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Die Augen eines Hundes

Omar betrat die Kneipe Zum weißen Schornsteinfeger. Hierher kam man, um sich zu betrinken, hier ruhten sich die Huren, manchmal auch die Schutzmänner aus, wenn ihnen die Füße wehtaten. Man fragte nicht viel im Schornsteinfeger, man erzählte nicht viel. Die Leute saßen nur da, ihre Konzentration gehörte dem Trinken. Tanguy, der Bretone, erwartete seinen Herrn. Er saß an einem Tisch und betrachtete seine großen behaarten Hände.

Abgewandt von den übrigen Gästen nahm Omar Platz. »Wie geht es ihr? Was macht sie?«

Tanguy betrachtete seine Hände. »Sie hat kein Licht. Sie kann nicht viel machen.«

»Warum gibst du ihr kein Licht?«

»Dort ist kein elektrischer Strom, mon Lieutenant.«

»Stell ihr ein paar Kerzen hin.«

»Mit Kerzen könnte sie Unfug anstellen, und ich kann nicht die ganze Zeit auf sie aufpassen. Ich habe ihren Eimer gewechselt. War fast nichts drin.«

»Isst sie?«

»Wenig.«

»Gibst du ihr genug zu trinken?«

»Jeden Tag kriegt sie eine volle Flasche, Lieutenant.«

»Bei der Hitze? Gib ihr mehr.«

»Wie Sie befehlen.«

»Bring ihr Kerzen. Sie wird froh sein, wenn sie Licht hat.«

Der Bretone betrachtete seine Hände.

Philibert hätte liebend gern mit jemandem über die Angelegenheit gesprochen, doch wie redete man mit einem, der nur dasaß und keinen Muskel bewegte? »Ich finde die ganze Sache schrecklich, Tanguy. Ich fürchte, Miss Mason wird uns in schlechter Erinnerung behalten.«

»Was soll mit ihr geschehen, Lieutenant?«

»Ich weiß es nicht. Ich meine … ich habe es noch nicht entschieden.«

»Zu lange sollte sie nicht da unten bleiben. Die Luft ist nicht gut zum Atmen.«

»Was ist mit der Luft?«

»Die Gasleitungen verlaufen gleich daneben. Es riecht sonderbar.«

»Willst du sagen, dass Gas austritt? Dann solltest du ihr besser keine Kerzen bringen. Spätestens zum Ende der Spiele ist es vorbei, Tanguy.«

Der Bretone stand langsam auf. »Wollen Sie auch etwas trinken, Lieutenant?« Er wandte sich zur Theke.

»Absinth. Und nenn mich nicht dauernd so.«

»Entschuldigung.« Tanguy ging an den Tresen und bestellte. Mit zwei Gläsern kam er zurück. »Wollen Sie sie sehen?«

»Miss Mason sehen, warum?«

»Weshalb sind Sie sonst hergekommen, in eine solche Gegend?«

»Sie sehen?« Der Marquet schüttelte den Kopf. »Nein, ich mache mir lediglich Sorgen um sie.« Philibert entdeckte schmutzige Flecken am Rand des Glases. Er stellte es wieder ab.

»Wollen Sie keinen Absinth?«

»Ich muss los, Tanguy. Brauchst du Geld?«

»Sie haben mir genug Geld gegeben.«

»Schön. Schön.« Omar hätte gehen können, aber etwas hielt ihn zurück. Er hatte niemanden auf der Welt, dem er wirklich vertraute, keine Menschenseele, bis auf seinen Burschen, mit dem er an der Marne gelegen hatte, an der Somme, überall, wo sich die französische Armee für den Stellungskrieg eingegraben hatte. Die Schlachten waren sämtlich ohne Ergebnis geblieben. Es hatte weder Sieger noch Besiegte gegeben. Man tat nichts weiter, als den Feind auf der anderen Seite anzustarren und zu warten, bis die nächste Offensive befohlen wurde. In dieser Zeit hatten die Soldaten von Frauen oder von zu Hause geträumt. Omar träumte nicht, er begnügte sich mit der Gesellschaft von Tanguy. Als ob er einen großen starken Hund um sich hätte, so kam es ihm vor.

»Wie gefällt dir Berlin, Tanguy?«

»Ich habe nichts davon gesehen.«

»Willst du bummeln gehen?« Philibert tastete nach seiner Brieftasche.

»Ich will nicht bummeln, Lieutenant. Hier ist es gut. Die Wirtin kocht anständig. Ich kann ja auch nicht fort wegen Miss Mason.«

»Gleich nachdem die Spiele vorbei sind, kannst du nach Hause.«

»Und Sie, Lieutenant?«

»Ich weiß noch nicht, wohin es mich als Nächstes zieht.«

Tanguy betrachtete seine Hände.

Philibert schob sein Glas zum Bretonen. »Trink du ihn.« Ohne ein weiteres Wort stand er auf und verließ den Schornsteinfeger.

Jeder, der Omar kannte, nahm an, dass er mehr Freunde und Bewunderinnen hatte, als ihm lieb war, aber niemand kannte ihn eben richtig. Im Freien fühlte er sich plötzlich einsam. Meistens versuchte er, seiner Einsamkeit zu entfliehen, aber heute trug er sie lieber mit sich herum. Er hätte in die Oper gehen können, Götterdämmerung. Er hätte zu den Frauen gehen können, aber eigentlich war es immer das Gleiche, egal ob Wagner oder Frauen, die unerbittliche Hausmannskost des Lebens. Ohne Ziel wandte sich Omar in irgendeine Gasse, es war egal. Er verschwand unter den Linden, die entlang der Straße standen.

