In Dyea hieß es, ein Mann, der kein bestimmtes Ziel hätte, könnte monatelang auf dem Chilkoot-Trail überleben, ohne dass es ihm je an etwas fehlen würde: Warme Kleider, getrocknetes und gepökeltes Fleisch, Bohnen in Dosen, Jagdgewehre, Zelte … Der Handelsposten in Dyea wäre pleite gewesen, wenn die Landstürmer, die zu Tausenden am Strand ankamen, gewusst hätten, dass sie ihre ganze Ausrüstung gratis auf dem Weg zusammenklauben konnten. Vor allem auf der Westseite des Gebirges, beim Anstieg auf die tausend Meter Passhöhe, wo auch im Spätsommer eisige Winde die Reisenden peitschten, lag überall zurückgelassene Ausrüstung herum.
Auch wenn einem der Sinn nach frischem Fleisch stand, wurde man vom gnadenlosen Terrain des Chilkoot-Trails nicht enttäuscht. Pferde brachen vor Erschöpfung zusammen, knickten sich in Spalten die Beine ab oder stürzten und brachen sich die Wirbelsäule, wenn es zu steil wurde. Manche wurden mit einem Fangschuss von ihrem Elend erlöst, andere hingegen von hartherzigen Männern einfach einem langen, qualvollen Tod überlassen, weil diese keine Kugel verschwenden wollten.
Ohne Shepard an seiner Seite hatte Jack beschlossen, lieber mit wenig Gepäck zu reisen. Er machte ihre Kisten auf und holte nur das Nötigste heraus. Das Übrige verkaufte er an den Besitzer von Hayley’s Hotel. Shepards Klamotten tauschte er mit einem kräftigen, bärtigen Kerl namens Merritt Sloper, den er auf der Umatilla kennengelernt hatte. Sloper hatte eine besonders schöne Bratpfanne und mehrere Säcke Kaffee, die er bereit war, unter der Bedingung herzugeben, dass Jack ihm einen Kaffee spendieren würde, falls sie sich irgendwo unterwegs trafen.
Als der Handel beschlossen war, hatte Jack noch eine Decke aus Shepards Gepäck genommen und dann seine eigenen Sachen aussortiert. Bis er an dem Abend einschlief, hatte er drei Viertel von allem, was sie mitgebracht hatten, verkauft, verschenkt oder weggeworfen. Selbstsicher wie nie, zufrieden und erschöpft, wie er war, hatte er eigentlich erwartet, bis zum Morgengrauen durchzuschlafen.
Als er dann verwirrt und orientierungslos mitten in der Nacht aufwachte, setzte er sich auf und atmete in der Dunkelheit erst mal tief durch. Ich bin in Hayley’s Hotel in Dyea, sagte er sich. Dann hörte er ein Ächzen.
Jack hielt den Atem an. Er hatte zwar noch nie Angst vor der Dunkelheit gehabt, aber er hatte auch gelernt, sie zu respektieren.
Da war wieder das Ächzen: Es war eine Diele, die unter einem Gewicht knarrte, das nicht hätte da sein dürfen. Wer auch immer es war, versuchte leise zu sein.
»Wer ist da?«, raunte Jack.
Eine Tür schwenkte auf, wo er zuvor keine Tür gesehen hatte. Er war so beunruhigt, dass es eine Weile dauerte, bis er die gespreizte Hand auf dem Holz sah, und noch länger, bis er der Hand zum Arm gefolgt war und von dort die Schulter entlang zum Gesicht, das in der Dunkelheit hing.
»Mutter?«, staunte er. Als er sie erkannte, bemerkte er auch die vertrauten Gerüche von zu Hause: abgestandenes Essen und Räucherstäbchen.
»Unheil wird kommen«, verkündete seine Mutter, aber es war nicht ihre Stimme. Der Tonfall war flach, eiskalt, fast gleichgültig. »Unheil im Norden, ein Todesschrei in der großen weißen Stille, und nur die Geister werden Zeuge sein.« Sie kam ins Zimmer herein, und Jack hielt die Luft an. Das ist doch nicht meine Mutter, dachte er, und obwohl das absurd war – die Frau vor ihm war eindeutig seine Mutter, es waren ihre Haare, ihr Gesicht, ihr Nachthemd – konnte er den Gedanken nicht abschütteln. Irgendwas an ihrer Erscheinung war beunruhigend, als ob ein Fremder unter ihrer Haut lauerte und nach außen drängte. Sie wirkte völlig starr, ihre Haut war durchschimmernd und hatte die Farbe frisch gefallenen Schnees.
