KAPITEL 4
DAS WIRD SEIN TOD

Als sie an dem Abend ihr Lager aufschlugen, war Jack still und in sich gekehrt. Der Wolf geisterte ihm noch durch den Kopf. Er war sich schon lange beobachtet vorgekommen, und jetzt, obwohl das Gefühl scheinbar weg war, spürte er immer noch diese wölfische Gegenwart in ihrer Umgebung. Das hier war ein vollkommen wildes Land, und obwohl er sich bewusst war, dass seine Anwesenheit die Umwelt beeinflussen konnte, machte ihm die Vorstellung zu schaffen, dass es auch anders sein könnte. Im Kampf Mensch gegen Natur war er sich sicher, dass der Mensch – ein Mensch von Entschlossenheit und Überzeugung so wie er – letztlich siegen würde. Nun war diese Gewissheit in ihm erschüttert.

Merritt und Jim waren zuversichtlich und guter Dinge. Während die drei am Lagerfeuer saßen und ihre nassen Sachen trockneten, machten Jacks Gefährten Witze und sprachen über den Weg, der vor ihnen lag. Jack nickte zwar an den richtigen Stellen und brachte ab und zu sogar ein Lächeln zustande, doch hauptsächlich starrte er ins Feuer und versuchte, sich von dem Gedanken zu befreien, dass sich gerade etwas veränderte.

Vielleicht lag es an der Kälte und dem Winter, der schneller denn je hereinzubrechen schien. Merritt und Jim zweifelten noch an Jacks Beobachtungen – sicher hätten sie noch mehrere Wochen Zeit – doch er spürte, wie sich alles verlangsamte. Als sie die Mündung des Thirty-Mile-River in den Yukon erreicht hatten, war dort Eis gewesen. Dünn und zerbrechlich zwar, aber ein Warnzeichen für Jack. Es war noch sehr weit, und er wusste ganz genau, was passieren würde, wenn das Eis ihre Reise unterbrechen würde.

»Warum so griesgrämig, Jack?«, fragte Merritt. »War doch ein guter Tag heute. Wir haben das Monster geritten und gezähmt, oder?«

»Das wilde Pferd gezähmt!«, sagte Jim und beide Männer lachten. In den Fausthandschuhen wärmten sie ihre Hände an den Blechtassen mit heißem Kaffee, und der Geruch der Bohnen hing wohlig in der Luft. Zusätzlich vernebelte der kondensierende Atem die friedliche Stimmung mit jedem Atemzug und jedem Wort.

»Ihr wisst schon«, erklärte Jack. »Ich mache mir Sorgen wegen dem Eis.« Er stand auf und ging am Feuer auf und ab. »Ich mache mir Sorgen, weil es schon so kalt ist. Wegen dem Frost in unseren Bärten, der Kälte in meinen Zehen, der Taubheit in meinen Händen. Wenn wir bis zum ersten Schnee nicht in Dawson sind, stecken wir vielleicht monatelang fest. Und ohne Unterkunft sind unsere Chancen dann nicht so wahnsinnig gut.«

»Jack …«, setzte Jim an, doch Jack fuhr fort. Es half, darüber zu reden, seinen Ängsten Luft zu machen. Oder vielleicht war es einfach gut, an etwas anderes als den Wolf zu denken.

»Was machen wir, wenn wir festsitzen? Wir können den Winter nicht im Zelt verbringen. Dann werden unsere Zelte unser Grab. Vielleicht finden wir eine alte Hütte im Wald, in der wir überwintern können. Doch was essen wir? Unser Proviant reicht vielleicht einen Monat, aber nur knapp. Und was essen wir danach?«

»Das klingt aber gar nicht nach dir, Jack«, bemerkte Merritt leise. Wütend schoss es Jack durch den Kopf: Wie lange kennst du mich denn schon? Auch wenn er mit siebzehn der Jüngste unter ihnen war, schienen seine beiden Freunde ihn schon wie den Anführer zu behandeln. Doch der große Mann hatte recht. Außerdem wusste Jack, dass nichts mehr zusammenschweißt, als gemeinsam durch dick und dünn zu gehen.

