Neunzehnhundertsechsunddreißig, dachte Violet angesichts der modernen Linien in Judys Büro, ein Drittel des Jahrhunderts hatten sie schon durchlebt. Judy hatte die dunklen Möbel, die Henry bevorzugte, hinausgeworfen und eine helle Täfelung gewählt, Birke oder Lindenholz, auch ihr Schreibtisch bestand daraus. Der Spiegel über dem Konsolentisch war riesig, wirkte aber nicht so, da sein Rahmen aus durchsichtigem Glas bestand. Fließend ging das helle Holz in die elfenbeinfarbenen Lederbezüge der Sitzgarnitur über.
Violet setzte sich. Einen Krieg hatten sie durchgestanden, eine Revolution gesehen, sie hatten miterlebt, wie die Werte der alten Welt verschwunden und durch neue, härtere Gesetze ersetzt worden waren. Als eines von wenigen Ländern behauptete sich England immer noch als Monarchie. King George V. war vor wenigen Monaten gestorben, alle Segenswünsche galten seinem Nachfolger, Edward VIII. An vielen anderen Schauplätzen Europas hatten Zaren, Imperatoren und Könige abdanken müssen. Was das Jahrhundert sonst noch bringen würde, war unabsehbar.
»Wenn es nur keinen Krieg gibt.«
An Judys überraschtem Blick erkannte Violet, dass sie ihren Gedanken stimmhaft ausgesprochen hatte.
»Wie meinst du?«
»Ach, nichts.« Violet strich über das weiche Leder und überlegte, wie sie Judy umstimmen könnte. »Ich mag mir das Savoy ohne Mr Sykes gar nicht vorstellen.«
Judy schenkte Wermut ein und brachte Violet ein Glas. »Der gute Sykes hat wirklich seine Schuldigkeit getan. Die paar Jahre, die er noch hat, sollte er seinen wohlverdienten Ruhestand genießen.«
Aber wenn du Mr Sykes das Savoy wegnimmst, raubst du ihm seinen Lebensinhalt.«
»Du übertreibst ein bisschen«, lächelte Judy. »Er ist einfach zu alt für die Aufgabe des Chefbutlers. Der Job erfordert enorme Umsicht und robuste Kräfte. Beides lässt Mr Sykes seit einiger Zeit vermissen.«
Judy hatte recht, Violet wollte es nur nicht zugeben. »Dabei bemüht er sich so, sein wahres Alter zu verbergen.«
»Es sind Fehler gemacht worden, gravierende Fehler, Vi. Ständig hat Sykes etwas am Herzen, immer häufiger ruht er sich aus.«
»Er muss …« Violet überlegte. »Er muss fast achtzig sein.«
Mit einem Lächeln gab Judy zu erkennen, dass dies der springende Punkt war. »Deshalb kann und darf man Mr Sykes nicht länger zumuten, ein dreistündiges Galadinner im Stehen zu absolvieren, bis sich die Herren an der Tafel zu Zigarren und Brandy zurückziehen.«
»Für die Beaufsichtigung der großen Dinners gibt es natürlich Jüngere«, stimmte Violet zu.
»Was hältst du davon, wenn du jemanden kennenlernst, der mir wärmstens empfohlen wurde? Dieser Mann wäre ideal, um Mr Sykes zu ersetzen … oder sagen wir, um ihn zu entlasten.«
»Du hast bereits Bewerber für seine Nachfolge kommen lassen, obwohl wir uns nicht einig sind, dass Sykes gehen muss?« Der Wermut schmeckte Violet nicht, sie stellte ihn beiseite.
