KAPITEL 1
IN DIE WILDNIS

Jack London stand auf dem Deck der Umatilla und blickte auf den Hafen von San Francisco zurück. Er fragte sich, wann er seine Heimatstadt wiedersehen würde. Er war mit Fernweh im Herzen geboren worden, suchte das Abenteuer und hatte keine Angst vor den Gefahren von Reisen ins Ungewisse. Sobald die Umatilla die Bucht von San Francisco verließ, wäre er unterwegs in den Yukon, fernab der Zivilisation im eiskalten Norden, wo angeblich riesige Mengen Gold entdeckt worden waren und jeder zum Krösus werden konnte.

Doch es war nicht nur das Gold, was Jack in den Yukon lockte. Wenn man ihn vor die Wahl gestellt hätte, wäre er auch nur wegen der Reise selbst gefahren und hätte allein wegen des Abenteuers alles riskiert. Er hatte in seinem abenteuerlustigen Herzen die fixe Idee entwickelt, dass die Wildnis des Nordens auf ihn wartete.

Jetzt lehnte er an der Reling der Umatilla und atmete die Gerüche ein, sah sich das Panorama an und lauschte dem Trubel und dem Chaos um sich herum. Noch nie zuvor hatte er so eine bunte Menschenmischung gesehen. Menschen jeder Herkunft, Rasse und jeden Glaubens waren an Bord. Obwohl der Geruch des Meeres so stark war, konnte man doch ein Dutzend weiterer Düfte ausmachen. Am Steg verkaufte man geröstete Nüsse. Direkt neben Jack stank jemand nach billigem Fusel. Manche rochen nach Gewürzen, Rauch oder Essen, andere hatten dringend ein Bad nötig. Jack war Landstreicher gewesen, Austernpirat und Häftling und hatte Freunde gehabt, die seit Ewigkeiten nicht gebadet hatten. Aber der Gedanke, wie es unter Deck riechen würde, bis sie in Alaska waren, ließ ihn erschaudern.

Man munkelte, der Dampfer hätte doppelt soviel Passagiere an Bord, wie zugelassen waren, und das glaubte man sofort. Jack und Shepard, sein älterer, kränklicher Schwager, hatten ihre Ausrüstung eigenhändig im Frachtraum verstaut und mussten sich dazu durch eine Menge von Goldgräbern, Seeleuten und einfachen Tagelöhnern, aber auch von Söhnen aus reichem Haus zwängen, die ihr Glück selbst suchen wollten.

Nun nahmen sie an der Reling Abschied von San Francisco.

»Kein Grund zur Wehmut«, fand Shepard. »Die Stadt wird immer noch da sein, wenn wir wiederkommen, genauso wie jetzt.« Er sah Jack aus dem Augenwinkel an, und seine sonst funkelnden Augen schienen matt und leer. »Meinst du, wir haben uns verändert?«

Jack dachte an die Entbehrungen, die sie auf sich nehmen müssten. Er hatte schon siebzehn ereignisreiche Jahre gelebt. Für ihn war die Zukunft übervoll mit Möglichkeiten, die ihn mit einer Stimme riefen wie der Wind in der Wüste oder das Echo des Waldes zwischen weiß bedeckten Bäumen nach einem schweren Schneesturm. Diese Stimme nannte er den Ruf der Wildnis, und sie ließ Jacks Herz wie nichts anderes höher schlagen.

»Wir werden uns verändern, John, aber nur zum Guten«, erwiderte er schließlich. »Abenteuer lassen den Menschen wachsen.« Die andere Möglichkeit erwähnte er lieber nicht: Man kann bei Abenteuern auch zugrunde gehen. Doch Shepards Blick sagte ihm, dass dieser sehr wohl die brutale Wahrheit kannte.

John Shepard war ein großer Mann, den die Krankheit klein gemacht hatte. In seinen Augen leuchtete noch der Elan der Jugend, doch sein Körper war von den grausamen Spuren der Zeit gezeichnet, die ihre Furchen und Narben hinterlassen hatten. Nun wehrte er sich gegen diesen letzten großen Frontalangriff auf seine Gesundheit. Sein Herz wurde zwar schwächer, doch sein Verstand blieb so scharf wie immer. Jack hatte Shepard mit seinen grauen Haaren und grauen Augen immer gemocht. Er war zwar um einiges älter als Jacks Schwester Eliza, aber er schien sie glücklich zu machen. Und dass Eliza glücklich war, war Jack wichtiger als alles andere auf der Welt.