Er seufzte und schüttelte den Kopf. »So bin ich normalerweise auch nicht«, gab er zu. »Vielleicht bin ich auch nur müde.«

»Dann lass uns schlafen«, meinte Jim.

Merritt nickte. »Zum Morgengrauen aufstehen und den ganzen Tag fahren. Wir schaffen das schon, Jack, du wirst sehen.«

Jack lächelte und wandte sich ab. Doch das Lächeln verschwand genauso schnell wieder von seinem Gesicht. Er ließ das Feuer hinter sich und wanderte in den Wald, stapfte durch den Schnee, der bald sehr viel tiefer sein würde. Er musste sich erleichtern, doch er hatte auch andere Gründe, das Lager zu verlassen. Er schaute zwischen die Bäume hindurch, schnupperte die Luft und machte die Augen zu, als ob er dann spüren konnte, was ihm da folgte.

Doch falls es ihm folgte, hielt es Abstand.

Den nächsten Tag verbrachten sie auf dem Fluss, doch als sie abends wieder an Land gingen, um zu essen und ihre Sachen über dem Feuer zu trocknen, waren Merritt und Jim nicht mehr ganz so zuversichtlich. Der Fluss war hier stellenweise schon eine Meile breit, und je weiter sie mit der Strömung paddelten, desto mehr Eis baute sich um sie herum auf. Eisschollen knarrten und krachten aufeinander, und der Fluss hatte einen neuen Klang, wie das Grummeln eines Riesen, der ganz allmählich einschlief.

An diesem Abend übernachteten sie am Ufer. Der Fluss floss brummend und langsam an ihnen vorbei. Doch Jack schwor, dass sie von nun an auf dem Wasser bleiben würden, bis sie Dawson erreicht hatten. Er schätzte, dass es vielleicht noch hundert Meilen sein würden. Was aber ihre Chancen anging, ihr Ziel zu erreichen, ehe der Fluss total zum Stillstand kam …

Na ja, vielleicht hätten sie ja Glück. Doch auch Jim und Merritt waren an dem Abend still. Sie starrten ins Feuer und umklammerten ihre Kaffeetassen. Eis bildete sich auf ihren Bartstoppeln und Wimpern, die Kälte schien sogar dem Feuer die Hitze auszutreiben.

Am nächsten Tag auf dem Fluss musste Jack kaum steuern.

»Da lang!«, rief Merritt und deutete nach vorne links. Jack sah die eisfreie Bahn zwischen den spitz aufragenden Eisklumpen, und der Fluss lenkte sie von selbst in diese Richtung. Wenn sie gegen eine Scholle stießen, schubste sie sie automatisch in Richtung der Strömung. Überall um sie herum knarrte und rumorte es, wenn die Eismassen zusammenstießen. Hier und da konnte Jack noch das beruhigende Geräusch fließenden Wassers hören. Doch der Klang des Flusses hatte sich nun total verändert, und er fürchtete, ihre Zeit wurde knapp.

»Wir schaffen es«, meinte Jim und ruderte, wann immer die Eisklumpen seinen Riemen Platz ließen. Und wenn nicht, mussten sie sich auf die Strömung verlassen, die sie vorantrieb.

»Natürlich schaffen wir es«, sagte Jack. »Die Frage ist nur, wann.«

Das Ufer war nun nicht mehr zu sehen vor lauter Eisklumpen, die zusammenklebten und Formen bildeten, die geradezu außerirdisch wirkten. Das Wasser spritzte an ihnen hoch und fror dort zu Wirbeln und Zacken fest. Ab und zu erblickte Jack noch einen Baum zwischen den treibenden Brocken, aber zumeist sah man nur noch Eis und Wasser. Gegen Mittag begann es zu schneien, und die Sicht wurde ganz schlecht.