So etwas Ähnliches hatte er schon mal gesehen. Sie hatte ihm gesagt, es sei ihr Geistführer, der durch sie sprach. Er hatte noch nie an solchen Unsinn geglaubt und verachtete ihren Pseudo-Spiritismus. Sie führte die Leute damit hinters Licht, nutzte ihr Leid aus und –
Führt sie mich jetzt an der Nase herum? Bin ich hier, oder bin ich daheim? Er dachte, er träumt, aber meistens erlangte man dann die Kontrolle über seinen Traum, wenn man sich so was dachte. Im Moment kam er sich eher kontrolliert vor.
»Raus aus meinem Zimmer«, zischte er.
»Irgendwas folgt«, sagte seine Mutter lächelnd. Das Lächeln sah kränklich aus und färbte nicht auf die Stimme ab. »Dennoch wirst du im Schnee sterben, kalt … und fast ganz allein.« Dann wandte sie sich um und ging.
Es dauerte ein paar Minuten, bis Jack aus dem Bett aufstehen konnte, doch als er zu dieser Tür ging, war dort nur die Wand. Er berührte sie und fühlte, es war nur Holz. Jetzt bin ich ganz sicher wach, dachte er. Er ging wieder ins Bett, konnte aber nicht mehr einschlafen. Er sah das reinigende Licht des Morgengrauens langsam über Dyea erwachen.
Von seinem Albtraum beunruhigt, doch fest entschlossen, ihn vorm Tageslicht verblassen zu lassen, war Jack an dem Tag der Allererste, der zum Chilkoot-Pass aufbrach.
Er hatte Dyea mit zwei Lastpferden verlassen, die seine Ausrüstung trugen. Sein eigener Rucksack war zehn Kilo leichter als am Tag zuvor. Die Schultern waren gepolstert, damit die Riemen ihm nicht ins Fleisch schnitten. Als die Sonne über den weißen Gipfeln aufging, war er zügig losmarschiert, die Kerbe des Chilkoot-Passes winkte ihm aus der Ferne zu.
Das war vor vier Tagen gewesen.
Mittlerweile tränten seine Augen von dem Gestank der verwesenden Pferdekadaver am Wegrand. Er hielt soviel Abstand wie möglich zu den anderen, die beim Aufstieg um die beste Position wetteiferten. Er war bis jetzt gut vorangekommen, hatte die meisten Weißen überholt und sogar einige der Indianerträger, die das Klima und die Landschaft gewohnt waren.
Er behielt die Berggipfel im Auge und sein Ziel in Sicht, und blieb für sich. Etliche Schlägereien waren unterwegs ausgebrochen, und er musste seine Pferde nicht nur um die stinkenden Raufbolde manövrieren, sondern auch um die Schaulustigen, die stehen geblieben waren, um sie anzufeuern. Wahrscheinlich waren sie dankbar für die Ablenkung und hofften auf ein möglichst blutiges Spektakel. Jack hatte sich zwar noch nie vor einer Prügelei gedrückt, aber er roch schon den aufziehenden Winter in der Luft, während er immer höher kletterte und fürchtete, der Wintereinbruch würde viel früher kommen, als sie es erwarteten.
Die Trümmer der Kapitulation säumten links und rechts den Weg. Er ging vorbei an Umkehrern, die aufgegeben hatten und mit niedergeschlagenen Augen wieder unterwegs nach Dyea waren. Sie hatten versagt und schämten sich. Jack schwor sich, niemals zu ihnen zu gehören. Solch ein Versagen musste schwer auf einem lasten, denn sie zeigten keine Anzeichen von Erleichterung. Die körperlichen Mühen lagen vielleicht hinter ihnen, aber sie würden auf immer mit ihrem Scheitern leben müssen.