Obwohl Jack wusste, was für ein Risiko diese Reise für Shepard bedeutete – und Eliza es ebenfalls wusste –, hatte der ältere Mann schließlich alles finanziert. Es widerstrebte Jack, sein Abenteuer mit dem Makel des schnöden Geldes zu belasten, doch das war die einfache Tatsache. Zudem wirkte Shepard seit Reiseantritt wacher und lebendiger, wie schon lange nicht mehr. Das konnte nur gut für sie beide sein.

Endlich legten sie ab und winkten wie wild den Zuschauern am Pier zu. Jack war noch nie so aufgeregt gewesen. Vor ihnen lagen tausendsechshundert Meilen offene See, Wildflüsse, schneebedeckte Berggipfel, gefährliche Passstraßen und eine der unwirtlichsten Landschaften der Erde.

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Es sollte das größte Abenteuer seines Lebens werden. Um Großes zu erreichen, muss man manchmal große Anstrengungen auf sich nehmen.

Die Fahrt dauerte acht Tage. Trotz der Überfüllung an Bord der Umatilla verging die Zeit schnell. Jack behielt Shepard im Auge und freute sich, dass sein Schwager während der Reise nichts an Entschlossenheit verloren hatte.

Als sie aufs Festland von Alaska mit seiner atemberaubenden Landschaft zusegelten und Dyea erreichten, schien Shepard vor neuem Eifer aufzublühen anstatt von der Reise mitgenommen zu sein. Sein Herz pumpte das Blut vielleicht nicht mehr so kräftig wie früher durch die Adern, doch es war immer noch stark.

Während das Schiff in die Bucht fuhr, versuchten Jack und John an der Reling einen guten Platz zu bekommen. Einer der Gründe, warum Jack mit der Umatilla so zufrieden gewesen war, war die Tatsache, dass sie in Dyea an Land konnten, denn die Umatilla hatte weniger Tiefgang als die meisten Schiffe, die in Skagway anlegen mussten, am Zugang zum White Pass, der noch tückischer und zeitaufwendiger war als die ohnehin schon gefährliche Route, die Jack ausgesucht hatte.

»Wo ist der Pier?«, wunderte sich Shepard. Er hustete sich in die Faust und spuckte einen Schleimbatzen über Bord.

Die meisten Jungs in seinem Alter schlugen für Gewöhnlich die Warnungen der Älteren in den Wind, und Jack war da keine Ausnahme. Doch was diese Reise – und das Gold – anging, benahm Shepard sich viel mehr wie ein aufgedrehter Junge als Jack selber. Und so runzelte Jack die Stirn, als er diesen misstrauischen Ton in Shepards Stimme hörte, und sah sich die Küste genauer an.

Die Mannschaft begann, ohne dass ein Dock in Sicht war, vor Anker zu gehen. Von hier konnte Jack den Strand sehen und den Kaminrauch der Stadt dahinter aufsteigen, doch nirgends eine Anlegestelle. Schon bewegte sich eine kleine Flotte aus kleinen Booten der Einheimischen aufs Schiff zu, die alle darauf erpicht waren, gegen Bezahlung beim Abladen zu helfen.

»Verzeihen Sie«, sprach Jack einen mürrischen Matrosen an – einen bleichen, mageren Kerl, etwa 30 –, der sich vorbeidrängeln wollte, obwohl Jack ihn aufhielt. »Wo ist der Pier?«

Der Mann riss seinen Arm aus Jacks Griff. »In Dyea gibt’s kein Pier, Junge. Ihr landet am Strand an.«

Shepard räusperte sich und klang wie ein zorniger Bär, während er den Mann am Handgelenk packte. »Moment mal. Das ist doch völliger Wahnsinn! Es wird doch Stunden dauern, um die ganze Fracht aus dem Laderaum zu holen, zu sortieren und vom Strand wegzubringen. Bis dahin ist schon längst die Flut da!«

Die Augen des Matrosen blitzten bedrohlich auf, und er sah auf Shepards Hand hinab, die ihn festhielt.