»Selbstverständlich geschieht nichts ohne deine Einwilligung«, räumte Judy ein. »Andererseits hast du mir den Auftrag gegeben, stets vorauszudenken.«
Judy meinte es gut, dachte Violet. Nur weil sie ein inniges Verhältnis zu dem alten Chefbutler hatte, bedeutete das nicht, dass er diesen Posten für immer ausfüllen konnte. Der liebe, gute, strenge Mr Sykes hatte Violet buchstäblich auf seinen Armen gewiegt. Damals, als sein Haar noch schwarz und sein Gang noch jugendlich gewesen war, hatte sie sich jederzeit an ihn wenden können, auch während der schlimmen Zeit, als sie mit vier Jahren ihre Mutter verlor, die Tochter von Sir Laurence. Violets Vater, der ewig erfolglose Komiker, war kurz darauf ebenfalls aus ihrem Leben verschwunden. Damals war Mr Sykes Violets Nanny gewesen, zugleich ihr freundlicher Onkel und ihr Freund. Wahrscheinlich hatte auch er den Ausschlag gegeben, dass Violet im Savoy bleiben durfte. Ihr Großvater hatte Zweifel gehabt, ob es richtig für ein Kind sei, im Labyrinth dieses Hotels aufzuwachsen. Mr Sykes hatte dafür gebürgt, dass es dem kleinen Mädchen an nichts fehlen sollte. Wenn er selbst keine Zeit hatte, um auf sie zu schauen, war sie in die Obhut mütterlicher Zimmermädchen gekommen. Er hatte ebenfalls dafür gesorgt, dass Violet schon mit fünf Jahren Französisch- und Deutschunterricht bekam. Es fiel ihr schwer, diesen guten, treuen Mann ins Ausgedinge zu schicken.
»Wer ist dieser Bewerber, den wir uns ansehen sollten?«, fragte Violet.
Judy trat einen Schritt näher. »Er heißt Timothy Cordle und dient bei Lord Trentham. Du weißt, das Anwesen der Trenthams ist riesig, und die Festivitäten des Lords sind exotisch und aufwendig. Bei einem solchen Herrn als Chefbutler zu bestehen, will schon etwas besagen.«
»Na gut. Ich werde ihn mir irgendwann ansehen.«
»Das trifft sich blendend.« Judy kehrte zum Schreibtisch zurück. »Lord Trentham ist gerade unser Gast. Cordle dürfte also hier im Haus sein.«
Violets Augen wurden schmal, sie ließ sich gegen die Lehne sinken. »Willst du damit sagen, ich soll mich für deinen Kandidaten entscheiden, bevor wir überhaupt mit Mr Sykes gesprochen haben?«
»Es ist reiner Zufall, dass Trentham zurzeit hier wohnt«, beschwichtigte Judy.
»Wirklich?« Violets Ton war scherzhaft, aber sie ließ Judy spüren, dass eine Portion Wahrheit in ihren Worten steckte. »Ist es nicht eher ein Schachzug der raffinierten Judy Wilder, die mich in dem Glauben lässt, dass ich in diesem Haus die wichtigen Entscheidungen treffe?«
»Ich fürchte, wir müssen noch über eine andere Entscheidung sprechen, Vi. Und sie wird dir noch mehr wehtun, als Mr Sykes in den Ruhestand zu schicken.«
»Was ist es?«
»Wir müssen die Stelle endlich nachbesetzen.«
»Die … Stelle?« Etwas im Innern zwang Violet, nicht gleich zu verstehen, was Judy meinte.
»Es geht jetzt nicht mehr anders. Dein Haus bricht allmählich auseinander. Ständig sind wir nur daran, das Schlimmste zu verhindern. So kann es nicht weitergehen. Es tropft durch die Zimmerdecken, die alten Heizungsrohre klopfen nachts so laut, dass die Gäste sich beschweren. So etwas darf es im Savoy nicht geben. Am schlimmsten steht es um die Elektrik. Unsere Anlage stammt aus dem Jahr 1912! Moderne Stromanlagen leisten ein Vielfaches unserer antiquierten Kiste. Wir müssen das jetzt in Angriff nehmen, Vi, wir müssen Stockwerk für Stockwerk sperren und endlich mit den Renovierungsarbeiten beginnen. Wir brauchen gute Klempner, fähige Elektriker und Heizungsmonteure. Aber vor allem brauchen wir jemanden, der die Umgestaltung beaufsichtigt und von der Behörde abnehmen lässt. Wir müssen John endlich ersetzen, Vi. Bitte verzeih, dass ich dir das so offen ins Gesicht sage. Aber die Zeit ist reif.«
»John ersetzen?«, wiederholte Violet leise. Man konnte niemanden ersetzen, der tot war, dachte sie. Natürlich war es möglich, einen Hausmechaniker zu engagieren. Seit der Wirtschaftskrise suchten Hunderttausende qualifizierte Männer Arbeit, aber einen Freund, einen Geliebten, einen Lebensmenschen konnte man nicht ersetzen. Johns Tod lag nun bereits zwei Jahre zurück, trotzdem wurde es für Violet nicht leichter, daran zu denken.