Seit Jack den Wolf auf dem Stein gesehen hatte, hatte der sich nicht mehr blicken lassen. Doch Jack konnte nicht länger glauben, dass sie ganz allein in dieser ewigen Wildnis waren. Er hatte zwar keine Ahnung, was dieses Gefühl bedeutete, aber er musste es den anderen mitteilen. Jim, der Lehrer, würde ihn vermutlich töricht finden. Und Merritt, befürchtete er, würde ihn für verrückt erklären.

Vielleicht war er das auch. Doch seit Dyea war er das Gefühl nicht mehr losgeworden, dass etwas da draußen auf ihn wartete. Ihn erwartete.

Am Nachmittag kam die Sonne kaum zum Vorschein, und das Wasser wurde immer träger. Merritt stand am Bug, wehrte die Eisbrocken ab und manövrierte sie in freie Bahnen, die jedoch immer enger und seltener wurden. Sie kamen zwar voran, aber viel langsamer als zuvor. Immer wieder stieß das Boot gegen das Eis. Schneeklumpen fielen ins Boot, Jim schaufelte sie wieder hinaus ins Wasser. Steuerbord und backbord glitten die Eisschollen vorbei, mehrmals hörte Jack die Balken des Rumpfs ächzen, als müssten sie gegen gewaltige Gegenkräfte ankämpfen.

Jim musste nicht länger schöpfen, denn das Wasser im Boden der Yukonschönheit war festgefroren.

»Wir stecken fest«, verkündete Merritt schließlich. Er sah sich nicht nach Jack um, und Jim blickte auch nicht auf. Jack konnte es keinem der beiden verübeln. Im Gegenteil, er hatte ihren Optimismus bewundert und hätte wahrscheinlich genauso gedacht, wenn der Wolf nicht gewesen wäre.

Eine böse Vorahnung hing wie das Damoklesschwert über ihm.

»Schieb weiter«, sagte Jack. »Vielleicht ist es nur diese eine Stelle. Vielleicht ist es nur ein Engpass.«

Dieses Mal sah Jim auf und Merritt drehte sich zu ihm um.

Eine halbe Stunde später, mit einem ohrenbetäubenden Knirschen, das Jacks Zähne zittern ließ, machte der Fluss einen Satz nach vorne und es ging weiter. Das Eis teilte sich, Wasser gluckerte unter den Schollen hervor, und ihr kleines Boot fand sich in einer frei fließenden Bahn wieder.

»Auf nach Dawson, Jungs!«, jubelte Jack und schwenkte seine Mütze durch die Luft. Als seine Ohren taub wurden, setzte er sie schnell wieder auf. Obwohl er wusste, dass dies nur ein kurzer Aufschub war – vor dem Wintereinbruch würden sie Dawson nicht erreichen –, spürte er plötzlich wieder eine Welle der Begeisterung. Und wenn sie hier irgendwo überwintern mussten, na und? Es war nur ein Teil des Abenteuers, das er sich vorgenommen hatte, das Leben am Schopf zu packen, anstatt es vorüberziehen zu lassen.

Links von ihm, über der Weite aus Eis und Schnee, stach etwas aus dem Weiß hervor. Jack sah hin, doch es war schon fort.

Versteckt.

Etwa siebzig Meilen vor Dawson erreichten sie nahe bei Upper Island einen Seitenarm, den Stewart River. An der Mündung des Stewart in den Yukon stießen die Eisschollen aufeinander und verursachten einen Stau, der bald zu einer festen Eisdecke wurde. Jetzt war es endgültig aus. Sie schafften es gerade noch, die Yukonschönheit aufs Eis zu ziehen, bevor sie von den Schollen zermalmt wurde. Dann kam die lange, mühselige Prozedur, das Gefährt bis zum schneebedeckten Ufer zu schleppen. Hier draußen auf dem Eis gab es keinen Schutz vor Wind und Wetter, und wenn das Schicksal es so wollte, dass sie sich für den Winter ihre eigene Unterkunft bauen mussten, dann sollten sie lieber gleich damit anfangen, und zwar mit dem Holz vom Boot. Die Luft war kälter denn je, und Jack wusste, dass einem unbemerkt die Finger erfrieren konnten. Wenn es noch kälter würde, würde selbst die Spucke in der Luft gefrieren, sie würden ihre Finger nicht mehr benutzen können, und dann würden sie sterben.