»John …?«, setzte Jack an und blickte sich um, ob ihnen noch jemand bedrohlich werden könnte. Mit einer Hand griff er sich an den Rücken, wo er ein kleines Messer in einer Scheide am Gürtel versteckt hatte.

Shepard löste den Griff, aber ließ sich nicht abwimmeln.

Der Matrose grinste. »Wenn ihr euch Sorgen wegen der Flut macht, dann würde ich mich mal beeilen.«

Und damit eilte er durch die Menge davon. Viele der Passagiere schienen von diesem kleinen Detail gewusst zu haben, andere erfuhren es erst jetzt, und ein Chor von Beschwerden erhob sich auf Deck, aber jetzt konnte man nichts mehr daran ändern. Sie waren schon zu weit gekommen und hatten zu viel Geld ausgegeben, um jetzt kehrtzumachen. Wenn Jack schon die Reisevorbereitungen überstürzt gefunden hatte, so war das alles nichts gegen das völlige Chaos, das ausbrach, als die über vierhundert Passagiere an Bord der Umatilla gleichzeitig versuchten, ihre Ausrüstung und ihren Proviant an den Strand und von dort ans höher gelegene Ufer zu bringen. Die Möchtegern-Goldgräber, die in der Presse die »Landstürmer« getauft worden waren, fluchten und stritten um die Plätze an Bord der vielen kleinen Boote, die die Menschen und ihr Gepäck an Land brachten.

Viele der Männer und Frauen an Bord waren offenbar schon während der Fahrt lustlos und apathisch geworden, andere schienen sich ihr Vorhaben jetzt erst anders zu überlegen. Jack hingegen hätte am liebsten vor Freude laut losgesungen, als er und Shepard endlich in einem kleinen Ruderboot saßen und ihr Gepäck mit ihren allernötigsten Sachen festhielten. Obwohl es erst Anfang August war, wurde es hier oben schon kühl, doch die Aufregung des Abenteuers wärmte Jack innerlich.

Während der letzten Tage in San Francisco hatte Jack mit Shepards Geld Ausrüstung und Proviant gekauft. Wetterfeste Kleidung war ein Muss: dicke Fäustlinge, Mützen, Pelzmäntel und –hosen, warme Unterhosen, Stiefel mit griffiger Sohle und Riemen, um sie oben gegen Wasser und Schnee abzudichten. Er kaufte Werkzeug, mit dem sie Bäume fällen sowie Boote und Blockhütten bauen konnten, Dosenproviant für ein Jahr – getrocknet, eingemacht oder eingelegt. Die Campingausrüstung war überlebenswichtig, und Jack hatte genug Geld, um von allem zwei zu kaufen. Zelte, Decken, Spaten, Bodenplanen, und die wichtigen Klondike-Öfen, tragbare Schwedenöfen, die sie beim Kampieren wärmen, ihr Essen kochen und Licht spenden würden.

Außerdem hatte er seine Bücher dabei, die ihm alles bedeuteten. Ohne zumindest ein Buch von Hermann Melville verreiste Jack nicht, und diesmal hatte er Moby Dick im Gepäck dabei.

Er atmete die Luft Alaskas ein und schnupperte dabei den Duft der Wildnis. Nach acht Tagen an Bord der Umatilla war er bereit, es mit dem Chilkoot-Pass aufzunehmen. Sämtliche Vorbereitungen hier in Dyea würden ihn nur noch unruhiger machen, endlich loszukommen. Hätte er noch am selben Tag losziehen können, wenn er alles Gepäck zurückließ, hätte er es ohne Zögern getan. Denn er war ins Nordland gereist, um alles zu wagen und sich von keinem Hindernis aufhalten zu lassen, aber nur ein Narr nahm unnötige Risiken auf sich.

