»Eigentlich wollte ich lieber Shakespeare sehen«, sagte Durbollière. »Aber Ihr Chefbutler hat mir dieses Meisterwerk empfohlen.«
Freddy, Violet und der Marquet standen im Foyer. Die gegenseitige Vorstellung hatte bereits stattgefunden, wobei niemand ein herzlicheres Desinteresse an Freddy hätte zeigen können als Durbollière.
Violet erinnerte sich, den Mann mit dem Polarblick und dem besonderen Lächeln heute in der Lobby gesehen zu haben. »Was denn, gefällt Ihnen das Stück etwa nicht?«, fragte sie mit hörbarer Ironie.
Er strich die blonde Strähne aus der Stirn. »Wo denken Sie hin? Wie könnten mir Reime wie dieser nicht gefallen: Doch ein Kuss aus dem herrlichen Mund lindert Cholera, heilt den Nierenschwund.«
Freddy schaute von einem zum andern. »Wollen wir nach draußen gehen?«, fragte er Violet. »Ich finde es hier so stickig.«
Sie wollte ihren treuen Begleiter, der sie ins Theater eingeladen hatte, nicht brüskieren. Zugleich hatte sie Lust, die Anwesenheit des Mannes mit dem ungewöhnlich langen Namen noch ein wenig länger zu genießen. Violet warf dem Marquet einen Blick zu.
Durbollière schien zu verstehen und reagierte schlagfertig. »Verzeihung, rauchen Sie?«, fragte er Freddy.
»Das tue ich allerdings, wenn auch nur gelegentlich«, nickte Violets Begleiter.
»Gestatten Sie, dass ich Ihrem Freund eine Zigarette anbiete?«, erkundigte sich Omar bei Violet.
»Wenn ich mich anschließen darf«, antwortete sie, angetan von seiner Geistesgegenwart.
Sie fanden sich zu dritt auf der Sherwood Street wieder, wo Damen und Herren in leichten Anzügen und luftigen Kleidern flanierten. Der Marquet erzählte, dass er sich für ein paar Wochen in London aufhalten werde. Violet plauderte über London und den Hotelbetrieb, bis sie plötzlich die Arme vor der Brust verschränkte.
»Mir wird ein bisschen kühl.« Sie lächelte Freddy an. »Ich habe meinen Bolero im Zuschauerraum gelassen. Wärst du so nett …?«
Freddy war manchmal ein wenig naiv. Aber so naiv war nicht einmal Freddy, um nicht zu begreifen, was sich gerade abspielte. Da stand er, der rothaarige Bürohengst, der nicht dazu gekommen war, sein Haar schneiden zu lassen, und dort plauderte Violet mit jemandem, auf den nur ein Ausdruck passte: ein Bild von einem Mann. Trotzdem machte Freddy den Versuch, die Situation für sich zu entscheiden. »Die Pause ist sicher gleich zu Ende. Lass uns hineingehen, Vi.«
»Ich finde es gerade so herrlich hier«, sagte sie mit Blick auf die bunten Lichter. »Ich bitte dich, bring mir mein Jäckchen.« Sie fand ihr Verhalten nicht fair und wollte sich hinterher bei ihm entschuldigen, aber im Augenblick fühlte es sich richtig an. Freddy trat seine Zigarette aus und ging ins Theater.
»Vi?«, wiederholte Durbollière. »Hat er Sie gerade Vi genannt?«
»Ich heiße Violet mit Vornamen.«
»Wenn ich den schönen Namen Violet tragen würde, ließe ich ihn mir nicht beschneiden. Ist Violet nicht die weibliche Hauptfigur in Shakespeares Was ihr wollt?«
»Sie heißt in Wirklichkeit Viola. Mein Großvater hat den gleichen Fehler gemacht, als er mir diesen Namen gab.«
»Weshalb haben Sie Ihren Taufnamen vom Großvater erhalten?«
Violet erzählte von Larry, dem König vom Savoy. Omar eröffnete darauf, dass er marokkanische Wurzeln habe. Seine Großmutter Boutalha sei als junges Mädchen mit einem französischen Fremdenlegionär durchgebrannt. Daraufhin habe die traditionsbewusste Familie der Durbollières ihren Spross verstoßen. Er und Boutalha seien nach Paris gezogen. Jahre später sei die Familie in finanzielle Schieflage geraten, worauf der verstoßene Sohn, mittlerweile geschäftlich erfolgreich, ihnen aus der Not half und gemeinsam mit Boutalha wieder in den Kreis aufgenommen wurde. Omars Vater, der kleine Guillaume, sei damals drei Jahre alt gewesen.