Während er weiterging und der Weg immer steiler wurde, blitzte die Erinnerung an den Traum dieser Nacht auf. Er träumte oft von seiner Mutter, entweder Fantasien einer perfekten Beziehung, die sie nie gehabt hatten, oder öfter noch Deutungsversuche ihrer Lieblosigkeit und gelegentlichen Grausamkeit. Sie konnte wirklich ein Herz aus Stein haben: Als Jack klein war, hatte sie oft seinen Stiefvater ermutigt, ihn zu schlagen, wenn er unartig war. Die einzige Zuwendung, die sie Jack zuteil werden ließ, war an den Tagen, wenn er mit seiner Lohntüte nach Hause gekommen war. Und dann gab es da noch diese Séancen, bei denen er sich auf den Küchentisch legen musste und sie die Geister der Toten anrief, um ihn für irgendeine kindliche Sünde zu verdammen. Er hatte schon damals nicht wirklich daran geglaubt, doch sie hatte dafür gesorgt, dass ihm die Prozedur soviel Angst wie möglich einjagte.
»Die Geister sind nicht so weit weg, wie du denkst«, sagte sie dann. »Und wenn du unartig bist, kann ich sie hereinbitten.«
Noch Tage nach solchen Séancen war er voller Wut und Verbitterung und traurig darüber, wie seine Mutter mit ihm umsprang. Sobald die Sonne unterging und er ins Bett musste, erfasste ihn außerdem die schreckliche Befürchtung, was wäre, wenn seine Mutter recht hatte. Auch jetzt traute er sich kaum, daran zu denken. Aber trotz allem war sie seine Mutter, und er liebte sie.
Solche Gedanken verwirrten Jack, und die Verwirrung machte ihn wütend.
Er fluchte und führte seine Pferde an den Wegrand. Tief in Gedanken hatte er die Passhöhe erreicht, der große Augenblick des Triumphs war ungefeiert verstrichen. Verdammt, weg mit diesen trübseligen Gedanken, hier nutzen sie keinem was!
Er beschloss sich einen Kaffee zu kochen, um mit einer heißen Tasse Kaffee den Beginn seiner weiteren Reise zu feiern.
»Ich hab ja gehofft, dass wir uns noch mal treffen würden.«
Jack hatte es sich hinter einem Windfang gemütlich gemacht, errichtet aus dem Haufen Kisten und Bündeln, den er von den Pferden abgeladen hatte. Er blickte von dem kleinen Feuer auf, das er sich angesteckt hatte, und sah in das rötliche, grinsende Gesicht von Merritt Sloper. Der Mann hatte Frost in seinem kastanienfarbenen Bart und eine dicke Mütze ins Gesicht gezogen, sodass er wie ein leicht vertrottelter Weihnachtsmann aussah.
»Du willst wohl eine Tasse Kaffee, was?« Jack musste grinsen. Zwar war er sich selbst Gesellschaft genug, aber im Moment hatte er nichts gegen Unterhaltung, auch mit jemandem, den er nur flüchtig kannte.
»Ich dachte, du fragst mich nie.«
»Aber nur wenn du deine eigene Tasse hast«, entgegnete Jack. »Ich hab nur eine.«
Sloper grunzte, ließ sich auf dem Boden neben Jack nieder und zog seinen Rucksack ab. Er schlug die behandschuhten Hände zusammen, zog sich die Handschuhe aus und hielt die Handflächen über das kleine Feuer. In erster Linie galt seine Aufmerksamkeit jedoch der kleinen schwarzen Kaffeekanne, die Jack an die Feuerstelle gelehnt hatte.
Sloper holte einen Blechnapf aus seinem Rucksack. Während Jack ihm eine halbe Tasse starken Kaffee einschenkte, näherte sich ein zweiter Mann, der ein Pferd führte.
»Verdammt noch mal, Merritt, du hättest ruhig mal auf mich warten können!«, schimpfte der Mann. Er war ausgemergelt und trug eine Brille, ein bisschen wie ein pedantischer Lehrer, der auf den Hund gekommen ist.
»Ich konnte dem Kaffeegeruch einfach nicht widerstehen, Freund Jim«, erwiderte Sloper mit gespielter Reue und ließ den Kopf hängen. »Verfluche mich nicht wegen meiner einzigen Sünde.« Dann zuckte er die Achseln zur Entschuldigung, schlürfte seinen Kaffee, seufzte lauthals und voller Zufriedenheit, schloss die Augen und kuschelte sich weiter in den knirschenden Schnee hinein.
