Violets Hände waren verbunden, das Blut auf ihrer Stirn bildete eine dunkle Kruste. Obwohl man ihr das Haar geschnitten hatte, waren manche Stellen verbrannt und angekohlt.
»Mein Gott. Wie hast du das nur überlebt?«
»Durch dich. Woher wusstest du, wo ich war?«
»Ich wusste es nicht.«
»Aber wie konntest du dann …?«
»Du musstest in diesem Haus sein. Als das Feuer …«
»Ich habe das Feuer selbst gelegt.«
»Das war klug und dumm zugleich.«
»Das Gas.«
Sie sank auf das schmale Bett. Ihr Atem ging rasselnd. Entkräftet sah sie sich um. »Wie hast du das alles herbeigezaubert, Max?«
»Was denn?«
Sie zeigte in die Runde. Wo man hinsah Mahagoni, fein poliert, als ob es als Spiegel dienen sollte. Der Deckenbogen war beleuchtbar, das Bett in blauer Seide bereits aufgeschlagen. Hinter der Zwischentür ein zweites Bett. Ein Fauteuil war in die Ecke eingepasst, daneben ein Waschtisch mit verzinkter Armatur. Längsseits das breite Fenster, an dem die Welt vorbeifuhr.
»Wie hast du das gemacht?«
Max hob ihre Tasche in die Ablage. »Ich bin akkreditiertes Mitglied im internationalen Presse-Corps, außerdem habe ich den Schaffner bestochen.«
»Das muss dich ein Vermögen kosten, Max.«
Er schmunzelte. »Es kostet ein Vermögen. In diesem Abteil ist zuletzt der Sultan von Bahrain gefahren. Der Schaffner hat es mir erzählt.« Er half Violet aus der Jacke. Sie lachte, weil das alles so schön war. Sie hustete, hustete heftiger.
»Du hättest im Krankenhaus bleiben sollen.« Er setzte sich zu ihr.
»Ich bin froh, dass der Arzt mich gehen ließ.«
»Was kann ich für dich tun?«
»Sag mir, sind meine Wangen ungewöhnlich rot?«
Er hob ihr Kinn. »Nein, bleich.«
»Bleich ist gut«, nickte sie. »Bei Vergiftungen durch Kohlenmonoxyd sehen die Leute manchmal aus wie das blühende Leben.« Sie streckte ihm die Zunge entgegen. »Und was ist damit?«
»Deine Zunge ist …« Er zögerte. »Blau angelaufen.«
»Das hat der Arzt vorhergesagt. Es kommt vom Cyangas.«
Max stand auf, öffnete das Fenster. Auf dem Perron verabschiedeten sich Menschen, lachend, weinend, in vielen Sprachen. »Wir hätten nicht gleich fahren sollen. Was machen wir, wenn es dir unterwegs wieder schlechter geht?«
Sie richtete sich auf. »Mit jeder Meile, die wir uns von Berlin entfernen, wird es mir besser gehen, das verspreche ich dir. Ich brauche nur dieses … wie heißt es? Natriumthiosulphat.«
Er holte eine durchsichtige Dose mit weißem Pulver aus der Tasche. »Woher weißt du so viel darüber? Du hast mit dem Arzt regelrecht gefachsimpelt.«
»Aus dem Krieg. Ich sagte es dir schon.«
»Das kann nicht sein. Als der Krieg begann, warst du gerade acht Jahre alt.«
Sie zögerte. »Du hast recht. John hat es mir beigebracht.«
»Woher wusste er es?«
»John ist als Junge etwas Ähnliches passiert. Seine Eltern waren ausgegangen. Er sollte auf seine kleine Schwester aufpassen, aber er stand draußen mit Freunden im Garten. Im Haus ist eine Kerze umgefallen, der Vorhang hat Feuer gefangen. Die Schwester war zu klein, um die Tür zu öffnen. Sie kam nur knapp mit dem Leben davon. Damals war der Krieg schon ausgebrochen. Die Ärzte hatten viel zu tun. Die ganze Zeit über blieb John bei seiner Schwester im Krankenhaus. Er gab ihr Sauerstoff und Medikamente. Er salbte ihre Verbrennungen, las ihr Geschichten vor, wenn sie Schmerzen hatte.«
»Soll ich dir auch Geschichten vorlesen, wenn du Schmerzen hast?«
»Das wäre wundervoll, Max.«
Eine seltsam schweigende Sekunde.
»Ich will mal sehen, ob der Schaffner …«
Sein Satz blieb unvollendet. Mit einem Ruck setzte sich der Zug in Bewegung. Aufgeregte Rufe, Türen wurden zugeschlagen, ein langgezogener Pfiff. »Berlin, Bahnhof Zoo!«, hallte eine Stimme über den Bahnsteig. »Abfahrt Reichsbahn nach Ostende, über Hannover, Dortmund, Köln. Nächster Halt: Berlin-Spandau. Reisende der ersten Klasse …« Der Rest ging im Stampfen der schweren Räder unter.
Max schloss das Fenster. »Bist du müde?«
»Ein bisschen.«
»Hast du Hunger?«
»Nicht besonders.«
»Wir könnten uns etwas aus dem Speisewagen servieren lassen.«
»Alles ist ganz wunderbar, Max.« Sie öffnete die Dose mit dem Pulver.
»Ich helfe dir«, sagte er, als sie mit den bandagierten Händen nicht zurechtkam.
Violet nahm ihre Medizin. Sie fuhren durch dicht bewohntes Gebiet. Knapp vor ihrem Fenster huschten Hausfassaden vorbei. »Ich werde Berlin nicht so schnell vergessen.«
»Das solltest du aber.«
Ein kurzer Schmerz, ihre Lider zuckten. Violet betrachtete die Häuser, wie Schlote ragten sie zu beiden Seiten empor. »Wenn wir nur schon da wären.«
»Das ist ein Zug der Deutschen Reichsbahn«, sagte er.
»Ja, und?«
»Der macht sechzig Meilen die Stunde. Etwas Schnelleres gibt es derzeit nicht auf der Welt.«
Endlich wurde der Blick weit. Der Zug nahm Fahrt auf.