Voll Gepäck und mit dem Eis, das am Rumpf festgefroren war, war das Boot schwer. Obwohl sie zu dritt zogen, dauerte es eine ganze Weile, bis sie es an Land hatten. Zum Glück waren sie in Ufernähe gewesen, als sie das Eis endgültig eingekeilt hatte. Bis zum Abend hatten sie das Boot am Ufer. Sie brachen neben dem Boot erschöpft zusammen und machten ein Feuer. Jack stöhnte ein leises Dankgebet, als die erste tanzende Flamme emporzüngelte.

Manchmal versuchte er, sich vorzustellen, wie es für die ersten Menschen gewesen sein musste, die das Feuer brauchten, um sich zu wärmen und zu schützen und um die Kälte, die Dunkelheit und die Raubtiere in der Nacht zu vertreiben. Er hatte auf der Straße gelebt, in Ackergräben und Eisenbahnwaggons übernachtet, und viele Male Hunger gelitten, aber trotz allem war Jack, wie die meisten Menschen, denen man begegnete, daran gewöhnt, dass Licht, Wärme und Wasser mehr oder weniger auf Abruf bereit standen. Es war schwer, sich das Leben dieser ersten Menschen vorzustellen, Höhlenbewohner und primitive Jäger. Es gab da eine Grenze, die nicht nur durch Sprache und Verständnis, sondern auch durch den Fortschritt der Zivilisation geschaffen wurde.

Auch hier am Lagerfeuer konnte er sich, obwohl er dankbar für Licht und Wärme war, kaum vorstellen, wie es für die Urahnen vor vielen tausend Jahren gewesen sein musste. Er und seine Gefährten waren zwar genauso auf das Feuer zum Überleben angewiesen. Doch lag neben ihnen das Boot voller Proviant und Waffen, Pelze und Goldgräber-Werkzeug und Sägen und Äxten. Sie hatten das Werkzeug der Zivilisation in die Wildnis mitgebracht, Jack fühlte sich hier wie ein Fremder.

Sie trockneten ihre feuchten Socken und Stiefel, wärmten sich ihre Füße und Hände, doch mit jedem Atemzug wurde Jack klarer, dass sie bald hier weg mussten.

»Wir könnten uns aufteilen«, schlug Jim vor. »Jeder nimmt eine Himmelsrichtung und wir treffen uns in vier Stunden wieder hier.«

»Das ist doch reiner Wahnsinn«, meinte Jack. »Was ist, wenn du hinfällst und dir den Fuß verstauchst, Jim? Wenn du unter dem Gewicht deines Bartes zusammenklappst, Merritt?« Sie lachten alle, doch es war ein betretenes Lachen.

»Ich spüre die Wildnis überall um uns herum«, sagte Merritt und blickte ins Dunkel jenseits des Feuers. Gruselt es ihn immer noch?, fragte sich Jack, doch Merritt sagte nichts mehr dazu.

»Wir schaffen das schon«, meinte Jack. »Wir waren alle mal wild. Doch der Mensch hat sich von seinen primitiven Ursprüngen erhoben und die Wildnis in ihm und um ihn herum bezwungen. Wir besitzen Verstand, meine Herren. Unser Verstand unterscheidet uns von den einfachen Tieren. Wir besitzen den Einfallsreichtum und die Leidenschaft, um die Wildnis zu zähmen und in ihr zu bestehen. Doch nur, wenn wir ihre Gefahren ernst nehmen. Ich sage, wir lassen das Boot hier, nehmen nur das absolut Notwendigste mit und schlagen uns zu Fuß nach Dawson City durch. Ich schätze mal, es sind noch siebzig Meilen, und nach zehn könnten wir schon tot sein. Aber je näher wir an die Stadt kommen, desto eher finden wir irgendeine Art Unterkunft.«

»Trapper«, meinte Jim. »Goldsucher.«

»Gibt es hier Indianerdörfer?«, fragte Merritt.