Lieber vorsichtig und klug bleiben. Zu viel hing von dieser Expedition ab. Ein Lächeln machte sich auf seinen Lippen breit, als das Ruderboot den Strand von Dyea erreichte. Jack machte zwei Schritte – an das Schaukeln der Wellen hatte er sich schon längst gewöhnt –, dann stand er zum ersten Mal nach einer Woche wieder auf dem Festland. Er drehte sich um und sah Shepard aus dem Boot steigen. Er wollte seinem Schwager schon seine Hand reichen, doch dann machte er sich klar, dass der sie niemals annehmen würde. Es wäre ein Zeichen von Schwäche gewesen. Sobald er die Füße auf festem Boden hatte, warf Shepard den Kopf zurück und holte tief Luft. Jack erwartete schon einen seiner kehligen Hustenanfälle, doch der blieb aus. Ein gutes Zeichen. Shepard blickte zu dem Kaminrauch der Stadt und nickte, als würde er sich selbst etwas bestätigen.

»An die Arbeit, Junge«, sagte Shepard.

Junge. Da war wieder dieses verhasste Wort. Doch heute protestierte Jack nicht dagegen. Vielleicht war es nur als Kosename gemeint, oder wollte der alte Soldat sich und den jungen Stiefbruder seiner Frau daran erinnern, wer hier das Sagen hatte? Egal. Jack würde sich vom eisigen Norden nicht kleinkriegen lassen, und noch weniger würde er sich durch ein einziges Wort aus der Ruhe bringen lassen, trotz seines oft hitzigen Temperaments.

Also machten sie sich an die Arbeit.

Mit Jack als Aufpasser und Vorarbeiter und Shepard als Zahlmeister hatten sie schnell eine Truppe hilfsbereiter Einheimischer zusammengestellt. Ihre Ausrüstung traf nach und nach in Kisten und Bündeln am Strand ein, und die geschäftstüchtigen Indianer trugen sie weiter den Strand hinauf und stapelten sie ordentlich an einer Stelle, die Jack ausgesucht hatte. Da sie keinem vertrauen konnten, blieb Jack am Strand bei den Sachen, während Shepard das Abladen überwachte.

An diesem Nachmittag kam die Flut sehr schnell herein, drei Kisten wurden in der nahenden Brandung nass. Jack feuerte die Männer an, schneller zu arbeiten, sonst würden sie keinen Cent bezahlt bekommen. Die letzte Kiste schleppte er selber mehrere Meter den Strand herauf, um sie vor dem Wasser in Sicherheit zu bringen.

Sie waren erst halb fertig, als der Preis angehoben wurde. Bei Ebbe verlangten die Indianer 20 Dollar die Stunde – was schon ein astronomisch hoher Preis war – doch als die Wellen stiegen und die Flut näherkam, verlangten sie plötzlich 50 Dollar die Stunde.

»Bei dem Preis können sie doch gleich eine Knarre auf uns richten!«, ärgerte sich Jack entrüstet, während die Männer davoneilten, um sich am nächsten verzweifelten Passagier zu bereichern.

Shepard schien ihn kaum gehört zu haben. Der Mann hatte ein Lächeln im Gesicht, das Jack noch nie zuvor bei ihm gesehen hatte, nicht einmal bei seinen zärtlichen Momenten mit Eliza.

»Ich hab einen Burschen beauftragt, uns ein Zimmer für die Nacht zu suchen«, sagte Shepard. »Wir brechen mit der Morgendämmerung auf.«

Er bemerkte, wie Jack ihn musterte.

»Was glotzt du denn so?«, wollte Shepard wissen.

»Du siehst gut aus«, staunte Jack. »Bereit für das Abenteuer?«

Shepard schien sich die Frage einen Moment lang durch den Kopf gehen zu lassen. Jack hatte eine lockere Antwort erwartet, einen Moment der Entspannung, ehe sie einen weiteren Trupp Indianerträger engagierten, um das Gepäck in die Stadt zu bringen. Doch sein Schwager wirkte irgendwie besorgt.

