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Earl Grey

»Hitler braucht den Krieg. Er kann ohne Krieg nicht mehr lange weitermachen. Seine Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, durch die er Vollbeschäftigung schafft, verschlingen Milliarden. Er kann gar nicht so viele Juden und politisch Andersdenkende enteignen und ihre Vermögen beschlagnahmen, dass es für seine finanzielle Misere reichen würde. Wenn nicht bald etwas geschieht, stehen die Nazis vor dem Bankrott. Nur der Krieg kann sie noch retten.«

Es war ein wunderschöner Sommertag. Die Platanen vor dem Café Kranzler wiegten sich zum Klang der belebten Straße. Die Damen führten ihre reizvollsten Kostüme auf dem Kurfürstendamm spazieren, die Herren stolzierten den Berlinerinnen hinterher. Der Kaffee wurde mit einem Sahnehäubchen serviert, die Torten zierten Streusel und Zuckerglasur. Violet hatte ihren Zupfkuchen noch nicht angerührt.

»Weiter. Weiter.« Sie trank den dritten Kaffee, schöpfte die Sahne ab und packte sie auf den Kuchen. Die letzte Nacht war lang und alkoholisch gewesen. Bis vier Uhr morgens waren sie mit Leuten von der Oper beisammengesessen. Violet hatte unter Karajans Bewunderern viele Speichellecker ausgemacht, die dem Maestro die Worte am liebsten von den Lippen geküsst hätten. Karajan war ein munterer Schwadronneur, er kannte viele Theatergeschichten und ließ sich dafür beklatschen.

»Furtwängler hat eine großartige Einfühlungsgabe«, erzählte er. »Seit drei Wochen hat er sich mit Beethoven beschäftigt, und was soll ich Ihnen sagen? Schon hat er Gehörstörungen!« Der Kreis seiner Jünger wand sich vor Lachen. Karajan fuhr fort, die Monumente berühmter Kollegen zu bespötteln, um sein eigenes Monument zu errichten.

Omar hatte sich zur Runde um den Dirigenten gesellt, während Violet es genoss, nach Langem wieder einmal mit Theaterleuten zu plaudern. Für ein paar sommerliche Stunden kam das alles wieder, was sie früher geliebt hatte, die fiebrige Sorge vor Premieren, das Hickhack mit der Direktion, der ständige Kampf um die Besetzungen. Für Violet war es eine Reise durch die Vergangenheit.

Zu Beginn der Feier war ein feister Uniformierter samt Entourage einmarschiert, hatte dem schmächtigen Karajan auf die Schulter geklopft, ein Glas Sekt gekippt und war wieder abgerauscht. Danach war das Hakenkreuz noch eine Zeit lang in der Staatskantine präsent gewesen, doch nach und nach blieben die Künstler unter sich. Man schenkte der hübschen Engländerin tüchtig Weißwein ein, sie sagte auch zum klaren Korn nicht Nein. Als es draußen längst hell war, ging man mit Bedauern auseinander und versprach sich einhellig, den Kontakt nicht abreißen zu lassen. Wie oft hatte Violet das schon gehört und konnte doch vorhersagen, dass man sich heute zum letzten Mal sah. Sie und Omar fuhren ins Savoy, er brachte sie zu ihrem Zimmer. Betrunken wie sie war, fand er es wohl chevaleresk, nicht an den Kuss von vorhin anzuschließen, sondern sich zurückzuziehen.

Am Morgen darauf nahm Violet mehrere Alka-Seltzer und tat ihr Möglichstes, sich für die Begegnung mit Max in Schuss zu bringen. Den Weg zum Café Kranzler legte sie zu Fuß zurück. Die Sonne stach, sie dankte es eiserner Konzentration und ihrer dunklen Brille, dass sie sicher in der Rotunde zwischen Ku’damm und Kantstraße ankam, und sagte Max, dass sie lieber drinnen sitzen wolle.

»Der letzte Schachzug der Nazis ist raffiniert und perfide zugleich.« Max trank Tee, vielleicht, um sich eine kleine britische Insel innerhalb der deutschen Barbarei zu bewahren. »Per Reichserlass haben sie die Verklammerung der deutschen Polizei mit dem Parteiamt Reichsführer SS durchgesetzt. Weißt du, was das bedeutet?«

Violet wusste es nicht.

»Das heißt, sie brauchen sich bei der Judenverfolgung und ihren sonstigen Schweinereien nicht mehr kontrollieren zu lassen. Die SS bestimmt ab jetzt, wer verhaftet, wer deportiert wird oder wer bei einem Verhör unglücklich aus dem Fenster fällt.« Er schwenkte die Zitrone im Earl Grey. »Hast du die Kerle gestern denn nicht gesehen? Du musst sie gesehen haben, du bist ja praktisch mit ihnen zusammen ins Lokal gekommen.«

»Die Kerle?« Sie nahm die dunkle Brille ab.

