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Der Faschist

Das Savoy war vorbereitet. Das Savoy gab sich die Ehre. Nichts wurde im Savoy dem Zufall überlassen. Die Liftpagen berichteten Otto, wen sie täglich transportierten. Otto fertigte Listen mit den Besonderheiten dieser Gäste an, die die offiziellen Namenslisten vervollständigten. In seinen Einträgen notierte Otto die täglichen Gewohnheiten eitler Ladys, die Verschwendungssucht eines bekannten Tennisspielers, die Sparsamkeit von Jungverliebten, die ihr letztes Erspartes zusammengekratzt hatten, um sich das Savoy zu leisten. Otto unterschied Hundenarren, die sich nie von ihrem Tier trennten, von solchen, die den Hausdiener mit den Tölen zum Spaziergang schickten. Er unterschied liberale Juden von solchen orthodoxen Glaubens. Er durchschaute ältere Herren in Gesellschaft leichter Mädchen, die sie als ihre Cousine vorstellten, begrüßte ambitionierte amerikanische Maler, die das Geld ihres Vaters durchbrachten, er bat eine spanische Tanztruppe, nicht so laut zu sein, und half einem Kleinwüchsigen mit dem Handgepäck.

Meistens schwebte in den Aufzügen des Savoy die übliche Mischung aus englischen Familien, verwitweten Professorengattinnen und Gouvernanten auf und ab. Otto notierte magenkranke Ärzte, Herausgeber von Zeitschriften mit intellektueller Tendenz, wohlhabende Greise mit verarmten Verwandten, die von den Alten wie Sklaven gehalten wurden.

Nicht nur Otto machte sich Notizen, auch der tüchtige Timothy Cordle überwachte die Vorgänge im Hotel. Er hatte zwei Männer engagiert, die seine Augen und Ohren auf den Korridoren und in den Gästezimmern waren. Die Barkeeper und einige Kellner waren ausgewechselt und durch Männer ersetzt worden, die in Cordles Diensten standen.

Sämtliche dieser Listen liefen im Büro von Judy Wilder zusammen, die wiederum die Entscheidung traf, welcher Gast in welchem Zimmer einquartiert wurde und bei wem die Apparatur zum Einsatz kommen sollte. In Fällen von politischer Brisanz oder wenn es um das Intimleben eines Parlamentariers ging, bat man Charlie Saunders persönlich, die Maschine zu bedienen.

Heute stand so eine Überwachung an. Die Herzogin von Londonderry erwartete Besuch in der Erkersuite. Lady Edith gehörte zum Team der Außenspieler des Savoy, wie Kamarowski das nannte. Seit sich die Herzogin vor Jahren mit Paul Silverberg, einem frühen Sponsor Hitlers, getroffen und ihm Informationen über den damaligen britischen Premierminister zugespielt hatte, besaß Kamarowski ein Druckmittel, womit er Lady Edith von Zeit zu Zeit motivieren konnte, brisante Verabredungen zu treffen. Silverberg war als Jude bei Hitler inzwischen in Ungnade gefallen und in die Schweiz emigriert, wo er jedoch nicht müde wurde, den Gipfelsturm des Führers zu bewundern.

Heute Abend war Sir Oswald Mosley, der sechste Baronet of Ancoats, bei Lady Edith zu Gast. Gleich nachdem die Rezeption das Eintreffen des Baronet durchgegeben hatte, stieg Charlie Saunders in den Keller, setzte die Kopfhörer auf und stellte sich auf einen langen Arbeitsabend ein.

Sir Mosley war ein Mann von vierzig Jahren, der sich eine liebenswürdig jungenhafte Ausstrahlung bewahrt hatte. Er trug das Haar in Wellen frisiert und ließ sich einen dunklen Schnäuzer stehen. Dieser freundliche Gentleman war die eine Seite Mosleys, man kannte ihn jedoch auch anders. Nach seinem Militärdienst war er zuerst für die Konservativen, später für die Labour Party ins Parlament gezogen. Inzwischen hatte Mosley seine eigene Partei gegründet, die er die British Union of Fashists nannte. Obwohl die BUF bei Wahlen nur wenige Stimmen gewann, sah Mosley den Faschismus als den einzig richtigen Weg für Großbritannien an. Er hatte eine Studienreise nach Italien gemacht, wo er Mussolini auf mehreren Großveranstaltungen begleitet hatte. Zurückgekehrt richtete er seine Partei streng antikommunistisch und populistisch aus. Vor seiner eigenen Anhängerschaft hielt er Reden in engen schwarzen Hosen und einem Gürtel mit auffälliger Schnalle. Seine Leibwache, die Blackshirts, nannte er faschistische Verteidigungseinheit. Mithilfe dieser Schlägertruppe organisierte Mosley gewalttätige Aufmärsche und Ausschreitungen, die sich gegen jüdische Gruppierungen in London richteten. Diese Aufmärsche hatten bereits Menschenleben gefordert.