»Ich bin 61, Junge, und der Herrgott hat mir ein schwaches Herz gegeben.« Shepard blickte auf die Bündel und Kisten, die sich am Strand stapelten. »Nachts träume ich vom Gold. Es ist vielleicht das Einzige, das mich noch am Leben hält.«

Jack nickte. »Also gut, dann werden wir mal welches finden.«

Nachdem sie eingeborene Träger engagiert hatten, um ihre Ausrüstung und den Proviant zum Hotel zu tragen – und sie fürstlich entlohnt hatten –, schulterten Jack und Shepard ihre Rucksäcke und marschierten vom steinigen Strand ins Zentrum von Dyea. Wobei der Begriff »Zentrum« wohl nicht ganz zutraf, denn Dyea bestand nur aus einer einzigen Hauptstraße und einigen Randbebauungen. Es war eher eine Siedlung, weit davon entfernt, eine richtige Stadt zu sein. Bei der Ankunft vom Meer aus hatte Jack einen merkwürdigen Moment der Orientierungslosigkeit gehabt, als ob sie sich nicht in Alaska befanden, sondern in Deadwood, als der kalifornische Goldrausch noch im vollen Schwung war.

Als die Umatilla vor Anker gegangen war, war der Himmel von einem glasklaren Blau gewesen, doch an der Küste schien permanent ein leichter Nebel über Dyea zu hängen. Dazu kamen die Rauchschwaden aus den Kaminen der Siedlung und ergaben einen grauen Schleier, der den Blick ostwärts eintrübte. Man konnte die Umrisse eisiger Erhebungen in der Ferne erkennen, doch während sie die Main Street hinaufgingen, galt ihre Aufmerksamkeit erst mal der Umgebung um sie herum.

Zu ihrer Rechten lag eine Reihe fast identischer, scheunenartiger Gebäude. Jedes hatte direkt unterm Giebel ein kleines Fenster und darunter einen Ladeneingang. Jack betrachtete die Schilder – Yukon Handelsposten, US-Postamt, Coughlin Landry Eisenwaren, Holländer-Bill’s Saloon.

Die linke Straßenseite kam ihnen schon eher bekannt vor: ein alleinstehendes Gebäude mit bunt bemalter Fassade und einem Schild, auf dem nur TANZSAAL stand. Danach kam Hayley’s Hotel, ein großer Kasten mit groben Holzschindeln verkleidet wie alle anderen Gebäude – und den Namen direkt aufs Holz gepinselt.

»Sieht aus, als würde es gleich einstürzen«, grummelte Shepard.

»Ich hab schon viel schlimmer übernachtet«, sagte Jack und dachte an Abstellgleise und Gefängniszellen. »Auf jeden Fall wäre es schön, wenigstens ein weiches Bett für die Nacht zu haben, schließlich werden wir eine ganze Weile darauf verzichten müssen. Und ein Bad würde keinem von uns schaden.«

Shepard grunzte belustigt. Nach achten Tagen auf hoher See stanken sie beide zum Himmel. »Erst mal hinkommen.«

Das war tatsächlich nicht ganz leicht. Die ganze Straße war ein einziges Schlammloch mit Stiefel-, Huf- und Wagenradabdrücken. Stellenweise war der Schlamm zu hohen Wulsten zusammengebacken, an anderen Stellen stand Wasser in den Tälern dazwischen.

Während sie diese Bachläufe und Pfützen zu umgehen versuchten und der Schlamm an ihren Stiefeln saugte, wurden Shepards Atembeschwerden unter der Last seines fünfzig Pfund schweren Rucksacks immer größer. Jack warf ihm heimlich einen Blick zu: Anstatt vor Anstrengung rot zu glühen, war sein Schwager kreidebleich geworden. Es dauerte sicher nicht mehr lange, bis Shepard seinen Rucksack nicht mehr tragen konnte.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Jack.

»Es geht schon«, murmelte Shepard.

Die ganze bisherige Reise waren sie harmonische Reisegefährten gewesen, doch nun kam zunehmend Spannung zwischen ihnen auf. Auf der ganzen Welt liebte Jack keinen Menschen so sehr wie seine Stiefschwester Eliza. Sie hatte ihn praktisch großgezogen, und nun hatte er gegen ihren Wunsch und mit vollem Wissen um die schlechte Gesundheit seines Schwagers heimlich mit ihm den Plan für dieses Abenteuer geschmiedet. Und Shepard war auch noch praktischerweise bereit gewesen, die gesamte Reise zu finanzieren.

Vielleicht war Jack zu selbstsüchtig gewesen. Doch das half jetzt auch nichts mehr. Außerdem war Shepard ein begeisterter und beharrlicher Gefährte.

