dass er von uns gegangen ist«, meinte der alte Arzt. Er leerte sein Glas und leckte sich mit der Zunge den buschigen weißen Schnauzbart ab.

»Eine Frage noch«, sagte Bruno. »Als Sie bei ihm waren und seinen Tod festgestellt haben, ist Ihnen da sein Handy zu Gesicht gekommen?«

Gelletreau zuckte wieder mit den Schultern und schenkte einen Schluck für sich nach. »Nein, ich glaube nicht, hab gar nicht daran gedacht, danach zu suchen.«

Bruno ging zurück in sein Büro und überlegte sich, was er Gaston Driant sagen sollte, bevor er dessen Nummer in Bordeaux wählte. Er fühlte sich verpflichtet zu berichten, dass das neue Testament wirksam und sein Vater für voll zurechnungsfähig erklärt worden sei. Und dass Dr. Gelletreau keinen Zweifel an den Todesumständen habe. Inwieweit sollte er, Bruno, falsche Hoffnungen wecken, was die Rechtmäßigkeit des Verkaufs anbelangte?

»Ich weiß nicht«, sagte er, als Gaston seinen Anruf entgegennahm, »ob Ihnen bekannt ist, dass Ihr Vater als Herzpatient in Behandlung war. Sein Hausarzt hat ihm dringend nahegelegt, sich einen Schrittmacher implantieren zu lassen. Für ihn steht außer Frage, dass er an einem Infarkt gestorben ist.«

»Das ist mir neu«, entgegnete Gaston. »Er hat kein Wort darüber verloren. Aber das ist typisch und überrascht mich nicht. Er hat eine Menge für sich behalten.«

»Ich bin unschlüssig, ob wir die Ermittlungen fortsetzen sollen, Gaston«, fuhr Bruno fort. »Tut mir leid, aber Ihr Vater war offenbar entschlossen, sich in diesem neuen Heim einzuquartieren. Er hat es in Augenschein genommen und Gelletreau, seinem Hausarzt, gesagt, dass es ihm sehr gefallen habe. Wenn ich richtig verstehe, hat er Ihnen und Ihrer Schwester in seinem Letzten Willen ein paar persönliche Gegenstände und den Familienschmuck zuerkannt. Er hat also an Sie gedacht.«

»Anscheinend. Danke, Bruno, dass Sie sich für uns eingesetzt haben. Was passiert jetzt mit den Schafen und den Lämmern?«

»Darum muss sich der neue Eigentümer kümmern. Der notaire hat mir versichert, dass er dafür Sorge tragen will. Ich werde die Sache jedenfalls im Auge behalten. Vermutlich wird ein Großteil ins Schlachthaus gebracht. Übrigens, wenn Sie die Hühner haben wollen, werden Sie sie bestimmt abholen können. Dagegen wird niemand was haben.«

»Dafür ist mein Garten leider nicht groß genug, Bruno; außerdem könnte ich in meinem Wagen nicht alle transportieren. Ich schenke sie Ihnen. Nehmen Sie sich so viele, wie Sie wollen, und verteilen Sie den Rest auf andere, die bereit wären, sich um sie zu kümmern. Sie alle zu schlachten wäre doch zu schade. Sein Federvieh lag Papa immer sehr am Herzen, und die Eier sind wirklich gut.«

»Werden Sie einen Teil der Möbel abholen? Mehr hat er Ihnen und Claudette nicht hinterlassen, die Möbel und diverses Werkzeug.«

»Das Werkzeug habe ich mir schon geholt, auch ein paar kleine Erinnerungsstücke, Geschirr, das Besteck, Bücher und Fotoalben. Meine Frau hat einen Blick auf die Möbel geworfen und gesagt, wir sollten sie mitsamt den Teppichen an Ort und Stelle verbrennen. Ich konnte sie nicht einmal überreden, dass wir wenigstens die Hunde zu uns nehmen. Den Schaukelstuhl, den er selbst geschreinert hat, habe ich aber dann doch mitgenommen. Allerdings hat sie ihn in meinen Gartenschuppen verbannt.«

»Noch eins: Haben Sie das Handy Ihres Vaters gefunden?«

»Nein, ich habe nicht einmal danach gesucht. Haben Sie die Nummer?«

»Ja. Sie stand auf einer alten Rechnung. Wenn Sie das neue Testament Ihres Vaters lesen wollen, kann ich Ihnen eine Abschrift zukommen lassen. Wird wahrscheinlich nicht einfach für Sie sein, Kenntnis davon zu nehmen. Ihr Vater war nicht gut auf Ihre Schwester zu sprechen. Gelletreau meint, dass er sich mit ihrem Lebensstil nicht abfinden konnte.«

