»Was tust du hier?« Violet fröstelte in dem dünnen Seidenkleid. Sie hatten die Alte Heimat verlassen.
»Sag mir zuerst, was du in Berlin machst.« Max zog sein Sakko aus und legte es ihr um die Schultern.
»Ich bin wegen Olympia hier.« Violet spürte die Wärme, die noch in seiner Jacke hing.
»Du bist extra angereist, um die Nazi-Spiele zu besuchen? Niemand, der nur einen Funken Anstand besitzt, sollte hier sein.«
»Du bist auch hier«, antwortete sie verblüfft.
»Ich habe beruflich in Berlin zu tun.«
»Beruflich? Was macht der Chefredakteur der BBC in einem Berliner Bordell?«
Max nahm die Brille ab. Inzwischen trug er sie offenbar permanent. »Ich soll hier jemanden treffen.«
»Ach ja? Und hast du dir schon eine Dame ausgesucht?« Violet verstand nicht recht, warum sie ihn aufzog, wahrscheinlich, weil sie so ausgelassen war, so froh, ihn wiederzusehen. Max Hammersmith, der Intellektuelle, der geistige Chef der BBC, hatte damals, in ihrer goldenen Zeit, Violets Kreativität angekurbelt, er forderte und überforderte sie. Max war bereit, Violets handwerkliche Unfertigkeit zu dulden, weil er ihre frische Art liebte, Storys zu erfinden. Er brauchte junge Köpfe, verrückte Kreative, um das Radio mit Futter zu versorgen. Kraftvolle, scharfzüngige Texte verlangte er, Tagespolitik, Dokumentationen, Hörspiele. Obwohl sie sich zu Max hingezogen gefühlt hatte, wollte sie ihn vor allem als Autorin überzeugen. Sie wollte ihm ihren beruflichen Aufstieg nicht als Geliebte zurückzahlen müssen. Max ging auf ihren spöttischen Ton nicht ein. »Weißt du eigentlich, was vor sich geht? Du kannst nicht einfach hierherkommen, ohne zu wissen, was in Wirklichkeit passiert. In Berlin, in Deutschland, bald in ganz Europa.«
»Meinst du die Regierung? Die Sache mit den Juden?« Sie schlüpfte in die Ärmel seiner Jacke.
Er musterte sie mit zusammengekniffenen Augen. »Früher dachte ich mal, dass aus dir eine gute Journalistin werden könnte, Vi. Aber seit du in deinem goldenen Käfig sitzt, scheint es dir egal zu sein, was auf der Welt passiert.«
Ihr gefiel die Art nicht, wie er ihr früheres Abhängigkeitsverhältnis wieder aufleben ließ. Er der kühle Analytiker des Weltgeschehens, sie die dankbar staunende Schülerin, die an seinen Lippen hing.
»Ich laufe durch dieses Berlin«, gab sie zurück. »Und erlebe eine blühende, lebendige Stadt. Ich lasse mich lieber von der Wirklichkeit inspirieren als von dem, was die BBC darüber berichtet.«
»Du siehst nur die Fassade«, entgegnete er nüchtern. »Du siehst, was die Nazis dich sehen lassen wollen, jetzt, da sie von der ganzen Welt beobachtet werden.« Er warf einen Blick zum Eingang der Alten Heimat. »Wir müssen bald miteinander reden, Vi, aber ich kann hier nicht weg, bevor ich diese Person gesprochen habe. Wollen wir an die Bar?«
»Das geht nicht.«
»Wieso? Du bist gerade erst gekommen.«
»Ich habe meinen Begleiter in der Staatsoper sitzen lassen. Er lässt sich gerade von Wagner beschallen. Ich muss zurück.«
»Du bist nicht allein hier?«
Hörte sie Enttäuschung in seiner Stimme? »Allein in Berlin? Nein, ich habe jemanden bei mir, der sich bestens in der Stadt auskennt.«
»Wer ist es?«
»Das erzähle ich dir, wenn wir uns wiedersehen. Wann?«
»Morgen?«
Sie tat, als ob sie ihre Termine erst im Geist durchgehen müsste, dabei freute sie sich auf die Begegnung. »Sagen wir zum Lunch?«
»Café Kranzler?«
»Das ist nicht weit vom Savoy, oder?«
Endlich überzog jenes Lachen das Gesicht von Max, das sie so mochte. »Du bist ausgerechnet im Savoy abgestiegen?«
»Macht der Gewohnheit.« Sie grinste, schlüpfte aus seinem Sakko und gab es zurück. »Gute Nacht, Max. Bis morgen.«
* * *
Als sie die Staatsoper erreichte, bestätigte sich ihre Befürchtung. Das Gebäude war hell erleuchtet, Menschen strömten in die Sommernacht. So endlos ihr Siegfried auch erschienen war, irgendwann hatte sogar diese Oper ein Ende. Violet drängte sich zwischen den Wagnerianern hindurch und rannte die Treppe hinauf.
