Vier Tage Bauen, und die Yukonschönheit war ein gutes Boot geworden. Das konnte Jack sehen, und es machte ihn stolz. Er wusste jedoch, dass sie noch größere Prüfungen als der Lake Linderman erwarteten. Außerdem müsste er irgendwann Merritt und Jim erklären, wie heimtückisch der nächste Abschnitt ihres Weges sein würde.
Sie überquerten den See in guter Stimmung, wobei sie sich beim Rudern und Schöpfen abwechselten. Zwei ruderten immer nebeneinander auf der rauhen Querbank sitzend, während der Dritte dafür zuständig war, dass sich möglichst wenig Wasser in ihrer kleinen Nussschale ansammelte. Das Wasser umspülte schon ihre Füße, doch wenn sie ständig schöpften, wurde es nie zu tief. Jack hatte mehrere dicke Querstreben in das Boot eingebaut, auf denen ihre Ausrüstung lag, damit sie nicht vom Wasser nass wurde, das sie unweigerlich aufnehmen würden. Es war zwar das erste Boot, das er je gebaut hatte, aber er war ein erfahrener Seemann und überzeugt, dass ihres das seetüchtigste Gefährt auf dem ganzen Lake Linderman war.
Sie hatten die Pferde zurücklassen müssen und sie bei den Bootsbauern am Ufer gegen Werkzeug und eine gute Portion Lebensmittel getauscht. Der Abschied hatte Jack geschmerzt, denn sie waren kräftige Tiere, und er ahnte, dass ihnen die Kraft der Pferde bald fehlen würde.
Auf dem See schimmerte dünnes Eis.
»Wir brechen ganz leicht durch«, meinte Merritt. Das Eis knirschte leise am rauhen Rumpf des Bootes entlang.
»Bis jetzt schon«, sagte Jack. Er zog an den Riemen, genoss die rhythmische Bewegung und die Geschmeidigkeit seiner Muskeln. »Vergiss nicht, wir sind nicht die ersten, die hier lang fahren.«
»Wir kommen gut voran«, sagte Jim. Er war am Schöpfen, seine Kleidung war völlig durchgeschwitzt, und auch seine Stirn war nass. Jack hatte den Lehrer noch nie so glücklich gesehen.
»Wie gesagt, bis jetzt schon«, setzte Jack noch mal an. »Aber es kommen noch ganze andere Gewässer auf uns zu, Männer.«
»Stromschnellen, ja«, erwiderte Merritt. »Davon haben wir gehört. Dann werden wir eben tragen müssen …«
»Nein«, entgegnete Jack. »Dauert zu lang, ist zu gefährlich, der Abstieg ist zu steil, das Land zu wild. Wisst ihr was vor uns liegt? Habt ihr die Karte studiert?«
Die beiden anderen sahen sich an. Merritt zuckte die Achseln.
Jack seufzte. »Die White-Horse-Stromschnellen. Sehr wild, sehr gefährlich. Viele haben schon versucht, sie zu fahren. Manche verschwinden, manche werden tot ans Ufer gespült. Viele kehren um.«
»Umkehren ist nicht«, antwortete Merritt. Jack war von seiner Entschlossenheit beeindruckt.
»Aber du hast uns doch ein gutes Boot gebaut?«, fragte Jim. »Und du kannst damit umgehen?«
Jack sah sich die Yukonschönheit an. Wasser plätscherte ihm um die Füße, und da Jim beim Schöpfen nun Pause machte, um sich zu unterhalten, stieg das Wasser kontinuierlich und schnell. Der Bug war spitz, das Heck rechteckig, nur der Tiefgang machte ihm ein wenig Sorgen. Die groben Planken, die sie zum Rumpf zusammengebunden und vernagelt hatten, sogen sich mit Wasser voll und bogen sich.
»Ja, das ist ein gutes Boot«, stellte er fest. Eine Weile lang ruderten sie still vor sich hin und dachten an die Gefahren, die vor ihnen lagen.