Sie hörten das zweite Klingelzeichen und schlenderten ins Foyer, wo ihnen Freddy mit dem Bolero entgegenkam.
»Danke, mein Lieber.« Sie ließ sich in die Jacke helfen. »Wenn ich es recht bedenke, habe ich eigentlich keine Lust mehr, den Rest des Stückes zu sehen.«
»Du willst schon gehen?«, fragte Freddy sichtlich enttäuscht. »Ich möchte gerne wissen, wie es ausgeht.«
»Das kann ich Ihnen sagen«, mischte sich Omar ein. »Der Alte wird sterben und die beiden Liebenden kriegen sich.«
Demonstrativ wandte Freddy dem Marquet den Rücken zu. »Wenn du natürlich lieber woanders hin möchtest«, sagte er zu Violet.
»Wir können noch einen Drink im Nightingale Room nehmen«, schlug sie vor.
»Bei dir im Hotel?« Freddy malte sich aus, was nun folgen würde. Violet und Durbollière hatten die gleiche Adresse und damit denselben Heimweg. Es schien also natürlich, dass sie ihm anbieten würde, gemeinsam ein Taxi zu nehmen. Doch in diesem Punkt täuschte sich Freddy in seiner Freundin.
»Es hat mich gefreut, Mr Durbollière.« Sie gab dem Marquet die Hand. »Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Aufenthalt im Savoy.«
Nach kurzem Zögern beugte er sich zum Kuss über ihre Hand. »Es war mir ein Vergnügen, Miss Mason.«
An der Seite Freddys schlenderte Violet in Richtung Piccadilly Circus, wo die Taxis standen.
* * *
Versonnen, müde und behaglich zugleich saß Violet im Nightingale Room. Wie lange hatte sie das nicht mehr gemacht, einfach nur hier zu sitzen, gute Musik zu hören und einen Drink zu nehmen? Während sie Paulo, dem Pianisten, lauschte, ließ sie ihren Blick absichtslos in die Runde schweifen. Vor einem Jahr hatte sie die Bar umdekorieren lassen und war zufrieden mit dem Ergebnis, obwohl die Tapete ein wenig an das Fell einer Giraffe erinnerte. Nach Mitternacht bediente nur noch ein Kellner. Er, der Barmixer und der Pianist hatten Dienst bis zum Morgengrauen.
Paulo und Violet waren alte Bekannte. Sie kannte auch sein kleines Geheimnis, dass er nämlich betuchten Gästen gerne eine traurige Lebensgeschichte erzählte, wie er als ausgebildeter Konzertpianist aus Brasilien halb verhungert nach England gekommen sei und sich unter armseligen Verhältnissen durchgeschlagen habe. Kein Wort davon war wahr, doch wegen dieser Schmalzgeschichte erfreute sich Paulo üppiger Trinkgelder. Gerade spielte er den Song, nach dem in diesen Wochen alle verlangten, Pennies from Heaven. Bing Crosby hatte das Lied berühmt gemacht.
Violet trank ihr Glas leer und bedeutete dem Kellner, dass sie noch einen wollte. Auf der Heimfahrt war Freddy einsilbig gewesen, er hatte sich den Abend anders vorgestellt. Im Nightingale Room war er auch nicht mehr aufgetaut und hatte sich bald verabschiedet. Violet bedauerte einerseits, ihm den Theaterbesuch verdorben zu haben, andererseits wollte sie Freddy nicht länger als Gouvernante missbrauchen. Insgeheim machte er sich natürlich Hoffnungen, dass irgendwann einmal mehr aus ihrer Freundschaft werden könnte, aber das führte zu nichts. So hatte der Auftritt des schneidigen Franzosen also vor allem dazu gedient, Freddy die Augen zu öffnen.