Lady Edith hatte die Erkersuite gegen die Sonne abdunkeln lassen. Sie und Mosley setzten sich ins Zwielicht.

»Haben Sie den Leitartikel in der Daily Mail gelesen?«, fragte der Baronet. Er hatte Lady Ediths Einladung zu einer Tasse Tee abgelehnt, Mosley trank ausschließlich destilliertes Wasser, was dem Zimmerservice kurzfristig Kopfzerbrechen bereitet hatte. »Auch der Mirror schwenkt bereits mehr und mehr auf meine Linie ein.« Der Baronet saß zurückgelehnt auf der geblümten Chaiselongue, die Hände rechts und links auf den Sitz gebreitet.

»Was sind Ihre nächsten Pläne?«

»Die Zerschlagung des jüdischen Gettos in East London«, antwortete er lässig. »Dort haben sich jüdische Einwanderer mit den Kommunisten zusammengeschlossen. Es dürfte ein explosives Aufeinandertreffen werden.«

»Fürchten Sie das Eingreifen der Polizei denn nicht?«

»Ich fürchte weder das Judenpack noch die Metropolitan Police.«

»Das Judenpack«, hörte Charlie Saunders mehrere Stockwerke tiefer. Die nächste Frage der Herzogin entging ihm, da er die Schellackplatte wechseln musste. Währenddessen entstand jedesmal eine Kluft von mehreren Sekunden, die in den Aufzeichnungen fehlte. Er platzierte die Nadel auf der neuen Platte, nahm Platz und schob den Kopfhörer zurecht.

»Die jüdische Einwanderung ist ein Krebsgeschwür, das England befallen hat«, hörte er Mosley sagen. »Im vergangenen Jahrhundert kamen die Juden scharenweise aus Russland zu uns, heute strömen sie aus dem Herzen Europas hierher. Wir müssen die Flut der Juden drastisch reduzieren. Dazu brauchen wir die Unterstützung Deutschlands.«

»Sind die Deutschen denn nicht ebenfalls daran interessiert, ihre Juden loszuwerden?«, entgegnete Lady Edith.

»Nicht unbedingt. Durch die massenhafte Abwanderung des jüdischen Kapitals entstehen dem Deutschen Reich Verluste in Milliardenhöhe. Hitler muss dieses Kapital in Deutschland halten. Was er mit den Juden selbst macht, ist eine andere Frage.«

Um kein Wort zu verpassen, stützte Charlie die Ellbogen auf den Schreibtisch und presste die Kopfhörer mit beiden Händen an die Ohren.

»Man muss ihnen die Fluchtwege abschneiden. Die meisten kommen über den Kanal. Dieses Nadelöhr muss man für Emigranten schließen. Leider weigert sich unsere Regierung, zu solchen Maßnahmen zu greifen. Außerdem gibt es Geschäftemacher, die reichen Juden zur Flucht verhelfen. Baron de Rothschild ist einer davon.«

»Ich dachte, Rothschild hilft den Juden zur Ausreise nach Palästina.«

»Palästina steht unter britischem Mandat.« Mosley zuckte die Schultern. »Das Problem wird also nur verlagert. Über kurz oder lang wird die Mischpoke auch in England an die Tür klopfen. Die Judenfrage ist nur radikal zu lösen.«

»Wären Sie bereit, sich für so eine Lösung stark zu machen?«, fragte die Herzogin.

Das Zusammentreffen der beiden beanspruchte einen Zeitraum, bei dem Charlie zehn Schellackplatten bespielen musste. Es war eines der ergiebigsten Gespräche, das er je aufgezeichnet hatte. Nachdem Mosley sich aus der Erkersuite verabschiedet hatte, beschriftete Charlie das Material. Diesmal wartete er nicht, bis Miss Rachel die Aufnahmen transkribiert hatte, sondern machte sich, die Plattenschachteln unterm Arm, direkt auf den Weg zu Mrs Wilder. Ein zufriedenes Lächeln spielte in Charlies Gesicht.