»Du hast mich mit dem Pferd allein gelassen«, setzte Jim an und senkte dann seine Stimme. »Diese beiden Kerle aus Texas haben ein Auge auf unsere Vorräte geworfen, seit ihr letztes Pferd gestorben ist, und du …«
»Und überhaupt!«, rief Sloper und riss die Augen auf. »Wir haben es geschafft! Trotz all deiner Zweifel, mein Freund: Wir sind da! Ich hatte nicht genug Energie für einen Siegestanz, aber eine schöne Tasse Kaffee tut’s auch.«
Jim verdrehte die Augen und gab auf. Er führte sein schwer beladenes, erschöpftes Pferd neben die beiden von Jacks, hämmerte mit dem Stiefelabsatz einen Pflock in den Schnee und band das Tier an.
Dann beugte er sich übers Feuer und streckte Jack eine Hand entgegen: »Jim Goodman. Wir sind auf dem gleichen Schiff gewesen, glaub ich.«
Jack lächelte und nahm seine Hand. »Ja, ich erinnere mich.«
Ein angenehmes Gefühl stieg in ihm auf. So seltsam sie auch schienen, waren hier doch zwei Kerle, zäh genug, um den Chilkoot-Pass zu bezwingen, sich der Herausforderung zu stellen und nicht schlappzumachen. In der kurzen Zeit seit Dyea hatte Jack genug Niederlagen gesehen und genug Verwesung eingeatmet für ein ganzes Leben. Nun war ihm die Gesellschaft dieser beiden herzlich willkommen.
»Du hast nicht zufällig noch so eine Tasse Kaffee, oder?«, fragte Goodman niedergeschlagen. Jack schüttelte die Kanne. »Kaum noch ein Schluck, fürchte ich. Merritt hat den letzten Rest genommen.«
Goodman ließ die Schultern hängen. »Natürlich«, sagte er, als wenn das sein übliches Los wäre.
Überwältigt von seinem neuen Gefühl der Kameradschaft griff Jack in seinen Rucksack.
»Aber wir haben ja noch mehr davon. Ich koch uns noch eine Kanne, ja?«
»Im Ernst?«, sagten beide Männer gleichzeitig und hoben überrascht die Augenbrauen.
»Warum nicht?«, antwortete Jack. »Wir habe es bis nach oben geschafft, Jungs. Wir hängen da jetzt alle gemeinsam drin.«
Nach fast einer Woche Aufstieg auf dem Chilkoot-Trail schmerzten Jacks Knochen, und die Muskeln brannten. Doch er fühlte sich auf eine ganz besondere Weise lebendig. Eine Lebendigkeit, die wohl wenig andere Menschen erleben durften. Unrasiert und ungewaschen empfand er sich dennoch als sauber, und seltsamerweise durch die eiskalte Bergluft und seine eigenen schweißtreibenden Anstrengungen gereinigt. Weit weg von seiner Mutter und ihrem spirituellen Getue, und was noch wichtiger war, weit weg von jeder Arbeit, die er je gehabt hatte, von jedem Neuanfang, den er versucht hatte. Jetzt konnte er endlich die Erwartungen der Welt abstreifen und den Mann finden, der in ihm steckte.
Wer ist Jack London?, fragte er sich und war sicher, bei dieser Reise die Antwort darauf zu finden.
Von der Passhöhe aus schien der Rest des Weges wie ein Geschenk: Erst wurde er flacher, dann senkte er sich sanft Richtung ferne Täler hinab.
»Wie weit ist es zum Lake Linderman?«, wollte Sloper wissen.
Jack hob eine Augenbraue und sah zu Jim Goodman, denn selbst er hatte unterschiedliche Schätzungen gehört.