»Die müssten schön blöd sein«, fand Jack. »Außerdem weiß ich nicht, ob sie drei verweichlichte Goldgräber willkommen heißen würden. Nein, wir müssen da alleine durch. Es ist nur eine weitere Herausforderung, sonst nichts. Seid ihr dabei, Jungs?«

Er sah einen Anflug von Gereiztheit in Jims Gesicht aufblitzen, als er sie »Jungs« nannte. Doch dann schlugen alle drei ein und kauerten enger ums Feuer. Sie konnten es kaum erwarten aufzubrechen.

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Jack war sich der Dunkelheit hinter ihm sehr bewusst. Wäre da nicht das Feuer, das seine Gesichtshaut straffte und in seinen Augen glänzte, würde auch er von der Finsternis verschluckt werden. Die Flammen hielten die Hoffnung am Leben. In der kalten, gnadenlosen Wildnis dahinter konnten die kommenden Monate alles bringen.

Dennoch wirst du im Schnee sterben, hatte seine Mutter im Traum gesagt, kalt … und fast ganz allein.

»Nein«, schwor er sich und schaukelte auf seinen Fersen hin und her. »Nein, nein, nein.« Jim und Merritt sahen ihn an, doch keiner sagte etwas oder schien sich gar an Jacks Selbstgesprächen zu stören. An diesem Abend waren alle drei Männer ganz offensichtlich mit ihrem eigenen Schicksal beschäftigt.

Sie fanden eine verlassene Pelzhändlerhütte. Sie war am Fuß eines steilen Hügels gebaut und damit weitgehend vor Wind geschützt. Sie bestand aus zwei großen Räumen. In dem einen Zimmer fanden sie sogar einen alten Klondike-Ofen. Jack hatte seinen eigenen Ofen schon in Dyea zurückgelassen. Insofern war der Ofen für alle ein willkommener Anblick. Eine Stunde nach ihrer Ankunft hatten sie schon ein schönes Feuer gemacht. Sie entdeckten sogar hinter der Hütte unter einem Schrägdach einen Holzvorrat, der schon länger zum Trocknen dort lag. Das Holz knackte und versprühte Funken, brannte aber ausreichend gut. In der Hütte wurde es wärmer, und bald konnten die Männer ihre Handschuhe und Mützen ausziehen.

Im Laufe der nächsten Tage schleppten sie ihr ganzes Gepäck aus dem Boot herbei. Es waren drei Meilen zu gehen, am Fuße eines Hügels entlang und zum Fluss hinab. Nach jedem Ausflug mussten sie sich etliche Stunden ausruhen, um wieder zu Kräften zu kommen. Die tückische Flussfahrt war anstrengender gewesen, als ihnen bewusst geworden war, und es sollte noch viele Tage dauern, bis sie ihre Energie wieder aufgeladen hatten. Die Blockhütte war gerade groß genug für sie. Ein Raum diente als Schlafzimmer und Lagerraum, in dem anderen verbrachten sie ihre Tage mit Reden, Kochen und Träumen vom Gold, das sie im Frühjahr finden würden.

Jack war zwar der Jüngste, dennoch spürte er, dass die beiden anderen zu ihm aufblickten. Das schmeichelte jedoch nicht seinem Ego, sondern seinem Intellekt. Er hatte sich schon immer wie der Anführer ihres kleinen Teams gefühlt, und ihr Aufenthalt in der kleinen Hütte bestätigte das nur. Er hatte seine Bücher und las ihnen lange Passagen daraus vor. Darwins Entstehung der Arten, Miltons Das Verlorene Paradies und andere. Jedes davon schien einen besonderen Bezug zu der Situation zu haben, in der sie sich befanden. Jim und Merritt begrüßten für ihren Teil seine Lesungen, und die drei diskutierten anschließend oft lange über das Vorgelesene und wie sie es gefunden hatten.

»Gottloser Heide«, grummelte Jim eines Tages, nachdem Jack wieder aus Darwin vorgelesen hatte.