Während der Marquet ging, trat hinter einer Ecke ein groß gewachsener Mann hervor. Trotz der Hitze trug er Anzug und Weste. Er nahm die Brille ab, putzte sie und setzte sie wieder auf. Max Hammersmith betrat den Weißen Schornsteinfeger.

* * *

Violet schloss die Wasserflasche. Sie ertastete das Päckchen mit der Feldration, zerbröckelte das Kommissbrot und begann zu kauen. Sie musste bei Kräften bleiben.

Schritte näherten sich, sie fuhr zusammen. Zum vierten, fünften, zum wievielten Mal bekam sie Besuch? Hätte sie mitgezählt, wüsste sie, wie viele Tage sie schon hier war. Er kam immer nur einmal am Tag, dieser Mann aus Stein. Er redete nicht, brachte Wasser und eine Feldration, er tauschte den Eimer aus. Violet hatte mehrmals versucht, ihn anzusprechen, doch die Ziegelwände, die sie umgaben, waren gesprächiger als er.

Draußen wurde der Riegel zurückgeschoben. Immer wenn das geschah, machte sich Violet schockhaft ihre Lage bewusst. Niemand ahnte, wo sie war, niemand würde ihr zu Hilfe kommen. Dieser Mann konnte sie töten, ihren Körper vergraben, niemand würde je erfahren, wie Violet Mason geendet hatte.

Der Mann aus Stein stand vor ihr. Heute kam er ohne Taschenlampe, trug stattdessen einen Kerzenleuchter. Wäre nicht so viel Angst in ihr gewesen, Violet hätte über diesen melodramatischen Auftritt gelächelt. Der Mann stellte den Leuchter auf den Tisch.

»Darf ich das Licht behalten?«, fragte sie, um ein Gespräch zu beginnen. Sein stumpfer Blick mochte ein Hinweis sein, dass er sie nicht verstand. Violet wiederholte den Satz auf Deutsch. »Wollen Sie mich einschüchtern? Sie können mich nicht einschüchtern. Zumindest nicht stärker, als ich schon eingeschüchtert bin.«

Er wandte sich zum Eimer und nahm den Deckel hoch.

»Wo bin ich? Was haben Sie mit mir vor? Wollen Sie mich umbringen?«

Er stellte einen leeren Eimer ab.

»Warum reden Sie nicht mit mir?«

Er tauschte auch die Wasserflaschen aus.

Violet hatte genug von der einseitigen Unterhaltung, sprang auf ihn zu und packte den Mann bei den Schultern. »Sie können mich nicht ewig hier festhalten. Was soll mit mir geschehen?«

Sie schaute in die Augen eines Kindes. Nein, kein Kind, das waren die verständnisvollen Augen eines Hundes. Ein Hund, der nicht beißen wollte, seine Aufgabe, sie zu bewachen, aber sehr ernst nahm. Er war der Wachhund, an dem sie nicht vorbeikam. Seine riesige Hand näherte sich, er betastete ihren Bluterguss am Wangenbein. Violet zuckte zurück. Ein Ausdruck des Bedauerns trat in die Hundeaugen. Mühelos schüttelte er ihre Hände ab und ging zur Tür.

Sie konnte ihre Panik nicht länger unterdrücken. »Ich will, dass Sie mich gehen lassen!« Sie stürzte ihm nach. Die Tür schloss sich vor Violet, der Riegel wurde vorgeschoben.

Er hatte den Leuchter zurückgelassen. Zwei Kerzen, die eine war halb heruntergebrannt. In ihrer Einsamkeit, ihrer Verzweiflung empfand Violet das fensterlose Zimmer zum ersten Mal als Heim. Der Sessel war mit rotem Samt bezogen. Das Bett hatte eine Wolldecke mit dem Aufdruck Bat5-Zg12, die Soldatendecke aus einem Regiment, das es längst nicht mehr gab. Wie ein blindes Tier aus der Tiefsee hatte Violet die letzten Tage verbracht. Sie musste ihre Augen erst wieder an das Sehen gewöhnen. Ängstlich trat sie vor den Spiegel im Barockrahmen, den sie bisher nur ertastet hatte. Sie rechnete mit einem schlimmen Anblick, mit der beginnenden Entmenschung der Gefangenen. In den vielen Stunden ihrer Dunkelheit hatte Violet an den Grafen von Monte Christo denken müssen, jenem heroischen Roman, in dem der Titelheld sein Leben jahrelang in einer lichtlosen Zelle fristete und nach seiner Flucht schockiert vom eigenen Spiegelbild war. Violet dagegen sah ganz passabel aus. Blasser war sie, die Haare wirrer als sonst, aber nicht einmal der Bluterguss im Gesicht gab das Elend wieder, das sie empfand. Sie war eingesperrt in einem Zimmer unter der Erde. Violet blies eine der Kerzen aus. Sie wollte sparen, wollte so lange Licht im Zimmer haben, wie nur möglich.