»Da bist du ja.« Omar erwartete sie an der Logentür. Als ob sie nur ein paar Minuten fort gewesen wäre, trat er auf sie zu und küsste ihre Hand.
»Entschuldige, Omar, ich weiß auch nicht, wie das kam. Ich war draußen, die Luft war so lind und der Abend so schön. All die Menschen …«
»Du brauchst mir nichts zu erklären«, erwiderte er sanft. »Wagner ist eben nicht für jedermann.«
»Du bist mir nicht böse?« Erleichtert berührte sie seine Wange. »Hast du die Oper wenigstens genossen?«
»Es war phantastisch. Ich habe den Brünhilde-Akt noch nie so durchlässig gehört. Bestimmte Passagen habe ich heute zum ersten Mal verstanden. Ich bin überzeugt, dass Karajan eine beachtliche Karriere vor sich hat. Er wird nicht für immer in Aachen versauern.«
»Wieso Aachen?«
»Er ist der jüngste Generalmusikdirektor Deutschlands, wenn auch nur am Theater Aachen.« Omar hakte sie unter. »Aber das soll er dir am besten selbst erzählen.«
»Was?« Sie sträubte sich. »Nein, Omar, bitte, ich bin nicht in der Stimmung, einen Dirigenten kennenzulernen, aus dessen Vorstellung ich rausgelaufen bin.«
»Ich habe Herbert versprochen, dass wir kommen. Das wäre im höchsten Grad unhöflich.«
Als eine der Letzten traten sie ins Freie. Omar führte Violet zum seitlichen Eingang.
»Es sind bestimmt noch andere interessante Leute dort«, versuchte er sie zu überreden. »Musiker, Sänger, Politiker.« Er drückte Violets Hand. »Tout Berlin wird da sein.«
Abrupt blieb sie stehen. »Ich will mich aber nicht mit tout Berlin unterhalten. Ich will wissen, was mit uns los ist, Omar. Was machen wir hier eigentlich, du und ich in Berlin? Du bist zuvorkommend, charmant, du gibst mir den Eindruck, als ob du mich sympathisch findest, dich für mich interessierst, aber zugleich … zugleich …« Sie haspelte, stockte. Es war unüblich, eigentlich undenkbar, dass eine Frau solche Fragen stellte. Dinge dieser Art sprach man nicht aus, und wenn doch, war es der Mann, der die Initiative ergriff. Die Frau hatte zu warten, bis sie erobert wurde. Violet hatte keine Lust mehr, zu warten, besonders nicht nach einem Abend wie diesem. »Also, was sagst du?«
Omar machte ein Gesicht, das eher nachdenklich als überrascht wirkte. »Das ist eine sehr direkte Frage«, erwiderte er. »Und eine direkte Frage verdient eine ebenso direkte Antwort.« Er nahm Violet in seine Arme und küsste sie.
Er küsste so gut, wie er aussah. Er war so leidenschaftlich, wie sie es sich manchmal vorgestellt hatte. Er war ein begehrenswerter Mann, der Violet zu einer Reise überredet hatte. Violet war mit ihm nach Berlin gereist, weil sie sich nach Liebe sehnte, nach Fröhlichkeit, Hingabe und ein bisschen Taumel des Glücks. Ihr Wunsch war scherenschnittartig, vielleicht naiv. Seit Johns Tod lebte sie nur noch für das Hotel, für ihren kranken Großvater und die täglichen Pflichten. Omars Kuss war das Zeichen, dass ihr Wunsch in Erfüllung gehen würde. Jetzt sollte sie sich an ihn schmiegen, seinen Kuss erwidern und ihm vorschlagen, auf dem schnellsten Weg ins Hotel zu fahren.