Das donnernde Wasser bildete eine wüst schäumende, schlangenförmige Wand am Fuß der Schlucht. Es war ungeheuerlich. Die Erde bebte, die Luft dröhnte, die Gischt kühlte Jacks Haut ab wie die Berührung einer Geisterhand. Er war bis ins tiefste Innere aufgeregt und gleichzeitig völlig entsetzt, eine Gefühlsmischung, die er so noch nie erlebt hatte und vermutlich auch nie mehr erleben würde. Seine Seele jubelte angesichts des bevorstehenden Abenteuers auf. Er wusste, dass die Sehnsucht nach Abenteuern eines Tages sein Tod sein könnte.
Neben ihnen standen auch noch andere Menschen am Ufer, in Gruppen oder alleine, und sahen sich den mächtigen, furchteinflößenden Fluss an. Jack fragte sich, wie lange sie wohl schon da standen, Männer und Frauen, gelähmt vor Angst wegen dem, was vor ihnen lag. Er hatte den seltsamen Eindruck, dass sie erstarrt waren und langsam zu Stein wurden, während das Wasser gleichgültig an ihnen vorbeidonnerte, ohne auf das Verstreichen der Zeit zu achten. Vielleicht würde der Fluss eines Tages seinen Lauf ändern und beginnen, diese versteinerten Figuren abzutragen, wenn es die Gischt nicht schon vorher tat. Hier standen sie also, Zeugnis von Furcht und Entschlossenheit, konnten nicht weiter und weigerten sich doch umzukehren.
Vor den Augen der Zuschauer bereitete Jack die Yukonschönheit vor. Er fühlte sich gut. Er spürte die Blicke, und selbst wenn sie ihn für wahnsinnig hielten, war doch auch Respekt dabei.
»Merritt, du gehst an den Bug.« Er überreichte Merritt ein Ruder. »Du bist auf dem Amazonas mit dem Kanu gefahren, hast du erzählt.«
»Ja, aber …«
»Dann bist du unser Ausguck.« Jack konnte dem Mann seine Furcht ansehen, aber jetzt die Reise zu unterbrechen, hieße für immer umzukehren. »Jim nimmt die Ruder. Einfach immer weiterrudern, damit die Kraft vom Boot zum Wasser übergeht und nicht umgekehrt. Ich bin hinten am Heck und steuere.« Er sah aufs Boot, das nah am Ufer trieb. »Erst mal verpacken wir alles so niedrig wie möglich.«
»Dann wird aber alles nass«, meinte Jim.
»Besser als das Gewicht oben lassen und kentern.«
Die drei arbeiteten Hand in Hand, und Jack konnte tatsächlich spüren, wie sich die Angst der anderen beiden langsam in Aufregung verwandelte. Es hatte etwas damit zu tun, das Schicksal in die Hand zu nehmen, etwas zu tun, anstatt einfach nur wie die anderen Goldgräber am Ufer zu stehen und zu gucken. Aber es hatte auch etwas mit Kameradschaft zu tun, dachte er. Das machten sie gemeinsam und empfanden sich als Team.
Als sie ablegten, rief man ihnen vom Ufer aus Ratschläge zu. »Haltet euch an die Welle in der Mitte!«, rief irgendwer, und dasselbe empfahl jemand anders. Jack fragte sich, wie viele lebensmüde Leute die Zuschauer wohl schon hatten losfahren sehen und wie viele von denen es durch die Stromschellen zum Thirty-Mile-River und dem restlichen Yukon geschafft hatten.
Im Augenblick war es jedoch das Beste, solche Gedanken aus dem Hirn zu vertreiben. Der Fluss hatte sie jetzt im Griff, sie hatten sich seiner Führung und seinem Toben ausgeliefert, und jetzt zählte nur noch das Überleben.
Zuerst sah der Fluss fast ölig aus, er floss schnell, aber ohne von Felsen durchbrochen zu sein. Die Yukonschönheit trieb angenehm dahin, wobei Merritt vorne die Richtung ansagte und Jack sein improvisiertes Ruder hin und her schwang, um das Boot zu steuern. Links und rechts von ihnen wurden die Wände der Schlucht immer steiler, das Ufer verschwand und das Wasser wurde in eine enger und enger werdende Klamm gepresst.
Der Fluss begann zu toben und zu brüllen. Die Felswände schossen vorbei, und Jack blickte auf und sah die Zuschauer wie Schatten hoch über ihnen. Vielleicht waren es aber auch nur gleichgültige Bäume. Jedenfalls fühlte er sich mit seinen Freunden allein auf dem Fluss.
