»Mr Durbollière?«
»Ja?«
Ohne Umstände nahm Max am Tisch des Marquets Platz. »Man sagte mir, Sie sind der Reisebegleiter von Miss Violet Mason.«
Omar ließ die Gabel sinken, ein wenig Kartoffelsalat kleckerte auf das Tischtuch. »Wer sind Sie? Ich bin gerade beim Essen.«
»Mein Name ist Hammersmith. Ich berichte für die BBC über die Olympischen Spiele.«
»Was wollen Sie von mir?«
Max bemerkte den heraneilenden Kellner. »Wie ich schon sagte, ich suche Miss Mason.«
»Wünschen Sie zu speisen, der Herr?«, fragte der Mann mit der langen weißen Schürze.
»Ein Bier. Kalt«, antwortete Max.
»Das Savoy bietet Ihnen die Wahl zwischen Öttinger, Warsteiner, Paulaner und Hasseröder Bier, mein Herr.«
»Was würden Sie denn trinken?«, fragte Max den Kellner, um die Sache abzukürzen.
»Meine persönliche Vorliebe gehört dem Bier mit dem Auerhahn«, scherzte der Kellner.
»Dann das. Aber kalt.«
»Sogleich, mein Herr.«
Omar schnitt ein winziges Stück von der Thüringer Rostbratwurst ab. »Was wollen Sie von Violet?«
»Ich bin ein alter Freund von ihr. Wir haben uns neulich getroffen. An der Rezeption sagte man mir, sie sei abgereist.«
Omar kaute langsam und mit Genuss. »Das ist richtig, und zwar schon vorgestern.«
»Sonderbar.«
»Was ist daran sonderbar?«
»Ich habe nach London gekabelt. Die Direktion des Savoy schreibt, dort sei sie nicht angekommen.«
»Wahrscheinlich hat sie einen kleinen Umweg genommen.« Omar lächelte. »Es ist Sommer, Monsieur, Ferienzeit.«
»Aber weshalb ist sie Hals über Kopf abgereist? Die Spiele sind noch in vollem Gang.«
»Violet konnte dem Spektakel nicht allzu viel abgewinnen. Der Trubel, die Hitze, die vielen Menschen.« Omar hob die Hand mit der Gabel. »Es ist mir leider nicht gelungen, sie umzustimmen.«
Max trug Violets Brief in der Tasche. Ihre Zeilen waren deutlich. Ihr spurloses Verschwinden war mit diesem Brief nicht in Einklang zu bringen.
Lieber Max,
ich gebe Dir tausend Mal recht. Berlin ist eine Stadt im Ausnahmezustand, eine Stadt in Hypnose. Ich habe so etwas noch nie erlebt. Es ist unvorstellbar, dass wir Engländer uns einem einzigen Menschen gegenüber so verhalten könnten. Es macht mir Angst. Ich reise, wie Du mir geraten hast, heute noch ab und kehre ins Savoy zurück. Sobald ich ankomme, melde ich mich. Sollte es Deine Zeit erlauben, freue ich mich, wenn wir uns wiedersehen. Du hast mir viel über den Krieg und die Deutschen erzählt, aber so wenig über Dich. Wie ist es Dir in den Jahren ergangen? Wie geht es Susan, Deiner Frau? Ich freue mich auf ein Wiedersehen.
Beste Grüße, Vi.
Der Kellner brachte das Bier in der Flasche und goss stilvoll ein. Eine Pause entstand, in der Durbollière seine Bratwurst aß.
»Wohl bekomm’s, mein Herr.«
Max nahm den ersten Schluck. »Machen Sie sich denn keine Sorgen, wo Violet sein könnte?«
»Nein.«
»Und wenn ihr etwas zugestoßen ist?«
»Das glaube ich nicht.« Durbollière war daran gelegen, das Thema zu wechseln. »Wie finden Sie die Spiele bisher?«
»Jesse Owens lässt den Deutschen keine Chance.«
»Kann man das jetzt schon sagen? Immerhin kommen noch einige Disziplinen.«
Max tat einen durstigen Zug. »Einhundert Meter Gold, zweihundert Meter Gold, und wie er sich im Weitsprung gegen Luz Long durchgesetzt hat, das war außergewöhnlich.«
»Er hat den Deutschen nur deshalb besiegt, weil Luz Long ihm geholfen hat. Der Neger hatte schon zwei Fehlversuche, als der Deutsche ihm den Tipp gab, seine Absprungposition ein paar Zentimeter vorzuverlegen. So eine Fairness habe ich selten erlebt.«
Max musterte den Marquet. »Ihre Sympathie gehört offensichtlich den Gastebern.«
»Man muss den Deutschen eine Chance geben«, nickte Durbollière. »Sie sind wirklich bemüht, damit jedermann sich in Berlin wohlfühlt. Diese Spiele sind erstklassig organisiert und schlagen alle Rekorde. Das sollte gewürdigt werden.« Ein kurzer Blick zu Max. »Übrigens auch in der BBC.«
»Organisation allein ist nicht alles.«
»Aber damit fängt alles an.« Omar legte das Besteck zusammen. »Jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Ich bin sicher, Violet geht es gut. Bestimmt trifft sie in ein paar Tagen wohlbehalten in London ein.« Er stand auf und eilte mit raschen Schritten aus dem Speisesaal.
* * *
»Sie hat mich gesehen«, sagte Durbollière.
»Das kommt vor«, antwortete Berta Schuster.