Jack blinzelte überrascht und warf Merritt einen Blick zu.

»Bist du kein Anhänger von Mr. Darwins Thesen?«, wollte Merritt wissen.

»Ein Anhänger?«, wunderte sich Jim. Er setzte sich auf, angeregter, als Jack ihn seit Stunden gesehen hatte. »Dieser Mensch leugnet jahrhundertealte Weisheiten. Er schmäht den Schöpfer, der ihm das Leben geschenkt hat, sein Schiff, die Mittel zu forschen, das Wissen, um …«

»Aber Gott hat ihm doch auch seinen Intellekt geschenkt?«, fragte Jack. »Einen Verstand, um Fragen zu stellen?«

»Natürlich hat er das. Aber Darwin hat sich dazu entschieden, ihn zu missbrauchen.«

Jack lehnte sich vor und wollte noch etwas sagen, doch dann verkniff er es sich. Für ihn war Gott genauso real wie viele andere Dinge, die er noch nie persönlich gesehen hatte, und er war nicht so beschränkt, ihn rundheraus abzulehnen. Doch genausowenig sollte man ein Werk wie Darwins, von solch wissenschaftlicher Brillanz und künstlerischer Schönheit, einfach so von der Hand weisen. Seine These war gewagt und ausgefallen und letztendlich eine Herausforderung. Wenn Gott Darwin solch einen genialen Verstand gegeben hatte, wollte er sicher auch, dass er davon Gebrauch machte.

»Und wo ist dein Buch?«, fragte Merritt und erhob die Stimme vor Überraschung und wachsendem Zorn.

»Ich hab alles hier drin«, Jim tippte sich auf die Stirn. »Und ich glaube es hier drin«, er klopfte sich auf die Brust.

»Tja, wenn Darwin recht hat und der Fähigste überlebt, sorgen wir dafür, dass du eine schöne Beerdigung bekommst«, schoss Merritt zurück.

Jack stand auf und hielt beide Hände hoch, um die Männer wieder zu beruhigen. Er wechselte rasch das Thema, indem er eine weitere lange Passage aus dem Verlorenen Paradies mit übertriebener Dramatik vorlas, um die eisige Stimmung mit warmem Humor aufzulockern. Doch der erste von vielen Spannungsmomenten, die in diesem Winter in der kleinen Hütte Einzug halten würden, war bereits da.

Das Wetter verschlechterte sich. Die Temperatur fiel, die Kälte ließ den Männern den Atem gefrieren, und ihre Spucke knisterte in der Luft. Oft wachten sie in der Frühe auf und hatten Eis in den Bärten und zusammengefrorene Wimpern, sodass sie ihre Augen erst wärmen mussten, ehe sie sie öffnen konnten. Es schneite tage- und wochenlang, und als es endlich aufhörte, war der Schnee einen Meter tief und knirschte unter ihren Füßen.

Am ersten Morgen ohne Schneesturm war Jack entschlossener denn je, ihnen etwas zum Kochen und Essen zu fangen. Er und Merritt gingen weiter und länger als je zuvor, und kehrten mittags mit einem dürren Kaninchen zurück. Während Jack anfing es zu häuten und auszunehmen, wollte Jim wissen, warum er so fröhlich war.

»Ich habe wieder ein Jahr mehr in dieser erstaunlichen Welt verbracht«, sagte Jack leise. Er spürte seine Finger kaum, und mehrmals entglitt ihm das Messer.

»Du hast Geburtstag«, begriff Merritt.

Jack nickte und lächelte.

»Wie alt?«, wollte Jim wissen.

»Achtzehn. Aber ich komme mir vor wie achtzig.« Als er vom Kaninchen aufblickte, schauten ihn beide Männer traurig an. Was ist denn? fragte er sich, doch als er wieder auf seine Hände sah, wusste er es. Er war der Einzige von ihnen, der trotz ihrer Verzweiflung und der Wahrscheinlichkeit, dass dieser Winter ihr letzter sein würde, immer noch einen Zauber in ihrer Umgebung finden konnte. Die anderen beiden sahen nur Entbehrungen und drohende Vernichtung. Doch Jack erkannte die Schönheit darin.