Sie ruderten kräftig durch die erste heftige Stromschnelle. Das Boot durchschnitt die Wellen und bebte, als es über einige Steine unter Wasser schrappte. Jack spürte das Zittern in seinen Knien und stellte sich lieber nicht vor, was passieren würde, wenn der Strom das einfache Boot in Stücke reißen würde.
»Nach links!«, rief Merritt und Jack versuchte, sie in die genannte Richtung zu bugsieren. Ein kuppelförmiger Stein blitzte rechts von ihnen vorbei, der Fluss umtoste ihn wütend.
Jim ruderte, seine Augen vor Furcht geweitet hinter seiner kleinen Lehrerbrille, die mit Gischt aus dem rasenden Fluss besprüht war. Er starrte an Jack vorbei in die Richtung, aus der sie gekommen waren, und wünschte sich vielleicht, niemals einen Fuß in dieses Boot gesetzt zu haben. Jack grinste ihn an, aber Jim schien es nicht zur Kenntnis zu nehmen.
Jack fühlte, wie sein Puls raste, sein Herz pochte laut. Jeder Nerv schien angespannt zu sein, er vergaß fast zu atmen, während er darum kämpfte, sie in der Mitte des Flusses zu halten. Dort war das Wasser zwar am schnellsten, doch gleichzeitig war es die direkteste Route durch die Stromschnellen. Zumindest hoffte er das. In Wahrheit wusste er, dass jederzeit der Boden von ihrem Kahn weggerissen werden konnte.
In solchen Augenblicken fühlte Jack sich unglaublich ängstlich, aber auch unglaublich lebendig. Ein so breites Grinsen breitete sich über sein Gesicht aus, dass es weh tat, und er stieß einen lauten Freudenschrei aus. Einige Sekunden lang schien er seinen Körper verlassen zu haben, als beobachte er sich von irgendwo über oder hinter der Welt. Obwohl die Natur um ihn herum und gegen ihn tobte, fühlte er sich wie ihr Meister, kein Spielball wie Odysseus, sondern der Herr über den Fluss.
Dann hörte er Merritt aufschreien und sah gerade noch die Arme des kräftigen Mannes herumfliegen. Die Bruchstücke seines Ruders wurden durch die Luft geschleudert und verschwanden hinter dem Boot. Der Stein, der Merritt überrascht und sein Ruder umgeknickt hatte, schabte nun bedrohlich knurrend am Bootsrumpf, während der Strom sie vorbeidrückte. Jack zog gerade noch rechtzeitig an der Steuerpinne, und dann waren sie durch die Stromschnellen, der Bug drehte sich langsam der linken Felswand der Klamm zu, während das Wasser um sie seinen Griff zu entspannen schien.
»Gütiger Gott!«, stöhnte Jim.
»Das war verdammt knapp«, stellte Merritt fest und klopfte Jim lachend auf die Schulter.
»Noch nicht nachlassen«, warnte Jack. »Da kommt noch viel mehr.« Schlimmeres, dachte er. Aber was brachte es denn, es auszusprechen? Er hatte die Wildnis zwar noch nicht bezwungen, aber er würde sich, verdammt noch mal, auch nicht kleinkriegen lassen.
Während sie den Thirty-Mile-River in Richtung der nächsten Stromschnellen hinabtrieben, hatten die Männer Gelegenheit, ihre Umgebung zu bestaunen. Es war ein wundersamer Ort. Die steilen Klammwände hatten hier und da weiße Flecken, wo noch Schnee auf den Steinkanten lag. Oben an den Steilwänden war wenig zu erkennen, bis auf ein paar Bäume, die über den Fluss hingen, als wollten sie gleich hineinspringen. Vögel kreisten am grauen Himmel über ihnen, das Rauschen des Flusses füllte ihre Ohren. Er verlief hier zwar ruhiger, hallte aber dennoch unaufhörlich zwischen den Wänden der Schlucht hin und her, ein ständiges Flüstern, das keine Stille kannte. In solcher Gefahr fühlte Jack sich geborgen und musste sich wieder die Frage stellen: Wer ist Jack London? Er war noch weit von einer Antwort entfernt, dachte er, aber der Fluss trug ihn immer näher.