»SS-Offiziere, eine ganze Rotte davon, hohe Besetzung, angeführt von einem Standartenführer.«

Violet fiel ihre kleine Verfolgungsjagd ein, als sie die Männer in den schwarzen Uniformen für muntere Nachtschwärmer gehalten hatte. Sie schämte sich, die SS-Männer nicht erkannt zu haben. Sie schämte sich schon den ganzen Morgen. Was war aus ihr geworden? Früher hatte sie sich mit dem Zeitgeschehen beschäftigt, Radiokommentare verfasst, sie hatte Buchrezensionen geschrieben, Shakespeare-Überarbeitungen verfertigt, und auch wenn sie keine politische Kommentatorin war, wusste sie, was vorging, und diskutierte die brennenden Tagesfragen. Seit sie das Hotel leitete, diskutierte sie vor allem, ob die Bettwäsche turnusmäßig überprüft wurde, weil die Zimmermädchen sonst stets die gleichen Laken in die Wäsche gaben, bis sie zu Fetzen zerfielen. Sie war eine Meisterin im Smalltalk mit Gästen geworden und konnte sich meistens nach Sekunden schon nicht mehr erinnern, worüber sie geplaudert hatte. Ein Hamsterweibchen im Laufrad des Savoy war sie geworden, während in der Welt drastische Umwälzungen vor sich gingen.

Und plötzlich tauchte Max wieder auf, dessen Begabung, hinter die Fassaden zu schauen, sie immer bewundert hatte. Er machte ihr klar, dass sie nichts wusste, nichts verstand und in sträflicher Naivität ihre Augen vor der deutschen Wirklichkeit verschloss.

»Was ist deine Aufgabe in Berlin, Max?«

Er zündete sich eine Zigarette an. »Du kennst meine Aufgabe. Ich beobachte, ich analysiere und berichte.«

Härter, ernster kamen ihr seine Augen vor. Er presste die Lippen zusammen, als ob sich das Unrecht, mit dem er konfrontiert war, auf sein Gemüt legen würde. Max sprach von der willkürlichen Führergewalt im Reich, die keinerlei Kontrolle unterlag, von Hitlers Aufkündigung der Verträge von Locarno, dem Einmarsch der Wehrmacht in das entmilitarisierte Rheinland, dem weder Frankreich noch Großbritannien Widerstand entgegensetzten.

»Wusstest du, dass unsere Regierung den Franzosen die Unterstützung für eine Rückeroberung des Rheinlandes verweigert hat? Das wäre die einzige Sprache gewesen, die Hitler versteht. Ohne Bündnispartner sind die Franzosen zu schwach, um der neuen Wehrmacht entgegenzutreten. Es ist absehbar, welche Folge die britische Schwäche haben wird. Jedem denkenden Menschen muss klar sein, dass der nächste Krieg nicht mehr aufzuhalten ist. Aber was tun die Nationen, was unternehmen die Regierungen? Sie hofieren Hitler, indem sie, ihre Spitzensportler im Gepäck, nach Berlin reisen und an den deutschen Spielen teilnehmen, an einer propagandistischen Massenveranstaltung, die die Grundsätze von Olympia mit Füßen tritt.«

Max redete sich derart in Rage, dass Gäste an den Nebentischen schon herüberschauten. Die meisten verstanden ihn wohl nicht, da er Englisch sprach, doch konnte man sicher sein?

»Morgen ist die Eröffnung«, sagte Violet leise.

Er starrte in die leere Tasse. »Wirst du dort sein?«

»Natürlich. Du auch?«

»Ich bin in der Pressekabine.«

»Wir haben … Ich glaube, wir haben sogar besonders gute Plätze.«

»Dann wünsche ich beste Unterhaltung.« Es klang zynischer, als er es meinte. Plötzlich nahm Max ihre Hand. »Geh da nicht hin, Vi. Denk dir irgendetwas aus. Du könntest plötzlich krank sein.«

»Was würde das ändern, wenn ich nicht bei der Zeremonie erscheine?«

»Du weißt, ich bin kein melodramatischer Mensch, Vi.« Er ließ ihre Hand nicht los. »Aber es ist das Böse. Ich kann es nicht anders nennen. Was in diesem Land geschieht, ist aus sich heraus falsch und böse. Mir wäre es lieber, wenn du abreisen würdest.«

Sie spürte, dass er recht hatte, und wünschte sich gleichzeitig, dass er übertrieb. »Ich bin doch gerade erst angekommen.« Sie versuchte es mit einem Lächeln.

»Wie du meinst.« Max stand so abrupt auf, dass sein Stuhl gegen die Glasfassade stieß. »Dann sehen wir uns ja morgen.« Er legte einen Geldschein auf den Tisch und verließ das Café.