Der schneidige Franzose, Violet lächelte über ihre eigene Bezeichnung. Ein adeliger Pfau war er, der sich einbildete, keine Frau könne ihm widerstehen. Sie leerte den Drink, verabschiedete sich von Paulo, der wie immer, wenn sie den Nightingale Room verließ, ihr Lieblingslied spielte, The Land Of Might Have Been.
Violet trat in die Lobby und wollte zu den Fahrstühlen weiter, als sie vor dem Haupteingang draußen jemanden zu erkennen glaubte. Schon war die Erscheinung wieder verschwunden. Obwohl sie fast sicher war, sich getäuscht zu haben, lief Violet zum Ausgang. Sie trat unter das Vordach, nahm die wenigen Stufen und stand auf der Straße.
Das Savoy lag etwas zurückversetzt hinter dem Strand, daher befand sich, wer diesen Ausgang wählte, in einer Sackgasse. Zwischen den hohen Gebäuden entfernte sich eine Gestalt so hastig, als ob ein Dieb Reißaus nehmen würde. Der Mann hatte einen wiegenden Schritt, mit dem er nicht allzu schnell unterwegs war. Unter Tausenden hätte Violet diesen Gang wiedererkannt. Sie raffte ihr Kleid und nahm die Verfolgung auf.
Es lag nicht nur am Tempo des Mannes, dass er so langsam vorankam, sondern auch an der Trägheit seines Begleiters. Der Mann zerrte eine englische Bulldogge neben sich her.
»Mr Sykes!« Violets Absätze klapperten auf dem Pflaster. »Hallo, Mr Sykes, warten Sie doch!«
Als er begriff, dass er erkannt worden war, blieb der alte Mann stehen und stützte die Hände auf die Knie. Sein Keuchen wurde von dem des Hundes übertroffen.
»Guten Abend, Mr Sykes.« Sie erreichte den Flüchtenden. »Was machen Sie denn so spät noch hier?« Das war eigentlich nicht die Frage, die Violet stellen wollte. Die wirkliche Frage lautete: Wie ist es Ihnen ergangen, seit Sie das Savoy verlassen haben?
Er richtete sich auf und setzte seine Melone zurecht. »Was wir machen? Nun, Bully und ich gehen hier manchmal spazieren.«
»Ein Spaziergang um diese Zeit?«
»Ich habe den Schlaf immer schon für eine überschätzte Tätigkeit gehalten«, erwiderte Sykes. »Und vermeide ihn daher, so weit ich kann.«
»Ich wusste nicht, dass Sie einen Hund haben.« Violet hielt dem Tier ihre Hand vor die feuchte Schnauze. Bully schnupperte.
»Vierzig Jahre lang hatte ich auch keinen. Aber seit ich nicht mehr im Dienst bin …« Er hob den Blick zu dem beleuchteten Portal. »Ich muss schließlich etwas mit meiner Zeit anfangen.«
Es gab Violet einen Stich, als er das sagte. Daher vermied sie es, Sykes anzusehen, und beschäftigte sich mit dem Hund. »Ein Schöner bist du, Bully, ja, ein ganz Schöner«, belog sie das Tier mit dem sabbernden Maul.
»Genau genommen ist Bully ein Mädchen.«
»Das ist ja lustig.« Violet kam hoch. »Mein Großvater hat einen Rüden, den alle Trudy nennen, und Sie haben eine Hundedame mit Namen Bully.«
»Im Grunde ist Sir Laurence daran schuld, dass ich mir den Hund genommen habe.«
»Wieso?«
Mr Sykes presste die Lippen zusammen. »Als es Sir Laurence so schlecht ging und wir alle schon glaubten, er sei am Ende seines Weges angelangt, hat ihm dieses kleine Wesen geholfen, sich wieder aufzurichten. So ähnlich ging es mir auch«, setzte er hinzu.
»So sehr fehlt Ihnen das Hotel?«
»Ich will nicht klagen«, antwortete Sykes mit der gewohnten Noblesse. Doch plötzlich wurden seine Augen feucht. Er wandte sich ab.