»Gruselig hier«, fand Merritt im Bug des Bootes. Er blickte sich in der Schlucht um, an Jack vorbei, dann in Fahrtrichtung nach vorne, und wenn er ein Hund gewesen wäre, hätte er geknurrt und die Nackenhaare aufgestellt.
»Das ist zu laut, um gruselig zu sein«, meinte Jim, der gerade sorgfältig seine Brille putzte. »Und zu kalt.«
»Lass die Handschuhe lieber an, Jim«, ermahnte Jack. »Wenn wir die nächste Stromschnelle erreichen, wirst du alle Nerven in deinen Händen brauchen.«
»Ich hab kein Ruder mehr«, stellt Merritt fest. Er trat den Deckel einer ihrer Proviantkisten herunter, riss sich ein Brett davon ab und bog vorsichtig die Nägel zurück, damit sie nicht hervorstanden. Die ganze Zeit über blickte er sich um wie ein Beutetier, das auf der Hut vor dem Raubtier ist.
Jack sah sich ebenfalls um. Während in der Ferne das Grollen der nächsten Stromschnellen anschwoll, traf ihn die Erkenntnis wie ein Fausthieb in den Magen: Ich werde beobachtet.
Er dachte sich nicht: Wir werden beobachtet. Hier ging es nur um ihn. Er verspürte eine intensive Konzentration nur auf sich, und je mehr er sich panikartig umsah, desto weniger konnte er ausmachen, von woher diese Beobachtung ausging. Die rauen Felswände waren zu weit weg, ihre Oberkante zu hoch. Er sah sogar in das dunkle Wasser hinab und erwartete fast, dort die grinsenden Gesichter Ertrunkener zu sehen, während er auf dem Fluss dem Tod entgegenfuhr.
»Jack, Jim«, verkündete Merritt. »Es geht wieder los.«
Der Fluss brach tosend auf und spülte das kleine Boot und seine Passagiere in seinen klaffenden Schlund.
Vielleicht war es der Gedanke, beobachtet zu werden – vielleicht war es der beunruhigende Gedanke, er beobachte sich selber aus der Ferne –, jedenfalls brannte sich jeder Augenblick dieser Erfahrung in Jacks Hirn ein wie eine Fotografie: der Strudel, die Pferdemähne, der Wolf.
Vor allem der Wolf.
Als sie in die nächsten Stromschnellen eintauchten, versuchten sie, soweit wie möglich als Team zusammenzuarbeiteten, obwohl Jack klar war, wie schmählich ungeeignet sie für diese Reise waren, die sie antraten. Merritt saß im Bug und führte sie mit seinem improvisierten Ruder. Jim nahm sein Ruder hoch und saß vom Wasser umspült am Boden des Boots, um sein Gewicht so niedrig wie möglich zu halten. Und Jack kniete im Heck, stemmte sich gegen die Pinne und versuchte so gut es ging, das Boot hierhin und dorthin zu lenken. In Wahrheit suchte sich das Boot seinen eigenen Weg durch die Brandung, an Steinen und Felsen entlangschürfend und -schabend. Er spürte, wie das Boot an allen Seiten Schaden nahm, knarrte und knackte und brach, und die Tatsache, dass es noch nicht auseinandergebrochen war, machte ihn stolz.
Eine merkwürdige Ruhe überkam ihn, die Ruhe eines Mannes, der auf sein Urteil wartete.
Sie schossen zwischen zwei Felsen hinauf, wo die Wassermassen am größten waren. Hinter den Felsen kippte das Boot vornüber und stürzte einem gewaltigen, wirbelnden Strudel entgegen. Ein Strudel! dachte Jack noch, und dann waren sie gefangen. Die widerstrebenden Strömungen hatten das Boot im Griff, warfen es hierhin und dorthin, von allen Seiten strömte Wasser über sie herein. Jim schöpfte verzweifelt und vergeblich, und Jack hätte laut gelacht, wenn es nicht so furchterregend gewesen wäre. Stattdessen klammerte er sich am Bootsrumpf fest und zermarterte sein Hirn auf der Suche nach einem Ausweg. Er brüllte voll banger Begeisterung, doch das Wasser rauschte so laut, dass er seine eigene Stimme nicht vernahm. Er war patschnass und eiskalt, aber etwas tief in ihm wärmte ihn dennoch.