Goodman zögerte nicht: »Neun Meilen.«
»Das schaffen wir schon«, sagte Jack und zeigte in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Niemand kehrt um, der es über den Pass geschafft hat.«
Und er hatte recht. Der ganze Verkehr marschierte jetzt in die gleiche Richtung. Männer und Frauen, die zäh genug gewesen waren, es bis hierhin über den Berg zu schaffen, würden so schnell nicht wieder umkehren. Es lag noch teilweise zurückgelassenes Gepäck links und rechts vom Weg, und etwas voraus konnte Jack zwei tote Pferde ausmachen – die armen Tiere hatten das Schlimmste geschafft, konnten aber keinen Schritt mehr weitergehen –, aber im Großen und Ganzen kamen die Goldgräber jetzt gut voran.
»Wir sollten uns aber beeilen«, stellte er fest.
Das schien den schweigsamen, trübsinnigen Goodman aufzurütteln. »Uns beeilen? Ich bin froh, überhaupt am Leben zu sein.«
Vor ihm waren zwei Männer, die dem Akzent nach Deutsche waren. Soweit Jack das mitgekriegt hatte, hatten sie ihren Schritt verlangsamt, als ob sie lauschen wollten. Jack packte die Pferde fest am Zügel und verlangsamte ebenfalls sein Tempo. Sloper und Goodman taten es ihm nach.
»Vielleicht gibt’s ja genug Gold für alle«, meinte Jack. »Vielleicht ist der ganze Klondike das wahre El Dorado. Aber ich betrachte hier jeden Menschen auf dem Weg als Konkurrenten, und das solltet ihr besser auch.«
Merritt Sloper kratzte sich seinen buschigen roten Bart. Sein sonst so fröhlicher Gesichtsausdruck war einer fast kindlichen Traurigkeit gewichen. »Gilt das auch für uns, Jack? Sind wir auch Konkurrenten?«
Jack grinste. »Na klar seid ihr das, Jungs. Aber bei uns ist es ein freundschaftlicher Wettbewerb. Außerdem gibt es einen anderen Grund zur Eile. Der Winter kommt bald.«
Goodman schob sich die Brille auf der Nase hoch und höhnte: »Winter! Ha! Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, Jack, hier oben ist immer Winter.«
»Du weißt schon, was ich meine. Das wird bald alles vereist sein. Wenn wir es nicht nach Dawson schaffen, ehe die Flüsse zugefroren sind, schaffen wir’s vielleicht nie.«
»Es ist doch gerade erst September«, gab Sloper zu bedenken.
»Ich habe mich beim Aufstieg mit einem Kerl unterhalten, einem Tlingit-Indianer, der meinte, die Zeichen stehen auf einen frühen Frost. Er sagte, als sein Großvater klein war, sind die Flüsse einmal mitten im August zugefroren.«
Goodman schüttelte den Kopf, packte die Zügel seines müden Pferdes und legte wieder etwas Tempo zu. »Unmöglich.«
Sloper jedoch warf Jack einen besorgten Blick zu. »Ist das wahr?«
Jack ließ die Zügel wieder locker und folgte Goodman mit Sloper an seiner Seite, die Pferde hinterher. »Ich werde dieses Abenteuer überleben, Merritt, das schwöre ich dir. Überleben und mit einem großen Haufen Gold nach Kalifornien zurückkehren. Wenn man ein menschenfeindliches Land bereist, sollte man auf den Rat der Einheimischen hören, die dort leben. Außerdem, spürst du’s nicht? Der Wind lässt meine Zähne klappern.«
Sloper nickte. Als der Weg breiter wurde, gingen sie nebeneinander und die Pferde dahinter. Sie unterhielten sich über zu Hause und über ihre Träume, über Bücher und Abenteuer. Jack erzählte Geschichten von seiner Zeit als Austernpirat, von Eisenbahnfahrten mit Landstreichern und von Prügeleien am Hafen. Seine dreißig Tage Haft ließ er lieber unerwähnt.
Seine beiden Gefährten überraschten ihn dann aber, als er feststellte, dass keiner von beiden viel älter war als er selbst. Sloper war Steinmetz und fünfundzwanzig, zehn Jahre jünger als Jack vermutet hatte, während Goodman – tatsächlich ein Lehrer – vor kurzem zweiundzwanzig geworden war. Die beiden waren aus Illinois, in der Nähe von Chicago, und kannten sich über ihre Familien, die eine lange Freundschaft verband. Sie hätten vom Charakter nicht unterschiedlicher sein können, doch Sloper und Goodman hatten ein Verhältnis wie alte Freunde und schlossen Jack problemlos in die Beziehung ein.