»Sie hätte mich aber nicht sehen dürfen.«
»Solche Dinge lassen sich nicht bis ins kleinste Detail planen, Omar.«
»Das ist aber ein entscheidendes Detail.« Er stieß den Spazierstock in die weiche Erde und blickte in die Runde. »Wo bleibt er denn? Ich muss die Sache mit ihm besprechen, nicht mit dir.«
»Er wird gleich hier sein.«
Die Bank, auf der Berta Schuster und der Marquet saßen, wurde von einer alten Kastanie beschattet. So mächtig stand sie in der Mitte einer Wiese im Tiergartenpark, als ob andere Gehölze sich nicht näher an sie heranwagen sollten. Die Wiese bot freien Blick, schon von Weitem sah man, wenn jemand sich näherte.
Berta Schuster spielte mit den Falten ihres Kleides, braun mit grünen Tupfen. Der Stoff fühlte sich wunderbar an. Ein braunes Kleid passte am besten zu ihrem rostrot getönten Haar. Berta Schuster trauerte der Zeit hinterher, als sie durch strahlendes Blond aufgefallen war, ein Blond, das in der Natur nicht vorkam und ihr gerade deshalb so gut stand. Ihr feines Haar hatte das Bleichen allerdings nicht lange vertragen, daher war sie über den Umweg ihrer natürlichen Haarfarbe schließlich bei Rot gelandet. Berta Schuster liebte das Künstliche, das Kunstvolle, die phantastische Verkleidung, die aus einer Berliner Pflanze ein Geschöpf der Nacht machte, Objekt der Begierde, Circe, Femme fatale – es gab so viele Namen für die Frau, in deren Haut sie so gerne schlüpfte. Deshalb weigerte sie sich auch, den Namen Berta Schuster zu tragen, er war gewöhnlich und unerheblich, eine Frau wie sie wurde erst durch das Ungewöhnliche sichtbar. Es erschien daher natürlich, ihren bürgerlichen Namen abzulegen und sich Gemma Galloway zu nennen. Der Name war nicht nur frei erfunden, er passte als Künstlername zu der besonderen Art von Aufgaben, die Gemma für Viktor Kamarowski erledigte. Dieser Name war wie sie, preziös und voller Raffinesse.
Sie hatte die Aufgabe übernommen, Durbollière, den Berufscharmeur, zur Raison zu bringen. Er mochte aussehen wie ein Freibeuter, in Wirklichkeit war er ein ängstliches Frettchen, weichlich, durchschaubar und nur auf den eigenen Vorteil bedacht. Gemma Galloway hatte sich den Adelsspross vor Zeiten einmal in ihr Bett geholt. Sie konnte sich kaum noch daran erinnern, so gewöhnlich war die Erfahrung gewesen.
Er stand auf und begann einen nervösen Rundgang um die Bank. »Es ist wohl klar, was das bedeutet.«
»Ach ja? Was bedeutet das, Omar?«
»Violet darf nicht wiederkehren.« Er gab seiner Miene einen dramatischen Ausdruck.
»Wieso nicht?«
»Weil sie mich kompromittieren würde.«
»Wie denkst du dir das denn?« Gemma Galloway mischte ihrer Überraschung ein wenig moralische Entrüstung bei. »Glaubst du, wir wollen Violet verschwinden lassen? Ich fürchte, du hast eine falsche Vorstellung von unserem Unternehmen.«
»Genau genommen habe ich gar keine Vorstellung davon. Weshalb sollte ich Violet unbedingt aus London fortbringen?«
»Je weniger du weißt, Omar, desto verlässlicher kann dich niemand zu einer unbedachten Äußerung zwingen.« Gemma lächelte mütterlich. »Bedauerlich nur, dass dein Helfershelfer die Entführung so ungeschickt erledigt hat, dass Violet dich sehen konnte.«
»Das ist leider wahr. Ich könnte Tanguy dafür umbringen.« Durbollière machte einen hektischen Schritt aus dem Schatten und sah sich auf der Wiese um. »Wo bleibt Kamarowski? Ich muss mit ihm sprechen.«
»Viktor ist ein vielbeschäftiger Mann. Setz dich.« Kameradschaftlich klopfte Gemma neben sich auf die Bank. »Warum erzählst du mir nicht, was dich beunruhigt?«
»Dass Violet mich gesehen hat, ist schon schlimm genug. Aber jetzt ist ein Mann von der BBC aufgetaucht.«
»Max Hammersmith«, nickte Gemma.
»Wir wissen, dass er in Berlin ist. Violet hat sich mit ihm getroffen.«
»Wieso sagt man mir so etwas nicht?«
»Wozu wäre das gut gewesen?«
»Der Mann ist Reporter, ein berufsmäßiger Schnüffler. Er wird nicht ruhen, bis er Violet gefunden hat.«
»Niemand findet sie.« Entspannt ließ Gemma ihren Blick über die Parklandschaft schweifen. In der Mittagshitze fanden sich kaum Spaziergänger ein. Man hatte den Eindruck, irgendwo auf dem Land zu sein. »Du wirst weiterhin die Olympischen Spiele besuchen, Omar. Danach reist du wie vorgesehen ab.«
»Und Violet?«
»Das soll nicht deine Sorge sein.«
»Aber wenn Miss Mason eines Tages nach London zurückkehrt, wird sie schwerwiegende Anschuldigungen gegen mich erheben.«
»Deshalb solltest du London in nächster Zeit meiden. Die ganze Welt steht dir offen.«
»Der Arm der britischen Justiz reicht weit, und ich möchte nicht …« Er unterbrach sich. Hinter einer Eibenschonung tauchte ein Mann auf. Omar kniff die Augen zusammen, um den Näherkommenden besser zu sehen. Nachdem der Fremde die halbe Wiese überquert hatte, blieb er stehen, nahm den Hut ab, blickte zum wolkenlosen Himmel, zog ein Taschentuch und wischte sich die Stirn ab. Dann setzte er seinen Weg Richtung Moabit fort.
»Wo bleibt er nur?«, murmelte Omar.