Er sah nach links und rechts, die Felswände hoch. Obwohl er glaubte, den Blick immer noch auf sich gerichtet zu spüren, war der Beobachter woanders.
Das Boot trieb seitwärts. Für eine Sekunde, die sich wie eine Minute anfühlte, kippte es seitwärts, und Jack erwartete schon, dass sie alle in den rasenden Strom geworfen würden. Die Kisten und Bündel würden folgen, sie nach unten drücken, bis der brutale Sog sie über den Boden schleifte, gegen Steine schleuderte, die von Jahrtausenden unter Wasser nur scheinbar weich gespült worden waren. Jack kämpfte gegen das Steuerruder und versuchte, sie aus dem Griff des Strudels zu befreien. Da traf sein Blick den von Merritt, und er sah, dass der kräftige Mann ihm nicht so unähnlich war – er ergab sich ihrem Schicksal und war trotz allem froh, es versucht zu haben.
Dann richtete sich die Yukonschönheit auf, richtete die Nase flussabwärts, kurvte vom Strudel weg und setzte die Reise fort. Jack schrie vor Freude auf, und diesmal konnte er sowohl sich, wie seine Kameraden schreien hören.
Sie nahmen wieder ihre Posten ein, schließlich waren sie noch lange nicht aus dem Gröbsten raus. Jack war erschöpft, durchnässt und immer noch eiskalt. Wenn er nicht ständig in Bewegung bleiben müsste, um das Boot in der Mitte des Flusses zu halten, würden die Kleider vermutlich an seinem Körper festfrieren, er würde sogar Frostbeulen riskieren. Doch statt zu frieren, schwitzte er vor Anstrengung. Sein dampfender Körper war ein seltsamer Anblick, doch es begeisterte ihn auch. Es war fast außerirdisch.
Er blickte nach links und rechts auf der Suche nach seinem Beobachter. Er suchte tief in sich hinein, um das merkwürdige Gefühl zu identifizieren, das er verspürte, und fragte sich, ob er sich das nur einredete, dass ihm ein unsichtbarer Beobachter zusah. Doch dann fiel ihm Merritts Bemerkung ein, dass dies ein gruseliger Ort sei. Das brüllende Wasser flüsterte ihm Dinge zu, die er niemals verstehen konnte.
Sie folgten der Schlucht tiefer in die Wildnis auf dem wildesten Abschnitt des Flusses, den man die Pferdemähne nannte. Denn der Fluss bäumte sich wie ein Wildpferd auf und warf ihre Nussschale von Wellengipfel zu Wellengipfel, als sei sie aus Balsaholz und leer. Jack fragte sich, wie viel Gewicht da eigentlich herumgeschleudert wurde, doch er konnte es nicht ausrechnen. Jim starrte ihn mit dem Ausdruck eines fast Wahnsinnigen an, und Jack konnte nur erahnen, was der Mann in ihm sah. Noch einen Wahnsinnigen, dachte er. Vom Fluss nassgespritzt, vom Boot herumgeworfen, habe ich noch die Gier nach Gold in den Augen? Oder habe ich schon den gehetzten Blick eines Verfolgten an mir?
Merritt rief etwas, doch seine Stimme wurde vom Brüllen des Flusses verschluckt. Mit aufgerissenen Augen und sperrangelweit geöffnetem Mund blickte er sich zu Jack um. Jack sah an seinem Freund vorbei nach vorne, wo der rollende Rücken des Flusses zwischen zwei Felsentürmen hindurchgezwängt wurde. Innerhalb weniger Meter verengte sich der Fluss um die Hälfte. Der Wasserdruck und die Energie an dieser Stelle waren enorm.
Einfach dem Buckel in der Mitte folgen, dachte sich Jack und stemmte sich gegen das Ruder.