Sie übernachteten im Schutz einiger Bäume und bauten mit ihrem Gepäck auf drei Seiten eine Mauer, um sich so gut wie möglich vor dem Wind zu schützen. Nachdem er sich um seine Pferde gekümmert hatte, saß Jack mit seinen beiden neuen Freunden am Lagerfeuer. Sie tranken zusammen Kaffee, aßen getrocknetes Obst und kochten eine wässrige Fleischbrühe, die viel besser schmeckte als vermutet. Dann spürte Jack, wie ihn allmählich die Erschöpfung überkam. Er blinzelte beim Einschlafen die Sterne an und stellte sich vor, bald den ganzen Tag nach Gold zu schürfen.
Irgendwann wich dieser Tagtraum, und er trieb schlafend durchs eigene Unterbewusstsein. Seine relativ friedliche Vorstellung vom Goldsuchen wich ebenfalls. Bald wurden in seinem Traum Menschen wegen der besten Schürfrechte ermordet, wilde Tiere aus den Wäldern schnappten sich die Unvorsichtigen und hinterließen nur rote Blutspuren im Schnee. Doch es war nicht solch ein belangloser Traum-Tod, der Jack verfolgte.
Da war etwas anderes.
Er träumte davon, etwas flussaufwärts vom Hauptfund im Rabbit Creek zu suchen, mit wenig mehr als einem Lagerfeuer und einem zerrissenen, zerschlissenen Zelt vor sich hin zu existieren. Tagsüber schürfte er und nachts las er, doch stets lauerte etwas am Rande des Feuerscheins und beobachtete ihn. Es folgte ihm durch die Landschaft: Heute beobachtete es ihn von hoch oben aus den Bergen, morgen aus dem dunklen Unterholz des Waldes. Er konnte nie erkennen, was es war, doch das Gefühl des drohenden Unheils war furchtbar.
Er sah es immer nur nachts. Augen wie Sternschnuppen starrten ihn aus dem Schatten an und warteten auf die richtige Gelegenheit zuzuschlagen.
Am späten Morgen des 8. Septembers erreichten die drei Männer endlich das Ufer des Lake Linderman. Goodmans Pferd war in der Nacht zuvor zusammengebrochen, und es war an Sloper gewesen, den Qualen des Tieres ein Ende zu setzen.
Als der Schuss über dem Trail und zwischen den schwarzgrünen Berghängen widerhallte, verlor Merritt Sloper endgültig sein Lächeln.
Und das Lächeln kehrte auch am nächsten Tag nicht zurück, als sie endlich den See erreichten. Der Anblick war eigentlich wunderschön. Der Lake Linderman lag in einer Senke, umgeben von schneeweißen Gipfeln, deren Anstiege voller dunkler Kiefern waren, leicht mit Schnee bestäubt. Das Gras am See wuchs büschelweise, vermutlich suchten normalerweise die Tiere das Wasser zum Trinken auf und knabberten an der spärlichen Vegetation.
Doch eine breite Schneise war in den Kiefernwald am Rand des Sees geschlagen worden. Die Landstürmer wirkten von hier aus gesehen wie eine Ameisenkolonie, die Bäume fällte und zersägte. Männer, die beschlossen hatten, nicht weiterzuziehen, hatten sich hier ein schönes Geschäft eingerichtet, indem sie Boote bauten und zu völlig überteuerten Preisen verkauften.
»Wenn wir diese Preise bezahlen, sind wir pleite, noch bevor wir es nach Dawson schaffen«, meinte Goodman und putzte besorgt die Brille mit einem Tuch aus seiner Brusttasche.
Die drei standen mit Jacks beiden Pferden da, die nun die zusätzliche Last von Sloper und Goodmans Ausrüstung zu tragen hatten, und beobachteten das emsige Treiben am Ufer. Überall lagen Bretter und Bootsgerippe sowie etliche Hektar Sägespäne, die den Boden wie Schnee bedeckten. Die Luft war schwer von süßem Kieferngeruch.