»Du hast recht«, antwortete sie dennoch. »Willst du mir diesbezüglich auch Vorschläge machen?«
»Einverstanden.« Judys Blick war offenherzig. »Ich werde mich heute noch umtun.«
Violet stand auf. Bevor sie in die Öffentlichkeit des Hotelbetriebs zurückkehrte, wollte sie gewohnheitsmäßig einen Blick in den Spiegel werfen. Sie zuckte zurück. Violet konnte ihrem Gegenüber nicht in die Augen sehen. Diese Frau war schuld an Johns Tod. Kein Gericht der Welt würde Violet jemals dafür anklagen. Sie selbst war ihr eigener Richter. Sie allein wusste, was sie getan hatte.
»Bevor du gehst …« Judy tauchte in ihrem Spiegelbild auf. »Da der Butler schon einmal im Haus ist, wollen wir Mr Cordle nicht rasch heraufbitten?« Gelassen und freundlich schaute Judy ihr über die Schulter. »Er wird dir gefallen. Ich glaube, er könnte sogar Mr Sykes gefallen.«
Alles vergeht, dachte Violet und wandte sich vom Spiegel ab. Ich muss John hinter mir lassen, aber ich habe keine Ahnung, wie.
Judy griff zum Telefon und ließ sich mit der Suite von Lord Trentham verbinden.
* * *
Timothy Cordle justierte die Hosenträger seines Herrn. In der Rechten hielt Lord Trentham den Reisebericht über die koreanische Halbinsel, den er mit Spannung las, in der Linken eine Tasse Jasmintee. Die Körpermitte überließ der Lord seinem Butler.
»Zu stramm, Timmy«, murmelte Trentham, ohne den Blick von dem Buch zu nehmen.
»Verzeihung, Mylord.« Cordle lockerte die Spangen der Hosenträger ein wenig, trat zur Seite und brachte Lord Trentham die leichte graue Weste, die an einem kühlen Apriltag wie heute zwar nicht angebracht war, doch Trentham bestand darauf. Mit geschickten Bewegungen gelang es dem Butler, den Lord einerseits in die Weste schlüpfen zu lassen, ohne dass Trentham andererseits seine Lektüre unterbrechen oder die Tasse absetzen musste. Während Cordle die Westenknöpfe schloss, ging er ein wenig in die Knie. Es wäre ihm ungehörig erschienen, auf gleicher Augenhöhe wie sein Dienstherr zu stehen.
»Wann werden Sie im Savoy antreten, Timmy?« Nach einem Schluck Tee leckte sich Trentham die Lippen, Zeichen für Cordle, die Tasse zu übernehmen und dem Herrn die Serviette zu reichen. Der Lord tupfte sich über den Mund.
»Ist die Stelle offiziell schon ausgeschrieben, Sir?« Der Butler nahm die benützte Serviette entgegen.
»Offiziell? Das kümmert mich nicht.« Der Lord entfernte sich vom Butler, obwohl Cordle gerade auf die Knie ging, um ihm die Gamaschen über die Schuhe zu streifen. Lord Trentham trat an den Rauchertisch und öffnete die Zigarrenschatulle. »Ich habe Judy Wilder erklärt, dass Sie zu haben wären. Sie zeigte sich hocherfreut darüber. Das versteht sich auch von selbst, einen Besseren als Sie wird das Savoy nicht finden.«
»Vielen Dank, Sir.« Cordle befand sich im Zwiespalt. Er hätte aufspringen und dem Lord die Zigarre präparieren müssen, andererseits verharrte er, die rechte Gamasche in der Hand, immer noch auf den Knien. »Verzeihen Sie, dass ich nochmals davon anfange, Sir, aber meinen Sie nicht, dass ich Ihnen auf der Reise durch Asien von größerem Nutzen sein könnte?«
»Natürlich, Timmy, und ich werde Sie auch schmerzlich vermissen.« Der Lord schloss die Schatulle wieder, öffnete stattdessen ein flaches Silberetui und entnahm ihm eine Zigarette. »Aber ich halte Sie für zu kostbar, um Ihr Leben in der Position eines Kammerdieners zu fristen.«
»Eine Position, die ich in Ihrer Nähe als höchst erstrebenswert erachte«, getraute sich Cordle einzuwerfen.