»Mein lieber, lieber Mr Sykes …« Violet lief um ihn herum und schloss ihn ohne Umstände in die Arme.
»Verzeihen Sie, Miss Mason. Es tut mir leid. Bitte lassen Sie mich.« Er versuchte, sich über die Augen zu wischen.
»Wie könnte ich Sie jetzt gehen lassen?« Violet blickte in das gute, zerfurchte Gesicht. »Sie haben mir beigebracht, wie man in einen Fahrstuhl steigt, ohne zu stolpern. Da war ich noch keine zwei Jahre alt.«
»Sie waren gerade mal ein Jahr alt, Miss Mason«, korrigierte er. »Sie konnten nämlich schon erstaunlich früh laufen.«
»Glauben Sie, ich weiß nicht, dass auch Sie es waren, der jedes Jahr die Weihnachtsgeschenke für mich besorgt hat und nicht mein Großvater?«
»Sir Laurence hatte doch so viel zu tun, da habe ich mir erlaubt, ihm das abzunehmen.«
»Und als ich ausgerutscht und in die Themse gefallen bin, wer ist da hinterhergesprungen und hat mich herausgezogen?«
»Ich fürchte, das war ebenfalls ich«, gab Sykes zu.
»Das waren Sie, Mr Sykes, und deshalb finde ich es schrecklich, dass Sie nach Mitternacht vor dem Hotel umherschleichen müssen und wie ein Fremder durch die Fenster spähen.«
»Ich danke Ihnen. Aber ich fürchte, ich ertrage es noch nicht, hineinzugehen und die Kollegen von früher zu begrüßen.«
Violet betrachtete ihn, den treuesten Menschen, den sie kannte, wie er da stand und sich an der Hundeleine festhielt. »Ich fürchte, ich habe einen großen Fehler gemacht, Mr Sykes.«
»Wie meinen Sie das?«
»Wenn es irgendjemand verdient hat, bis ans Ende seiner Tage in meinem Haus zu leben, dann sind Sie das, mein alter Freund.«
»Aber das geht doch nicht«, entgegnete er erschrocken. »Mrs Wilder hat schon recht, ich bin zu alt, um noch Chefbutler zu sein. Außerdem ist Mr Cordle …«
»Nur auf Probe eingestellt«, unterbrach sie ihn. »In einem Monat geht seine Probezeit zu Ende.«
»Das möchte ich nicht, Miss Violet. Es tut mir leid, dass ich Sie durch meine Entgleisung in diese Lage bringe. Außerdem habe ich jetzt ja Bully, und ich möchte sie nicht mehr hergeben. Wie Sie wissen, ist es dem Personal untersagt, Haustiere zu halten.«
»Sie sind kein Personal, Sykes, nicht für mich. Bitte erlauben Sie mir, von heute an Ihre Freundin zu sein.« Sie streckte dem alten Mann die Hand entgegen.
»Danke, Miss Mason.« Er ergriff sie sehr förmlich.
»Violet.« Sie ließ ihn nicht los.
»Danke, Violet.«
»Ich weiß nicht einmal Ihren Vornamen. Aber von nun an möchte ich nicht mehr Mr Sykes zu Ihnen sagen.«
»Anthony«, antwortete er, sichtlich bewegt. »Ich heiße Anthony.«
»Anthony Sykes, wie schön. Nennen Ihre Freunde Sie Tony?«
»Früher«, nickte er. »Mittlerweile sind die meisten meiner Freunde tot.«
»Was meinen Sie, Tony, ob der Nightingale Room noch geöffnet hat?«
»Die Bar des Savoy schließt erst, wenn der letzte Gast zu Bett gegangen ist.«
»Haben Sie Lust, einen Drink mit mir zu nehmen, Tony?«
Er zögerte. »Und was mache ich so lange mit dem Hund?«
Der Bullterrier glotzte zu den beiden hoch.
»Ihrer Bully geben wir auch etwas zu trinken. Es muss ja kein Champagner sein.« Sie lachte. »Kommen Sie, Tony wir heben einen zusammen.«
Gemeinsam schlenderten sie zum Eingang zurück. Der Doorkeeper bediente die Schwingtür.