Er versuchte, seine Schuldgefühle zu mildern, indem er sich den anderen Grund für diese Reise vor Augen hielt: seiner Mutter zu helfen. Am Tag der Abreise hatte Eliza ihm enthüllt, dass ihre Mutter kurz davor stand, ihr Haus zu verlieren. Sie hatte sich lange Zeit auf seine Einnahmen verlassen, und seine kürzliche einmonatige Abwesenheit – eingesperrt wegen Landstreicherei, was seine Familie nicht wusste – hatte sie weiter in die Schulden rutschen lassen. Sie hatte sogar wieder damit angefangen, Geisterbeschwörungen und andere lächerliche Rituale als spirituelles Medium abzuhalten, eine Absurdität, die sie als bare Münze ausgab und die Jack zuwider war. Er war überzeugt davon, es sei nichts weiter als Betrug und Bauernfängerei. Doch obwohl diese Frau kaum Liebe in ihrem Herzen verspürte – als Junge hatte er alle Liebe und Zuwendung von Eliza erfahren –, war sie dennoch seine Mutter. Wenn er Gold finden sollte, könnte sie ihr Haus behalten und die spiritistische Scharlatanerie aufgeben. Doch das schien ihm im Moment die geringste aller Sorgen zu sein: Es war Shepard, der ihm Sorgen bereitete.

Doch Shepard sah das anders: Er war ein Mann, kein krankes Kind, um das man sich kümmern musste. Jack glaubte ja auch, dass jeder seines Glückes Schmied war. Aber er mochte gar nicht daran denken, wie es wäre, wenn Shepard eines Tages etwas zustoßen würde und er Eliza davon berichten müsste.

Mit Blick nach vorn und erhobenem Kinn marschierte Jack über die schlammige Ruine der Hauptstraße von Dyea auf den hölzernen Gehweg vor Hayley’s Hotel zu. Erst als er das Holz erreicht und sich den Schlamm von den Sohlen gekickt hatte, sah er sich nach Shepard um.

Der Mann war ein Dutzend Schritte hinter ihm stehen geblieben.

»John?«, fragte er.

Shepards Gesichtszüge waren schlaff geworden, mit aufgerissenen Augen starrte er ostwärts, unter dem Gewicht seines Gepäcks leicht vornübergebeugt. Er war zuvor schon blass gewesen, nun sah er ernsthaft krank aus. Er blinzelte, räusperte sich, und dann überkam ihn ein kräftiger Hustenanfall, bei dem er nach vorne zusammenklappte. Der alte Soldat ließ seinen Rucksack von seiner Schulter gleiten und fiel in den Schlamm.

Jack ließ seinen eigenen Rucksack fallen und eilte Shepard zur Hilfe.

»Was hast du, John?«, fragte er und packte den Mann am Ellbogen. »Das wird schon wieder, versuch tief durchzuatmen.«

Shepard zitterte, seine Haut fühlte sich heiß an, Blut befleckte seine Lippen und sein Kinn. Seit Jack ihn kannte, war er schon immer krank gewesen, aber dermaßen gebrechlich hatte er den Alten noch nie gesehen.

»John«, setzte er wieder sanft an.

John nickte und atmete mehrmals lang und tief ein, um sich zu beruhigen. Er starrte weiter nach Osten, japste und hustete wieder, das Wasser stand ihm in den Augen. Immer noch vornübergebeugt, die Hände auf den Knien, wies er mit dem Kopf in eine Richtung.

»Ist er das, mein Junge? Ist das der Pass?«

Jack wandte sich um und sah, dass der Dunst sich gelichtet hatte, sodass man nun die nächstgelegene Bergkette erkennen konnte. Es war zwar August, aber dies war Alaska. Weiße Eiswände ragten wie eine unwirtliche Traumlandschaft ewigen Winters empor. Die Lücke im Eis, die von hier aus nur als Schatten erkennbar war, war der Chilkoot-Pass. Der Weg nach Dawson City begann dort am Fuße dieser eisigen Felswände.

Selbst aus dieser Entfernung konnte Jack die dunkle Schlangenlinie aus Männern und Pferden ausfindig machen, die sich den Chilkoot-Trail zum lebensfeindlichen Pass hinaufkämpften – alles Männer, die von Gold träumten, sowie die Tlingit-Indianer, die am Transport der Landstürmer und ihrer Ausrüstung übers Gebirge ein kleines Vermögen verdienten.