»Stimmt leider«, entgegnete Gaston kurz angebunden. Es schien, als wollte er den Anruf beenden. »Nun, das war’s dann wohl. Danke für Ihre Bemühungen.«

Nach dem Telefonat mit Gaston glaubte Bruno, die Sache habe sich erledigt. Doch dann rief Jean-Jacques an und lud ihn zum Mittagessen nach Périgueux ein, an dem auch ein Freund vom f‌isc teilnehmen würde.

»Wie versprochen, habe ich mich mit ihm in Verbindung gesetzt, und wie sich herausstellt, interessiert er sich schon des Längeren für diesen notaire Sarrail. Er ist in einem anderen Zusammenhang auf seinen Namen gestoßen. Gibt es auf Ihrer Seite Neuigkeiten?«

»Eigentlich nicht. Ich habe vorhin mit dem Arzt gesprochen, der Driants Tod festgestellt und einen Infarkt attestiert hat. Er ist sich seiner Diagnose ziemlich sicher. Der alte Mann hatte Herzprobleme und sollte einen Schrittmacher bekommen. Ich kenne inzwischen den Namen der Versicherungsgesellschaft, die Driant auszahlen wollte, damit er sich einen Platz in der schicken Seniorenresidenz leisten konnte. Sie heißt Trans-Med-Euro und hat Niederlassungen auf Zypern und Malta, in Monaco und Luxemburg. Brosseil, unser Notar hier, hat noch nie davon gehört.«

»Ich auch nicht«, sagte Jean-Jacques. »Aber bei mir blinken alle Warnlichter, wenn ich von Geldgeschäften einer Firma höre, die ihren Sitz in Monaco hat. Bin gespannt, was unser Mann vom f‌isc dazu zu sagen hat.«

»Wann wollten Sie mit uns zu Mittag essen?«, fragte Bruno. »Wie Sie wissen, haben wir dienstags unseren Markt; dann komme ich bis Mittag nicht weg aus Saint-Denis.«

»Ich weiß, deshalb habe ich unser Essen für Mittwoch vorgesehen. Mein Freund kommt mit dem Halb-zwölf-Uhr-Zug aus Bordeaux. Also habe ich einen Tisch für zwölf reservieren lassen.«

»Wo?«

»Na, wo könnten drei f‌lics in Périgueux wohl essen? Wo bekäme ich meine tête de veau? Als wir das letzte Mal dort waren, haben Sie von dem Steinbutt geschwärmt, den sie mit Muscheln als pot-au-feu zubereiten.«

»Ah, Sie meinen das Hercule Poireau«, sagte Bruno. »Den gemütlichen alten Gastraum mit der Gewölbedecke, gleich gegenüber der Kathedrale. Was war es noch mal – 14. Jahrhundert oder so, stimmt’s? Ist der Freund ein Fan von Agatha Christie?«

»In der Tat, und ob Sie’s glauben oder nicht, er heißt Hercule, Hercule Goirau. Vielleicht haben Sie schon von ihm gehört. Er war derjenige, der vor ein paar Jahren den großen Weinskandal aufgedeckt und ein paar Händler ins Gefängnis geschickt hat. Sie erinnern sich, es ging um gefälschte Etiketten und Flaschen, die, angeblich mit Châteauneuf-du-Pape abgefüllt, nach China exportiert worden sind. Er leitet inzwischen das Amt in Bordeaux und ist jemand, den man lieber nicht in die eigenen Rechnungsbücher blicken lässt. Ich hoffe, Sie haben Ihre Steuern sauber abgeführt.«

»Soll ich mich auf das Mittagessen freuen oder es mit Magenschmerzen erwarten?«, fragte Bruno lachend. »Obwohl ich für Steuerprobleme eigentlich viel zu arm bin.«

»Im Ernst, Hercule ist in Ordnung. Er hat mir sogar schon ein paar gute Investmenttipps gegeben. Aber Sie wissen ja, die Leute vom f‌isc haben Gehirne wie Rechenmaschinen. Wie dem auch sei, Hercule liebt gutes Essen und gute Weine, und das beweist doch, dass er ein anständiger Kerl ist.«