»Alles Gute, Jack«, flüsterte er sich zu. An diesem Tag wurde das Kaninchen nicht mehr fertig.

Jack begann, alleine spazieren zu gehen. Es stand zwar in direktem Widerspruch zu dem, was er selbst geraten hatte, und die anderen protestierten auch, aber Jack setzte sich durch. Er hatte immer ein Gewehr dabei, um Wild erlegen zu können, wenn er eines sah, aber er war nie schnell genug. Es gab Schneehasen und Eichhörnchen, doch die waren immer geschickt genug, um zu verschwinden, sobald das Gewehr in ihre Richtung zeigte. Wenn er ehrlich war, ging Jack jedoch nicht zum Jagen vor die Tür. Er ging hinaus, weil irgendetwas in ihm passierte, und je mehr er sich veränderte, desto mehr genoss er es. Er war dabei, sich in diese Wildnis zu verlieben. Die Kälte schmerzte bis auf die Knochen und machte seine Muskeln träge und schwer, aber in ihm drin erwachte eine neue Wärme zum Leben.

Die Landschaft war unglaublich schön. Er betrachtete sie bald als »Die Große Weiße Stille«, denn wenn er in der Schneelandschaft stehenblieb, hörte er sein eigenes Herz schlagen und seinen eigenen Atem gehen. Es wehte kein einziger Windhauch, als ob die Luft selbst festgefroren war. Das Land schlief unter einem dicken Schneeteppich. Ab und zu schneite es weiter, doch sonst war die Luft kristallklar, und er konnte ewig weit sehen, obwohl die Sonne tagsüber kaum aufging. Und wenn er die Augen schloss und ganz still im Schnee stehenblieb, konnte er spüren, aus welcher Richtung ihn sein Beobachter belauerte.

Denn er war immer noch da. Jack hatte sich an seine Gegenwart gewöhnt, auch wenn sie ihm immer noch Unbehagen bereitete. Seit dem Vorfall auf dem Fluss hatte er den Wolf nicht mehr gesehen. Doch hier draußen in der Wildnis fühlte es sich eher an wie der Widerhall des Landes selbst, wie ein Ausdruck der Wildnis, die ihn beobachtete – vielleicht wie einen Eindringling, sicher nicht wie einen Gleichgestellten. Er kam sich vor, als würde er geprüft. Er fühlte sich unbedeutend, als sei er weniger wert, ein vergessener Atemzug in der leeren Weite. Und für jemanden von solcher Willensstärke war dieses Gefühl seltsam angenehm.

Manchmal dachte er, es sei der Tod, der darauf wartete, ihn mitzunehmen. Das Ende war immer nahe, das war ihm genauso klar wie seinen Gefährten in der Hütte. Ihre Überlebenschancen wurden jeden Tag geringer. Dann fiel ihm wieder ein, was seine Mutter im Traum gesagt hatte: Unheil im Norden, ein Todesschrei in der großen weißen Stille, und nur die Geister werden Zeuge sein. Er hielt nach diesen Geistern Ausschau und fürchtete sich davor, ihnen in die Augen zu blicken.

Doch auf eine bestimmte Weise war Jack zufriedener als je zuvor. Hier gehöre ich hin, dachte er, während Wochen und Monate verstrichen. Ich bin hier kein Fremder mehr. Es kam ihm so vor, als habe seine Seele schon immer hier gewohnt, behütet durch den Wolf und wofür dieser stehen mochte, nur hatte sein Körper achtzehn Jahre gebraucht, um hierher zu finden. Vielleicht war das die Erklärung für seine dauernde Wanderlust, die Unruhe, die ihn bis jetzt geplagt hatte. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich komplett und richtig. Das gefiel ihm, auch wenn er angesichts der unendlichen Größe dieses Landes ein Nichts war.

Er war vielleicht nur eine Schneeflocke unter Milliarden, doch endlich begann er herauszufinden, wer er war.