Shepard fing wieder an zu husten. Als er sich die Lippen abwischte, sah Jack diesmal einen größeren Blutfleck.

Das bedeutete nichts Gutes. Dunkle Gedanken voller Frust und Ärger kamen in Jack hoch, doch er schob sie schnell beiseite. Sie hatten eine Abmachung, sie beide, und Jack London hielt immer sein Wort.

Er legte Shepard eine Hand auf die Schulter. »Ich helfe dir jeden Schritt des Weges. Ich bring dich dahin, so wahr mir Gott helfe, oder wir teilen uns ein eisiges Grab. Und da ich nicht vorhabe zu sterben, heißt das, dass wir beide im Frühjahr unser Revier am Klondike abstecken und uns einen Haufen Gold holen werden.«

Endlich konnte Shepard wieder normal atmen. Er schob Jacks Hand sanft zurück.

»Ich bin ein Narr gewesen«, sagte er mit einem Zorn, der offenbar ihm selber galt. »Du sollst nicht auch noch einer sein.«

»John«, sagte Jack. »Du hast es doch schon so weit geschafft.«

»Ja, und jetzt muss ich es noch so weit schaffen.« Er sah mit weit aufgerissenen Augen auf den Pass. Und Jack konnte erkennen, wie sich Johns Gesichtsausdruck von Furcht zu Resignation, Trauer und Bedauern wandelte.

Shepard schüttelte Jacks Hand ab und richtete sich langsam auf. Er schulterte seinen Rucksack und holte tief Luft. Schließlich drehte er den eisigen Bergen den Rücken zu.

»Ich muss zurück zum Strand, bevor die Umatilla ablegt«, stellte Shepard fest. »Ich richte Eliza und deiner Mutter deine Grüße aus.«

Jack schwieg. Shepard würde jetzt offenbar keinen Widerspruch dulden.

»Ich habe ziemlich viel in diese Reise investiert«, fuhr der alte Haudegen fort. »Ich meine mehr als nur Geld, verstehst du? Alle meine Wünsche und Träume lasse ich hier bei dir zurück und erwarte, dass du sie mit nach Dawson und noch weiter trägst. Lass mich nicht hängen, Junge.«

Jack schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht.«

»Das will ich hoffen«, meinte Shepard. Und dann ging er, stapfte wieder durch den halbgefrorenen Schlamm Richtung Ufer und ließ Jack mit all ihrer Ausrüstung und Entschlossenheit für zwei zurück.

Jack blickte ihm hinterher und wünschte ihm eine gesunde Heimreise, damit Eliza nicht trauern musste. Der Gedanke, alleine weiterzureisen, bekümmerte ihn kaum, denn im Leben war er bisher meistens allein unterwegs gewesen, auch wenn er von anderen umgeben war, die jeweils ihre eigenen Ziele verfolgten.

Shepard ging zum Stadtrand und verschwand den Weg zum Strand hinab, ohne sich umzusehen. Sobald er verschwunden war, machte sich ein riesiges Grinsen auf Jacks Gesicht breit. Er spürte eine merkwürdige Welle der Begeisterung in sich aufsteigen. Nun, da er von seinen Sorgen und Verpflichtungen gegenüber Shepard befreit war – und ja, von den Schuldgefühlen, weil er den Alten mitgeschleift hatte –, fühlte er sich selbstbewusster denn je auf seinem eingeschlagenen Weg.

Er drehte sich um und sah zum Nebel des Chilkoot-Passes hoch. Er wurde fast körperlich davon angezogen, und er musste sich zusammenreißen, um nicht gleich loszulaufen und es heute Nacht gleich in Angriff zu nehmen, Ausrüstung hin oder her. Die ganze Überfahrt hatten sie Geschichten von Todesopfern auf dem Trail gehört, von Männern, die umgekehrt sind oder aufgegeben haben. Shepard war beim bloßen Anblick des bedrohlichen Gebirges eingeknickt.

Aber nicht Jack. Der eisige Norden würde ihn nicht in die Knie zwingen. Nur der Tod konnte ihn jetzt noch aufhalten.