Das Boot schipperte mitten hindurch, als ob es gar nicht Teil des tosenden Malstroms unter und um sich herum wäre. Doch auf der anderen Seite dahinter, auf einem verhältnismäßig ruhigen Abschnitt, verlor Jack plötzlich total die Kontrolle. Einen Augenblick lief alles noch prima, er steuerte und kontrollierte das Boot, das er gebaut hatte. Im nächsten Augenblick gehorchte das Gefährt ihm nicht mehr. Das Gefühl des leichten Dahingleitens war verschwunden, die Yukonschönheit taumelte seitwärts den Fluss entlang, rollte jeden Wellenberg schaukelnd hinauf und stürzte ins Wellental hinab. Sie wurden völlig durchgeschüttelt. Übelkeit überkam sie. Die Bretter knarrten und krachten, Jim fiel zur Seite, als ein Holzsplitter, so lang wie sein Arm, aus dem Rumpf brach und sein Gesicht zerkratzte. Es blutete, aber Jack erkannte erleichtert, dass es nur ein oberflächlicher Kratzer war. Fünf Zentimeter höher und Jim hätte beide Augen verloren.
»Jack!«, rief Merritt, aber Jack sah nicht zu ihm hin. Er ärgerte sich zu sehr über sich selbst, war zu sehr damit beschäftigt, das Gefährt wieder unter seine Kontrolle zu bringen. Der Fluss hatte sie in seinem reißenden Griff gefangen, es war nur eine Frage der Zeit, bis es sie und ihr Gepäck ins Wasser kippte oder gegen das raue Ufer donnerte. Beides wäre ihr Ende. Als ihm die Gischt ins Gesicht spritzte, musste Jack blinzeln und dachte, seine Mutter am Esstisch bei ihrem letzten gemeinsamen Mahl zu sehen.
Die Geister werden mit dir sein, hatte sie ihm zum Abschied gesagt und noch mehr von ihrem pseudospirituellen Unsinn, den sie für Zuneigung hielt. Doch nun, da sie ihm wieder in den Sinn kamen, schienen ihm die Worte wie durch die Gischt der Stromschnellen zugeflüstert zu werden.
Jack sah sich um. Dort, am rechten Flussufer auf einem Felsen, an dem das Wasser sich brach, stand ein Wolf. Der größte Wolf, den er jemals gesehen hatte. Sein graues Fell hatte dunkelbraune Punkte, das Maul war kürzer und flacher als gewöhnlich. Er hatte die Ohren gespitzt und vorgelegt, seine ganze Aufmerksamkeit galt Jack.
»Du…?«, flüsterte Jack und beugte sich mit ausgestrecktem rechtem Arm dem Wolf entgegen. Sein Körper lehnte gegen das Steuerruder und drückte ihn zur Seite, und da knarrte das Boot, kränkte etwas, und mit einem Satz hatten sie die Strömung wieder, trieben mit dem Fluss, anstatt gegen ihn zu kämpfen.
Jack sah Merritt und Jim an, die ihn beide angrinsten. Merritt sagte etwas über Jacks Steuerkünste, aber Jack wandte den Blick ab, stromaufwärts zu dem Stein, den sie jetzt hinter sich gelassen hatten. Der Wolf war weg. Er suchte das Ufer ab, aber das Tier war nirgends zu sehen, und Jack zweifelte schon an sich selbst. Die Schlucht hier war enger, die Wände steil. Wo es so etwas wie ein Ufer gab, waren es nur herabgestürzte Felsbrocken, die vom Fluss in seine eigene Form gespült worden waren. Soweit er erkennen konnte, gab es für ein Tier dieser Größe keinen Weg hier herunter.
Sie fuhren weiter, bezwangen weitere Stromschnellen und näherten sich dem Thirty-Mile-River, dem Seitenarm, der sie zum Yukon selber bringen sollte. Jack fürchtete das Wasser nicht mehr. Etwas führte seine Hand, er wurde den Gedanken nicht los, dass der Anblick des Wolfs ihn dazu bewegt hatte, genau zum richtigen Zeitpunkt das Ruder herumzuwerfen.
Das war ich nicht, dachte er, so gern er sich über das Lob der anderen Männer gefreut hätte. Nichts davon.
Und je weiter sie sich von den tödlichen Stromschnellen entfernten, die sie eigentlich hätten umbringen sollen, desto besorgter wurde Jack.