Violet ließ sich von Omar streicheln, sie fühlte ihre Arme um seinen Hals, seinen Schenkel an ihrem Becken, sie spürte all die äußeren Zeichen, die prophezeiten, dass dies eine leidenschaftliche Nacht werden würde. Zugleich aber spürte sie – nichts. Gar nichts. Kein Verlangen, keine Erregung, nicht das selige Flirren, das einen romantischen Kuss sonst begleitete. Violet blieb sonderbar kühl. Sie konnte nicht aufhören, sich bei dem, was sie tat, zu beobachten, sie spürte den Anflug des Bartes, der bei ihm abends bereits sprießte, fühlte das Zigarettenetui in seiner Brusttasche. Ihr entging nicht, wie geschickt seine Hände sich in der Nähe ihrer Brüste bewegten, ihren Rücken entlangglitten und den Pobacken einen Vorgeschmack von dem gaben, was noch kommen mochte. Doch Violet konnte sich seinen verführerischen Handgriffen nicht öffnen, sie empfand keine Freude daran, und das – schlagartig wurde es ihr klar – war die Schuld von Max Hammersmith.
Seit sie Max unvermutet wiedergesehen hatte, nein, weil sie ihn schicksalshaft an diesem eigentümlichen Ort wiedergesehen hatte, war für Violet ein Relais gefallen. Nicht weil sie in ihm ihre verlorene Liebe wiedererkannte und in Sehnsucht zu ihm entbrannte, sie war nur einfach nicht mehr imstande, Omar mit seiner leichtfüßigen, charmanten Attitüde ernst zu nehmen. Sie wollte ihn nicht mehr. War das launisch, wankelmütig, war es der Ausdruck von Violets Unentschiedenheit in allen Belangen des Gefühls? Oder war es mehr? Hatte sie in Omar immer nur den Prinzen gesehen, den man von Ferne bewunderte, der seinen Zauber aber verlor, sobald man ihm zu nahe kam? Omar kam ihr gerade sehr nahe. Violet suchte einen Grund, wie sie aus der zärtlichen Situation, die sie selbst ausgelöst hatte, entfliehen konnte, ohne ihn zu verletzen. Mit einer zärtlichen Geste schob sie den Marquet zurück.
»Omar …« Sie sah ihn an, dann senkte sie den Blick. Verhielten Frauen sich nicht so, wenn sie beeindruckt und durchschauert waren? Violet hoffte, dass andere Frauen sich so verhielten, sie selbst hatte wenig Übung in weiblichen Arabesken dieser Art. »Das war wundervoll.«
»Ja, das war es.« Er strich sein Haar aus der Stirn. »Und jetzt?«, fragte er im Bewusstsein seiner erotischen Meisterschaft. »Was machen wir jetzt?«
Sie lachte hell. »Weißt du was? Ich habe plötzlich Lust, auf diesen Empfang zu gehen.«
Für einen Moment musterte er sie argwöhnisch. War sein Kuss nicht der Gipfel der Herrlichkeit gewesen, schien sein Blick zu fragen. Doch schon lächelte Omar wieder, dem jegliche Vorstellung abging, dass irgendeine Frau nicht hingerissen von ihm sein könnte. »Das finde ich nett, dass du mich begleiten willst.« Er nahm ihre Hand. »Ich freue mich, dir Herbert vorzustellen.«
»Jetzt freue ich mich auch darauf«, log sie.
»Wenn wir Glück haben, ist sogar Göring da.« Zärtlich untergehakt schlenderten sie los. »Karajan steht unter seinem persönlichen Schutz.«
Sie erreichten den Bühneneingang, Omar sagte dem Pförtner, er werde auf Karajans Empfang in der Kantine der Staatsoper erwartet.