Hammerschläge donnerten und Sägen ratschten auf Holz, dazu kam das Schreien und Lachen der Männer und das Knacken und Krachen weiterer gefällter Bäume. Es schien so, als ob halbstündlich neue Boote ins Wasser gingen und über den See setzten. Manche begannen sofort, Wasser aufzunehmen. Doch anstatt umzukehren, versuchten die Passagiere, die Lecks abzudichten oder das Wasser aus dem Boot zu schöpfen.
»Für so was bezahlen wir nicht«, sagte Jack.
Sloper kratzte sich am roten Bart und sah nervös zu Goodman. »Du willst den See doch nicht zu Fuß umrunden, Jack? Da können wir ja gleich umkehren.«
Jack blitzte ihn streng an und hob das Kinn. »Ich habe mir ein Ziel gesetzt, Merritt, und das werde ich auch erreichen. In meinem ganzen Leben bin ich noch nie vor etwas umgekehrt, und das hab ich auch jetzt nicht vor.«
Er öffnete eine längliche Satteltasche, die an der grauen Stute hing, die er in Dyea gekauft hatte. Daraus holte er ein Lederetui und aus dem Etui eine Axt.
»Außerdem hab ich fast den Eindruck, ihr Jungs habt mir nicht richtig zugehört, als ich euch von mir erzählt habe. Ich hab schon mein halbes Leben auf Booten verbracht. Als ich klein war, war ich so viel am Hafen, dass man mich den Matrosenjungen genannt hat.«
Jack schulterte die Axt und nahm die Zügel der Pferde wieder in die Hand. »Geht zu den Männern, die schon Boote haben, die gerade am Ablegen sind. Versucht uns noch ein, zwei Äxte zu kaufen und eine Säge dazu. Das kostet viel weniger als ein Boot. Dann kommt und sucht mich. Ich fang schon mal an, ein paar Kiefern zu fällen.«
Goodman setzte die Brille wieder auf und drückte sie fest, als sei er nicht sicher, ob er Jack richtig sehen konnte.
»Willst du etwa, dass wir uns selbst ein Boot bauen?«
Jack zwinkerte ihm zu. »Bist ein fixes Kerlchen, Jimmy.«
Sloper hatte seine Jacke ausgezogen und hängte sie sich über den Arm. Heute schien die Sonne warm, zumindest im Vergleich zu dem, was sie in letzter Zeit gewohnt waren. Es würde noch etwas dauern, bis sie sich wieder richtig aufgewärmt hatten.
»Wenn du sagst, du kennst dich mit Bootsbau aus, dann glaube ich dir, Jack«, sagte der kräftige Steinmetz. »Und gegen ein bisschen Arbeit hab ich noch nie was gehabt. Aber du sorgst dich doch wegen dem Wintereinbruch. Wird uns das nicht zuviel Zeit kosten?«
»Ich will dir nichts vormachen, Merritt«, meinte Jack, »Damit hab ich selbst nicht gerechnet. Aber bei den Bootsbauern da unten stehen die Leute Schlange. Wenn wir hart arbeiten und keine Fehler machen, könnte es sogar schneller gehen, unser Boot selber zu bauen.«
Damit ließ er sie mit ihren jeweiligen Aufgaben zurück und ging mit den Pferden im Schlepptau Richtung Waldrand, eine fröhliche Melodie auf den Lippen und die Axt über der Schulter. Er sah bereits das Boot, das er bauen würde, vor sich, jeden Balken und jede Nut. Und er wusste auch schon, welchen Namen er ihm geben würde.
Die Yukonschönheit.
Erst der See, dann der Abschnitt des Yukon, den man Thirty-Mile-River nannte, und wenn sie es vor dem Frost nach Dawson schaffen wollten, würden sie außerdem die Stromschnellen bezwingen müssen, die man wegen der Gischt White Horse nannte. Das hatte er seinen Gefährten noch nicht eröffnet. Es hieß, die meisten Menschen, die über die Stromschnellen gefahren wären, wären ertrunken oder zumindest halb ersoffen und hätten aufgegeben. Aber das musste sie jetzt noch nicht beunruhigen.
Schließlich hatte er, wie gesagt, sein halbes Leben im Boot verbracht. Ein bisschen Gischt konnte ihm da keine Angst machen.
Wie schlimm konnte es schon sein?