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Für England

»Es ist falsch, Großvater. Es ist unlauter.« Violet saß am Bett von Sir Laurence. Sie sprach zu seinem rechten Auge, das Violet wachsam musterte. »Zugleich ist es ein Plan, der die Geister, die in unserem Hotel Einzug gehalten haben, bannen könnte. Aber ist es nicht falsch, Bosheit mit Bosheit zu bekämpfen, Großvater? Sollte es nicht eine andere, eine ehrliche Methode geben?«

Während Violets Gedanken wie Weberschiffchen hin- und herflitzten, fuhr sie sich angespannt durch ihr Haar. »Die Aufgabe unseres Hotels ist es, dass die Menschen sich hier amüsieren und erholen sollen. Von hier aus wollen sie London erkunden. Sie bezahlen viel Geld für dieses Privileg, und es ist unsere Aufgabe, sie bestens zu bedienen und exquisit zu bewirten. Was hinter verschlossenen Zimmertüren geschieht, geht nur unsere Gäste etwas an. Es ist verabscheuungswürdig, wenn wir uns als Horcher hinter der Wand verstecken und die Gespräche von rechtschaffenen Leuten belauschen.«

Violet suchte eine Antwort im Auge des Großvaters.

»Ich habe Sir Sinclair gesagt, dass ich diese Anlage nicht in meinem Haus haben will. Ich habe um die Hilfe von Scotland Yard gebeten. Das war richtig, nicht wahr? Ich weiß, dass du an meiner Stelle nicht anders gehandelt hättest. Im Savoy hat ein verbrecherischer Vertrauensbruch stattgefunden. Ist es nicht der einzige Weg, darauf zu reagieren, indem man die Polizei bittet, die Verbrecher unschädlich zu machen? Doch das scheint weder die Absicht von Admiral Sinclair zu sein noch das Bestreben des Premierministers. Kannst du dir das vorstellen, Großvater? Im Übrigen bin ich sicher, dass diese Herren mich nur deshalb nach Downing Street geholt haben, um mich einzuschüchtern. Der Premierminister hätte bei diesem Gespräch gar nicht anwesend zu sein brauchen. Es war die Strategie der Gentlemen mit ihren besorgten Gesichtern und den Respekt einflößenden Uniformen, mich zu überzeugen, nein, manipulieren wollen sie mich. Sie hoffen, dass ich Kamarowski treffen werde. Natürlich fragte ich, warum sie den Mann nicht sofort verhaften. Keiner von ihnen hat mir darauf eine klare Antwort gegeben. Brauchen Sie Kamarowski etwa für ihre Zwecke? Wenn ja, wie sollte ich ihnen dabei helfen können? Ich hatte tausend Fragen, Großvater, und ich glaube, Max ging es genauso. Aber nachdem wir Number 10 verlassen hatten, bestand sein ganzer Rat darin, dass ich die Sache erst mal überschlafen soll. Max war verändert, ernüchtert, ich habe zum ersten Mal gesehen, dass er vor etwas Angst hatte. Diese Sache macht ihm genauso große Angst wie mir, Großvater.«

Unruhig stand Violet auf und lief ein paar Schritte. Im Hintergrund hob Trudy den Kopf, in der Hoffnung, dass es schon Zeit für den Abendspaziergang sei.

»Ich brauche das nicht zu überschlafen, Großvater. Dieser Plan ist absurd, er ist falsch, und ich will damit nichts zu tun haben.«

Violet lief in die Dunkelheit, die in Larrys Schlafzimmer überall herrschte, außer rund um das Bett. Trudy folgte ihr, sprang an Violets Beinen hoch, endgültig davon überzeugt, dass es gleich nach draußen gehen sollte. Sie streichelte den kleinen struppigen Hund und sah zu Larry hinüber.

»Ich habe Berlin gesehen, Großvater. Ich habe Hitler gesehen, seine Aufmärsche, die ganze vorgeführte Glorie und den gefährlichen Schein, den dieses Regime um sich erschafft. Und ich habe Mr Baldwin gesehen, unseren Premierminister, einen rechtschaffenen Mann durch und durch. Ein Mann, dem der Größenwahn des deutschen Führers ein geradezu körperliches Unbehagen bereitet. Ich habe seine traurigen Worte gehört über die schwere Aufgabe, vor der England steht. Ich habe verstanden, als er davon sprach, dass ein neuerlicher Krieg nicht ausgeschlossen sei, und begriffen, worum es in diesem Fall geht, Großvater. Dann kam der Abschied. Weißt du, was Mr Baldwin zu mir sagte, als er mir die Hand gab?« Violet holte tief Luft. »Ihre Regierung bittet Sie um Hilfe, Miss Mason. Ihr Land braucht Ihre Unterstützung. Das waren seine exakten Worte. Was soll ich jetzt machen, Larry? Was soll ich denn nur tun?«

Sie sprang auf und floh förmlich ans Bett des Großvaters zurück. »Ich weiß, was richtig ist, Larry, ich ahne es zumindest, aber ich kann nicht sagen, ob ich die Richtige dafür bin. Hilf mir, Großvater. Willst du mir helfen?«

Violet nahm den Schreibblock und den festen Bleistift vom Nachttisch. Früher war Larrys linke Hand noch von Leben erfüllt gewesen. Inzwischen hatte er schon lange nichts mehr geschrieben. Trotzdem schob sie den Stift sanft zwischen seine Finger und legte das Papier darunter.

»Ich bitte dich, Larry. Ich bitte dich von ganzem Herzen.«