»Ich weiß, nichts geht über Ihre Treue und Loyalität.« Der Lord ließ den Blick über den Rauchertisch schweifen. Ein Streichholz war nirgends zu entdecken. »Aber ich möchte, dass im Leben etwas aus Ihnen wird, Timmy. Deshalb ist die Stelle des Chefbutlers im Savoy genau das Richtige für Sie.«
Geschmeidig, dabei schnell wie der Blitz, kam Cordle auf die Beine, zauberte eine Schachtel Schwedenhölzchen hervor und gab seinem Herrn Feuer. »Wann erwarten Sie die Antwort von Mrs Wilder?«
»Ich erwarte keine Antwort«, entgegnete Lord Trentham mit leichtem Stirnrunzeln. »Ich gehe von einem prompten Vollzug aus.«
»Verzeihen Sie, Sir.« Um dem Stirnrunzeln, einer der schärferen Unwillensäußerungen des Lords, zu entgehen, sank Cordle auf die Knie und brachte die Gamasche dort an, wo sie hingehörte. Dafür musste der Lord für einen Augenblick den Fuß heben, Cordle griff ihm stützend unter die Schuhsohle.
Das Telefon klingelte. In der labilen Position, in der sich Herr und Diener befanden, war es keinem möglich, zum Hörer zu greifen. Es klingelte ein zweites und drittes Mal. Die Gamasche saß, Cordle ließ den Fuß des Lords los und eilte zum Apparat.
»Suite von Lord Trentham? – Ich will nachsehen, ob Seine Lordschaft zugegen ist.« Cordle hielt die Sprechmuschel zu. »Mrs Wilder, Sir«, rief er leise und prononciert.
Ohne Eile kam Trentham näher. »Also ist es so weit. Jetzt müssen Sie sich entscheiden, mein Lieber.« Mit zur Seite geneigtem Kopf blieb der Lord vor dem Butler stehen. »Sie haben mir auf die bestmögliche Weise gedient, Timmy. Wir hatten gute Jahre miteinander, nicht wahr?«
»Die schönsten meines Lebens, Mylord. Darf ich Ihnen nochmals vorschlagen, mich als Reisebegleiter in Erwägung zu ziehen?«
Mit erhobenem Zeigefinger gab der Lord zu erkennen, dass die Entscheidung gefallen war. »Ich werde Japan bereisen, China und sogar die mongolische Steppe. Möglicherweise bin ich jahrelang unterwegs. Nein, wie heißt es so schön: Bring das Heu in die Scheuer, solange die Sonne scheint.«
»So heißt es wohl, Mylord.«
»Nun denn, Timmy: Bring das Heu in die Scheuer.«
»Wie Sie wünschen, Mylord.« Cordle erlaubte sich, zu lächeln, und machte dabei eine leichte Verbeugung. Trentham nahm den Telefonhörer entgegen.
»Liebe Mrs Wilder«, rief er etwas zu laut. Der Lord konnte sich noch nicht an den Gedanken gewöhnen, dass die Schallwellen seiner Stimme auf elektrischem Wege in andere Räume geleitet wurden. Er hatte nach wie vor die Angewohnheit, die Distanz zu einem Gesprächspartner am Telefon durch Schreien verringern zu wollen. Er lauschte einen Moment, dann zwinkerte er Cordle ungewohnt leutselig zu. »Mein Butler? Ja, richtig, wir hatten darüber gesprochen.«